Der Neubaublock steht fast leer. Nur in wenigen Fenstern ist Licht. Zweitausenddrei werden die Gebäude abgerissen, wie fast alle Plattenbauten in der Grenzstadt. Sie stehen zu dritt im Fahrstuhl. Schimanski trägt jetzt eine blaue Bomberjacke und ein weißes Hemd und sieht wirklich ein bisschen aus wie einer aus der Forstwirtschaft. Das Deckenlicht flackert. Der Graf setzt seine getönte Brille auf. Sie sind in einem der beiden hohen schmalen Blocks, die ihm schon vorhin aufgefallen sind, als sie von den Fledermäusen kamen oder zu den Fledermäusen fuhren, genau weiß er es nicht mehr. In der vierzehnten Etage steigen sie aus. Sie laufen einen langen Gang entlang, der Oberst vorneweg. Die Türen links und rechts sind aus braunem Holz, das an vielen Stellen abgesplittert ist, zerkratzt ist, Worte und Buchstaben, die kleinen runden Spione in Kopfhöhe sehen trüb und blind aus, die Klingeln neben den Türen kleine graue Knöpfe auf der grauweißen Wand, an einigen Türen noch Namensschilder, Schmidt, Lorkowsky, Janka, Meier, A. Weiß, G. Barth, der Oberst bleibt vor einer Tür am Endes des Flurs stehen. Der Graf hört leise Musik von drinnen. Der Oberst klingelt. Ein paarmal drückt er auf den Knopf. Vielleicht ein bestimmter Code, aber er hat auch schon unten geklingelt, und nur einmal.
Schimanski hat sie während der Fahrt mit seinem Totschlägertelefon angekündigt.»Ich bin’s. Fünf Minuten.«
Die Tür wird geöffnet. Ein Mann im schwarzen Sakko, unter dem er einen grauen Rollkragenpullover trägt. Gute Ware, die nicht zu seinem Gesicht passt. Der Oberst nickt ihm zu, sie geben sich die Hand, und der Typ winkt sie alle rein, schließt die Tür hinter ihnen. Der Oberst führt sie sofort in ein Zimmer. Der Graf hat kaum Zeit, den Flur zu mustern, Garderobenleiste mit ein, zwei Jacken dran, da drüben muss das Bad sein, drei weitere Türen, die zur Küche ist halboffen, und der Graf sieht einen Mann mit grüner Bomberjacke direkt hinterm Türspalt auf einem kleinen Hocker sitzen. Ein Melkschemel, denkt er noch, so ein Möbel hat er hier nicht erwartet. Und dass die Bomberjacken irgendwie eine Ost-Sache zu sein scheinen. Obwohl sie in der Stadt im Osten, wo er seine Dependance hat, langsam aus der Branche verschwinden.
Das Zimmer ist nicht besonders groß, wie ein Wohnzimmer in einer Wohnung eben. An der Wand eine Bar. Vier Barhocker davor. Eine junge Frau hinter der Bar, ein Regal mit Flaschen, ein großer Kühlschrank. Paar Teelichter auf der kleinen Theke, paar Teelichter auf den Tischen, niedrige Couchtische vor den Sitzgarnituren. Ein großer Fernseher direkt vor der Fensterfront.
Premiere läuft, die Vorberichte, ist das Axel Schulz? Auf den Sofas und Sesseln zählt er fünf Männer. Und zwei Frauen. Einer der Männer steht auf und kommt auf sie zu. Er hat schulterlange Haare und eine kurze dicke Schweinsnase. Trägt ein schwarzes weites Hemd von Hugo Boss.»Mario«, sagt er und reicht ihm die Hand.»Wir haben telefoniert.«
Der Graf blickt sich um und nickt und sagt:»Gemütlich habt ihr’s hier.«
«Ist nur für die Feierabendentspannung. Bisschen Boxen gucken, paar Bier trinken, paar gute Drinks, Freunde treffen. Willkommen an der Grenze. «Der Graf erkennt Reste von Aknenarben oder Pockennarben in seinem Gesicht.»Schön, dass du jetzt da bist. Wir haben ja einiges zu besprechen. Heidi, mach uns mal vier Bier!«Dann dreht er sich wieder zu ihm und sagt leise:»Nur deutsche Mädels hier, mal was anderes, unsere deutsche Botschaft sozusagen.«
«Ich hätte lieber einen Cognac oder einen Whisky.«
«Wie wär’s mit Gin Tonic? Heidi, mach uns mal vier Gin Tonic!«
Der Oberst schiebt die Barhocker zur Seite und stellt sich neben sie an die Theke.»Von unserem Mario hier habe ich dir ja schon erzählt. Wir haben alles im Griff entlang der Grenze, nicht wahr. «Er legt seinen Arm um die Schulter der Schweinsnase. Sein Schatten, Schimanski, geht zu einem der Sessel und setzt sich.»Wir hätten uns auch in meinem Laden treffen können«, sagt die Schweinsnase,»feiner Laden, feiner Club, hast du sicher schon von gehört, aber da ist jetzt Wochenendbetrieb. Und warte, bis du die Aussicht hier siehst. Nur im alten Oderturm hast du eine bessere Aussicht als hier. Und in den sind wir leider nicht reingekommen.«
«Müssen wir auch gar nicht«, sagt der Oberst,»viel zu große Immobilie, Geldschlucker, aber die vier anderen Türme …, na, das wirst du morgen alles sehen.«
«Vierzehn Uhr, der Besichtigungstermin steht!«Mario lacht und verteilt die vier Flaschen Bier und die vier Gin Tonic, die das Mädchen anscheinend in Rekordzeit fertig gemacht hat, auf der Theke.
«Ich habe schon einiges gesehen heute. «Der Graf nimmt sich ein Glas, die Eiswürfel klimpern.»Schöne kleine Stadt.«
Das Zucken des Mundwinkels, dieses Zucken, dieses immer wiederkehrende Zucken, bei dem Kriminalhauptkommissar, der später zu ihrer kleinen Runde stoßen wird, das zuckt auch Jahre später noch in seinem eigenen Mundwinkel nach, links, Herzseite, wenn er an all das zurückdenkt, und manchmal auch einfach so. Er sieht Zigarettenqualm und Staub in dem Licht des großen Fernsehers. Als hätte der Typ mal einen leichten Schlaganfall gehabt, denkt er, denn hinter und neben diesem Zucken ist eine Gesichtshälfte seltsam starr, wie festgefroren, nur der Mundwickel bewegt sich:
«Alle glauben an Tyson. Man nimmt kaum noch Wetten an auf ihn. Aber ich sage Ihnen, ich sage Ihnen das mit der Erfahrung und der Menschenkenntnis, die ich mir, und das soll jetzt nicht großspurig klingen, in all den Jahren, hier und hinter der Grenze und weit weg in Mütterchen Sowjetunion …«
Was, verdammt nochmal, denkt der Graf, hat dieser Bulle bei den Russen gemacht? Aber er hat einiges gehört bei seinen Kontakten in Berlin, Hamburg und Frankfurt/Main. Von der Elitetruppe des Dezernat 1, die angeblich mit dem KGB zusammengearbeitet hat. Gerüchte. Legenden.
«Und wissen Sie, da ist ein Faktor, ein wichtiger Faktor …, ich weiß nicht, ob Sie sich für den Boxsport so sehr interessieren wie ich …«
«Schon. Ein wenig schon. Ich kannte früher den Prinzen von Homburg und Jürgen Blin, der mal gegen Ali …, ist aber schon lange her.«
«Blin? Homburg? Das müssen Sie mir nachher erklären. In aller Ruhe. Worauf ich hinauswill, der Henry sagte mir vor paar Tagen, genaugenommen am letzten Donnerstag, also nicht den vergangenen, sondern den davor, da habe ich ihn nach dem Training zum Essen eingeladen, aber er muss ja aufpassen wegen der Kalorien, also da sagte der Henry, dass er glaubt, dass der alte Holyfield die richtige Taktik, die richtige Strategie und auch das Herz hat, den Willen, die Maschine, die da vor ihm steht, auszuschalten, verstehen Sie, denn darauf kommt es an …«
«Es kommt auf vieles an.«
«… das Gefängnis, wissen Sie, und damit kenne ich mich aus, das geht tiefer, viel tiefer, als man denkt, das ist ein Gift, das immer in seinen Adern sein wird, das sein Blut und sein Herz und seinen ganzen Körper und sein ganzes kleines Hirn und auch alles um ihn herum …«
«Gift, sagen Sie. Wie lange hat denn Tyson …, ich kann mich erinnern, dass er Anfang der Neunziger …«
«Drei Jahre. Und das ist der springende Punkt. Der Faktor. Dieses ganze dumme Gerede, dass das Gefängnis einen härter macht undsoweiter, es macht dich schwach. Ich will Ihnen jetzt nicht zu nahe treten, aber ich weiß ja …«
«Sie wissen was ?«
«Nun, Sie sind ein Mann der alten Schule, seriös, ein Geschäftsmann, ein Investor, deswegen treffen wir uns hier, und selbst wenn Sie …«
«Sparen wir uns das. Alte Schule … Was soll das sein? Nur Märchen und Legenden. Sie sind anscheinend gut informiert.«
«So wie Sie. Informationen sind alles. Auch wenn ich andere Gründe habe als Ihre Geschäftspartner. Mir geht es um Transparenz. Um Regulierung. Um Sauberkeit. Um einen sauberen, regulierten, seriösen Markt.«
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