Und vor mir eine kleine Brücke, die Bäume öffnen sich wie ein Tor, eine kleine steinerne Brücke über einen Graben, der in den See führt, auf dem zwei Schwäne schwimmen, nur ein paar Seerosen liegen dunkelgrün auf dem Wasser. Die vielen Seerosen, fragst du? Ein Stück weiter hinter dem See mit den Schwänen, neben dem Weg, den ich gekommen bin, dem Hohlweg, am Waldrand, ein schmaler Damm zwischen den beiden Seen.
Aber das interessierte mich alles nicht mehr, Liv. Denn da sah ich zum ersten Mal das Schloss. Ich stand auf der Brücke, und direkt vor mir lag es. Weißgraue Mauer, ein rotes hohes Ziegeldach, die Außenmauern direkt am Wasser des Sees mit den Schwänen, und in der Mitte des langgezogenen, mehrstöckigen Gebäudes erhob sich ein Turm, dessen Spitze ich kaum erkennen konnte, ich legte den Kopf zurück. Er war beinahe doppelt so hoch wie das Gebäude, ganz oben verjüngte er sich noch einmal, eine zwiebelförmige grüne Kuppel. Ich weiß nicht, wie ich dir dieses Schloss genau beschreiben soll, da müssen wir unbeding mal …, ja, ja, langsam mit den jungen Hunden. Das Ding war wie ein großes U, was anderes fällt mir jetzt nicht ein, nur dass die äußeren …, wie soll ich das jetzt sagen …, Balken … kürzer waren, in den Hof hineinstanden, also die beiden äußeren Gebäudeflügel. Und der untere Balken, also wenn du dir ein U vorstellst, eben etwas länger, und der Turm zwischen den beiden Gebäudeflügeln, er war nicht direkt rund, eher achteckig, das habe ich nun nicht gezählt …, ja, scheiße, das ist eben schwer zu beschreiben, bin eben ein Nachtclubbetreiber, der eigentlich Schlachter, meine natürlich Gärtner, gelernt hat. Jedenfalls war dieser Turm so gebaut, dass er …, ja, aus dem Gebäude hervortrat, der hintere Teil im Gebäude drin …, ach, verflucht, Liv, ein wunderschönes Schloss, mir sind bald die Tränen gekommen, sowas habe ich, weißt du, noch nie gesehen habe ich so ein schönes verwunschenes Schloss. Das lag da, wie auf einer großen Platte, mitten auf dem Wasser. Und kein Mensch zu sehen. Und da beginnt mein Traum. Wie ich in diesem Hof stehe. Und ich habe damals, also so lange ist das ja noch gar nicht her, ganz kurz gedacht, wie man eben sowas denkt, ob du’s glaubst oder nicht, dass ich irgendwie in eine andere Zeit geraten bin. Schon als ich den Schlosspark betrat, von dem ich ja da noch nicht wusste, dass es ein Schlosspark war, weil ich das Wasserschloss ja noch nicht sehen konnte hinter den Bäumen. Vielleicht lag’s auch am Oktober. Weil alles so ruhig und so … golden war. Laub auf den Wiesen, Laub auf den Steinplatten des Schlosshofes. Über die kleinen Mauern konnte man sich beugen und aufs Wasser blicken. Und später, vielleicht habe ich ja deshalb das alles geträumt, entdeckte ich ein Nebengebäude, eine andere Brücke führte dahin über einen Wassergraben, das muss ein Gesindehof oder ein Wohnhaus für die Dienerschaft gewesen sein, was weiß ich, wie so etwas genau heißt, und das stand jedenfalls zum Verkauf. War ein Schild dran. Mit ’ner Telefonnummer. Habe ich mir natürlich gleich aufgeschrieben. Und später auch angerufen. Ein schönes kleines gelbes Haus, zweistöckig, Barock, na ja, das konnte man schon sehen, ohne dass man sich mit sowas groß auskennt, barock. So wie das ganze Schloss. Ich hab sofort gewusst, dass das was für mich ist.
Dass ich mich da mal zur Ruhe setzen werde.
Und vielleicht hab ich ja deswegen diesen Traum hier bei dir gehabt. Und in der Stahlstadt, wo ich geboren wurde. Ich habe vorher nie von diesem Schloss geträumt. Und ich stehe also wieder auf diesem Hof, aber das Schloss sieht etwas anders aus. Das war nämlich schon ein bisschen angeranzt. Das Dach war neu, aber die Mauern, also der Putz, schon bisschen bröckelig. Ich meine, klar, das steht ja auf dem Wasser, direkt über dem Wasser. Und erst dachte ich, also in meinem Traum, verdammt, jetzt bist du in der Zeit zurückgereist, nein, ernsthaft. Hast noch keinen totgeschossen, obwohl, und dabei bleib ich, dieser Typ ein Oberarschloch war, der mir da was kaputtmachen wollte, mich kaputtmachen wollte, aber … das ist doch jetzt egal. Und dann sehe ich zwei Diener, direkt am Eingangstor, das sich unten, am Fuße des Turmes, befand. Die hatten so Perücken auf, Barockperücken, mit ’nem kleinen Zopf. Ich hab früher immer gerne das ›Mosaik‹ gelesen, du kennst doch dieses Comic-Heft, ja, aus der Zone, und irgendwann Ende der Siebziger waren diese drei Kobolde im frühen achtzehnten Jahrhundert unterwegs, also in der Barockzeit. Nee, da war ich kein Kind mehr, aber das war ja auch nicht nur für Kinder. Da waren die in Wien, K.u.k., und dann sogar in Paris, wo dieser Sonnenkönig herrschte. Und genauso sahen die Typen aus, also die Diener. Mit so Livrees an. Und dann sehe ich, dass ich auch so gekleidet bin. Also schon etwas anders, nobler, wie ein Herzog oder sowas. Und hinter mir fährt ’ne Kutsche über die Brücke. Und wie ich so gucke, führt da ’ne Straße durch den Park und weiter mitten durch den Wald. Zwei weiße Pferde und ein Typ aufm Bock. Alles Barock. Hm, ja. Und ein Bekannter von mir steigt aus. Und der sagt auch irgendwas zu mir, aber ich kann’s nicht richtig verstehen. Klang französisch. Oder italienisch. Und der ist auch im wirklichen Leben ein Graf. Von Geburt her, wie man so sagt. Also zumindest erzählt man sich das.
Der betreibt ’n großes Laufhaus. Läuft aber nicht gut grad. Ja, da sind viele, viele Zimmer, und in denen sitzen die Frauen. Läuft über die Miete, die sie zahlen. Alkoholausschank gibt’s da nämlich keinen. Ja, dem gehört das. Also zumindest hat er da Anteile. Bei uns und auch woanders.
Volle Montur. So wie ich. Knickerbocker. Hohe Schuhe. ’ne Riesenperücke. Rockschöße bis zu den Kniekehlen. Und dann sind wir plötzlich im Schloss drin, laufen durch die langen Gänge, überall Türen und überall Diener. Und überall Leuchter an den Wänden. Kerzen. Und Wandteppiche dazwischen und olle Ölschinken. Vielleicht hab ich das mal so im ›Mosaik‹ gesehen, denn drin gewesen bin ich ja nicht im Schloss. Und dann ist’s mir so, als wenn ich da schon immer gewesen bin, schon immer dort gewohnt habe. Also im Traum. Reinharz. Das ist alles in meiner Erinnerung, in meinem Kopf.
Und irgendwann sitzen wir in ’nem riesigen Zimmer, mehr so ’ne Halle, die feinsten Kristallleuchter baumeln an der Decke, und ein Licht, weil Hunderte Kerzen drauf sind, so ein strahlendes Licht hast du noch nicht gesehen. Und Kerzenleuchter auch auf der Tafel, an der wir dann sitzen. Oben am Kopfende mein alter Freund Arnold, von dem habe ich dir ja schon erzählt, ja, der Vermieterkönig, nee, nix Rotlicht, das hört er nämlich nicht gerne, und am anderen Ende der langen Tafel sitzt …, nee, da sitzt keiner, da ist nur ein leerer Stuhl, prunkvoll verziert, wie ’n Thron. Und ich und der Graf sitzen an den Seiten der Tafel. Die ist gedeckt natürlich. Hunderte Karaffen, Flaschen, Gläser, Platten mit Braten und Platten mit Obst und Trauben, so wie man sich das vorstellt, so wie die damals wohl auch geschlemmt haben, also die Reichen, die Adligen.
Und an einer Wand steht so ’n Cembalo-Klavier, an dem sitzt einer und klimpert, und paar Typen daneben, die fiedeln Bach oder Händel, so genau kenn ich mich da nicht aus. Wunderschöne Musik. Und an den Wänden hängen Musketen und Säbel und Schwerter und lauter so Waffen.
Und ich gucke zu Arnold, der mit seiner weißen großen Perücke dasitzt, die Hände gefaltet, einfach nur dasitzt, einen silbernen Kelch vor sich, erhaben wie ein König. Oder ’n Graf, Herzog, aber schon wie der Boss unserer kleinen Runde. Und der guckt uns aber gar nicht an, blickt nur auf den leeren thronähnlichen Stuhl am anderen Ende der Tafel.
Und du kennst das doch, wenn man plötzlich alles sieht, nicht nur das, was du von deinem Körper aus sehen kannst, normalerweise. Und trotzdem war’s echt, fühlte sich jeden einzelnen Augenblick so echt an. Nein, kein Traum. Unten auf dem Hof fahren die Kutschen vor. Kutsche um Kutsche. Zehn, zwölf sind das bestimmt. Der ganze Schlosshof voll von Adligen. Und dann sitzen die alle mit uns an der Tafel, nur der eine Stuhl bleibt frei. Und ich muss auch immer da hingucken und weiß gar nicht, warum. Und einige von den Leuten, die da mit uns schlemmten, die kannte ich. Unser Bürgermeister zum Beispiel, nee, der war noch nie in meinem Nachtclub. Aber so ’n paar andere Typen ausm Rathaus, aus der Landeshauptstadt, die sahen alle aus wie August der Starke oder so.
Читать дальше