Ein Mann, der nicht so einfach wegzukriegen war. Der seine Kraft und seinen Einsatz zu kontrollieren wusste. Der damals aus einem der Dörfer um die Stadt herum gekommen war, ein junger Mann, ein Kampfsportler, Judo, Ringen, Kung Fu, der aber seinen Kopf nicht nur nutzte, um in der Schlacht Nasenbeine zu zertrümmern. Dem es auch um die Philosophie hinter alldem ging. Der wusste, dass dieses ihr Marktsegment ein sehr empfindliches war. Der das Hagakure las, als wäre es seine Bibel. Und das Sun Tsu. Das Buch über die Kriegskunst. Steffen hatte ihm das einmal gezeigt. Daran erinnerte sich AK jetzt, obwohl das fast fünfzehn Jahre her sein musste, und wunderte sich, dass er diese Vergangenheit nicht sofort erkannt hatte in dem bärtigen Gesicht. Ein anderer Mensch. Dieser da vor ihm. Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft. Stand auf dem Einband der zerlesenen Kladde. Aber es war nicht so, dass Steffen diesen gut klingenden Spruch verinnerlicht hatte, denn kämpfen konnte er. Wenn es nötig war. Der bärtige Mann, der damals sein Gesicht nicht hinter einem Bart versteckte. Verharrt man aber in der Verteidigung, so offenbart man einen Mangel an Kraft und Stärke, greift man hingegen an, so zeigt man ein Übermaß an Kraft. AK hatte in diesem Buch gelesen, als Steffen verschwunden war. Es war nicht so, dass er einfach so wegging, er hatte sich abgemeldet, sozusagen, wollte nach Hannover, oder wollte er damals nach Kiel und ist dann später in Hannover gelandet? Die Bilder und Gespräche, die Erinnerungen an diese vergangenen Jahre kehrten langsam zurück. Der General, welcher erfahren in der Verteidigung ist, wird sich in den tiefsten Tiefen verstecken; jener aber, der den Angriff kennt, der fährt aus den höchsten Höhen des Himmels hernieder. So besitzen wir auf der einen Seite die Fähigkeit, uns zu schützen, und auf der anderen, einen vollständigen Sieg zu erringen.
Er wusste nie, was er davon halten sollte. Steffen wollte zu den Engeln. Lange bevor die in die Stadt kamen. Und er hatte sich ins Netz begeben, Steffen, verschwand zwischen den Fäden (den Silberfäden , wer hatte das einmal gesagt?), in den Strukturen, kaufte sich ein, diente sich hoch, Kiel, Hannover-City, verlor sich, damals. So wie sein getreuer Alex jetzt. Das Kopfgeld kassieren? Für welchen Preis? Was konnten sie ihm bieten, was er nicht schon selbst erarbeitet hatte. In all den Jahren. Er, der General, der Alte, der Mann mit den Firmen und Geschäften.
Und als der bärtige Steffen, den er nicht erkannt hätte, wenn der ihm nicht selbst auf die Sprünge geholfen hätte, als der einen weiteren Raum aufschloss …, nein, als der sagte:»Wir setzen uns hier auf dieses Gestell und fahren mit dem Fahrstuhl nach unten«, wurde er misstrauisch. Was, wenn es umgedreht war? Wer wartete hier auf wen? Und wohin wollte ihn der Überläufer, der ehemalige Engel, der jetzt auch ein ehemaliger Kronzeuge war, bringen? Wer war noch dort unten? Stimmten die Geschichten überhaupt? War er wirklich ehemalig? Aber AK setzte sich neben ihn auf dieses längliche Eisengestell in der schlichten Trauerhalle, das auf einem Podest konstruiert war, auf dem wohl der Sarg platziert wurde vor den Trauernden, er war die Wege gegangen, und er würde jetzt hier nicht haltmachen. Kein Rotstopp am Güterring (Wer hatte das vor Jahren gesagt?).
Es war nicht einmal eine Fahrt zu nennen, war auch kein Fall, eher ein langsames, fast geräuschloses Sinken, Gestänge an den Wänden des gemauerten Schachts,»Endstation«, sagte Steffen,»alle Fahrgäste austeigen, bitte. «Ein Gang, in den das Licht eines Raumes fiel, in den der kurze Gang mündete, einige Meter nur entfernt. AK duckte sich ein wenig beim Gehen, obwohl er gerade aufrecht stehen konnte, sein Kopf hätte die Decke nur berührt, wenn er sich auf die Zehenspitzen gestellt hätte. Der kleine Raum war durch mehrere zapfenförmige Lampen erleuchtet, die direkt aus dem Stein der Decke zu wachsen schienen und von kreisförmigen Gittern umgeben waren, zwei schmale eckige Säulen, und dann sah AK auch schon die beiden Öffnungen in der großen rotbraunen gemauerten Wand, auf Bodenhöhe.»Warum sind wir hier?«, fragte er, seine Stimme klang dumpf, gedämpft, untererdig, Steffens Erklärungen hatten oben gehallt unter der großen Kuppel und auch in dem schlichten Saal, was war hier was? Trauerhalle, Kapelle,»Von Flammen umkreist, hält dort ein ebenfalls geflügelter Genius eine Schale empor, die, gleichsam brennpunktartig, gebündeltes Licht aussendet«, nein, er hatte das nicht gesehen in den Fresken der Kuppel, die Worte und Sätze seines Fremdenführers hallten und doppelten sich und begegneten sich, wie kleine Echos.
«Warum wir hier sind? Um zu reden?«Ein Stahlträger, eine Schiene, verlief in etwa zwei Meter Höhe in Richtung der Öffnungen, von stählernen oder eisernen Deckenstreben gehalten, eine Art fahrbares Flaschenzugsystem mit Ketten und Haken, sicher um die Särge zu heben und zu den Öffnungen zu bringen, in die ebenfalls Schienen führten, ebenerdig, seltsamerweise waren die gelb-schwarz gemustert.
«Reden. Ja. Vielleicht sollten wir das. «Drei kleine zweirädrige Karren standen direkt an der Wand, unterhalb des Flaschenzugsystems. Er setzte sich auf eine, spürte Müdigkeit, eher eine Mattheit, ach, wie still ist mir am Abend , dachte er, ist das ein Kinderlied? der zweirädrige Karren kippte auf den Boden, er stand wieder auf.
«Kann ich dir einen Stuhl bringen?«
«Danke, es geht schon.«
«Willst du was trinken?«
«Ein guter Gastgeber bist du. Was hast du denn da?«
«Cognac. Für einen guten Gast.«
«Ein Glas Cognac. Warum nicht.«
AK sah, wie Steffen zu einem braunen Metallspind ging, der ihn an die Spinde in seinem Fitnessstudio erinnerte. Dann sah er eine weitere Tür, an der Wand gegenüber den dunklen Öffnungen, die unverschlossen schienen, das Flamarium oder was auch immer dahinter, die Brenner, die Roste, was auch immer. Neben der Tür stand ein kleiner Tisch, AK machte ein paar Schritte in Richtung des Tisches und sah, dass er mit eigenartigen Broschüren bedeckt war, kleine und größere Hefte, einige waren aufgeschlagen, er sah Pflanzen, Blumen, Bäume, Kräuter, in anderen Büchern die Bilder von Vögeln, der Schnabel der Bekassine ist gelb und sehr lang . Er lehnte sich an eine der Säulen, hörte das Öffnen und Schließen der Spindtür, welchen Genius er wohl meinte dort oben, als er erzählte, als würde er die Sätze irgendwo ablesen, Steffen reichte ihm einen Plastikbecher,»Mit einem Schwenker kann ich leider nicht dienen«,»Schon in Ordnung«,»Auf dein Wohl, Arnold«,»Vielleicht auch auf deins«, und dann tranken sie. Schien wirklich ein ganz guter Cognac zu sein, kein Billigmist. Während sie tranken, den schweren Duft einatmeten, das Aroma des Brands wieder ausatmeten durch Nase und Mund, vor allem durch die Nase, dem feinen Abgang nachspürten, bevor Steffen dann sagte:»Hast du gewusst, dass das Feuer den Körper nicht direkt berühren darf, Gesetz von 1933«, saß Hans im Keller seines Clubs, am anderen Ende der Stadt, die dort irgendwo da draußen noch sein musste, saß in seinem Raum, und er starrte auf den kleinen Tresor in der Wand, in dem die Steine lagen, und er spürte sein schweres Gesicht, die geschwollenen Augen, die voll gewordenen, hängenden Wangen, spürte auch die Bumsenden über ihm, das dumpfe, scheinbar ferne Grummeln der Musik, fragte sich, ob er sich alles versaut hatte, jetzt, wo sein Toter auftauchte, glaubte aber immer noch an diese seine Chance (Razzien und ähnlicher Scheiß passierten ihm nicht, ihnen nicht, war alles abgesichert, abgesprochen, und niemand wusste, dass und das …, und nur die Steuerfahndung ging ihm auf den Sack und schaute vorbei und die Hurengewerkschaft, der Hurenverband, aber mit denen konnte man gut reden, waren oft Ehemalige, und die sahen, dass bei ihm alles in Ordnung war), die Glockenschläge der beiden Hämmer schwingenden Männer auf dem Dach des sehr alten und gar nicht so hohen Hochhauses im Zentrum der Stadt, eine weiße Wolke, wie ein langsamer, sich windender Atompilz aus Dampf (»Also doch kein Atompilz!«), steigt hinterm Zentralbahnhof in diesen Himmel, die Flugzeuge blinken rot dazwischen wie die Windräder, die aus dem Ackerboden wachsen vor der Stadt, die Zentrale der Stadtwerke, dieser Kubus aus Glas und Stein, lässt Druck ab, die Alten, die nicht schlafen können, lehnen sich aus den Fenstern der Altersheime und denken, es ist Krieg, Taxis fahren die letzten Gäste nach Hause oder fahren leer nach Hause, weil nicht mehr so viel los ist seit einigen Jahren, der Herbststurm peitscht das Wasser des großen Sees, auf dessen Grund die alten Bagger ruhen …, der Mond ist aufgegangen , auch im Club der Engel gehen die letzten Gäste und versuchen die Mädels, ein bisschen runterzukommen, Sternschnuppen fallen in die Seen, wie das Wasser zischt, eine Frau (30?) stützt sich mit den Händen am großen Glasfenster ab und schaut über die dunkle Stadt und spürt fremd und groß den Schwanz in ihrem Körper und lacht dennoch in sich hinein, was für ein Idiot, was für ein idiotischer Gentleman, der so viel zahlt für den Hotelbesuch, lacht still, weil manchmal alles so einfach scheint, die Zeit wird umgestellt, die Uhrzeiger rotieren …, die letzten Sternlein prangen …, durch die Burg, in der Nähe der Autobahnausfahrt, wandern die Schatten, die Drehkreuze sind geschlossen, leere Taxis ziehen Lichtschweife in der Nacht, Kanacken träumen in der Hauptstadt von der Herrschaft, wir nehmen, was wir kriegen , der Föhn zieht wie der Golfstrom bis rüber nach Österreich, wo der ehemalige Anwalt in seinem modernen Club sitzt und die Steuer erfreut, wozu verstecken, wenn man vorzeigen kann …, und der weiße Nebel wunderbar …, und der Graf investiert woanders und sitzt in seiner Burg in Frankfurt/Main , was, verdammt nochmal, ist hier los , guten Morgen, Deutschland, der Oktoberabend legt sich über den kleinen Wald am Rand der Stadt.
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