Er hatte das Buch vor einigen Monaten wiedergefunden.»Eden City«. Er hatte es gekauft, in einem der Antiquariate im Stadtzentrum. Ein sehr langer, sehr hagerer Mann mit Glatze hatte eine Weile in den hinteren Räumen gesucht, er hatte ihn murmeln und flüstern gehört, vielleicht blätterte er in einem Register oder Verzeichnis der utopischen Bücher, der sozialistischen utopischen Literatur, und während der Dürre in seinem Kabuff kramte, ging er an den Regalen auf und ab, studierte einige Titel mit geneigtem Kopf, er las wenig Belletristik, nur hin und wieder einen Kriminalroman, er beschäftigte sich mit Geschichte, Machiavelli, der Untergang des Römischen Reiches, die Geschichte der Prostitution,»Das Kapital«, dessen dickleibige Lederbände jetzt direkt vor ihm im Regal standen, er hatte es nie ganz durchgeackert, nur größere Teile gelesen, die ihn interessierten, er besaß genau dieselbe Ausgabe, braunes Kunstleder, er zog einen der Bände aus dem Regal, den ersten,»Dietz Verlag Berlin 1951«, er blätterte weiter und sah, dass der ehemalige Besitzer des Werkes ganze Passagen rot unterstrichen hatte, Seite für Seite, mal ein, zwei Sätze, mal ganze Abschnitte, mal einzelne Worte, er blätterte, zog auch den zweiten Band aus dem Regal, und auch in diesem fand er die roten Unterstreichungen … Das tendenzielle Sinken der Profitrate ist verbunden mit einem tendenziellen Steigen in der Rate des Mehrwerts, also im Exploitationsgrad der Arbeit … Die Profitrate fällt nicht, weil die Arbeit unproduktiver, sondern weil sie produktiver wird … Der Markt muss daher beständig ausgedehnt werden, so dass seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von dem Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen, immer unkontrollierbarer werden … Heilige Scheiße! Er lachte, schob die Bände zurück ins Regal, ja, daran erinnerte er sich, das hatte er vor einigen Jahren gelesen, während seines Studiums. Als er seine Lehre gemacht hatte, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, er will jetzt nicht zählen, hatte er, wie die meisten, einen großen Bogen um den alten Meister Marx gemacht. Er starrte auf das Gesicht des Dürren, das in der Lücke des» Kapitals «auftauchte, auf der anderen Seite des doppelten Regals, der ihn vielleicht schon eine ganze Weile beobachtete, dann sah er, dass es gar nicht der Antiquar war, der auf der anderen Seite des doppelten Regals stand, irgendein Kunde, ein Gast stand dort und studierte die Titel mit geneigtem Kopf durch eine große braun getönte Brille und beachtete ihn gar nicht, schien ihn nicht einmal zu sehen. Langsam schob er die beiden Bände des» Kapitals «zurück ins Regal. Später, der dürre Antiquar hatte ihm das Buch, das er suchte, endlich gebracht, hatte es aus irgendeiner Kiste gekramt, er hätte eine große Sammlung utopischer DDR-Literatur vor einigen Tagen angekauft, erzählte er,»Da kommen Sie gerade richtig«, später, bei einem Kaffee im Büro zwischen zwei Terminen, jemand interessierte sich für eine Wohnung in der Nähe des alten Hafens, Zukunftslage, weil sie ihn in einigen Jahren wieder in Betrieb nehmen wollten, als er endlich» Eden City. Stadt des Vergessens «durchblätterte, die Seiten beroch, sah er, dass das Buch neunzehnhundertfünfundachtzig erschienen war. Aber er hatte es doch als Kind gelesen. Wieder und wieder war er doch in seiner Phantasie und manchmal auch in seinen nächtlichen Träumen durch die Bunkerwelten gewandert, hatte sich gegen die Hierarchien aufgelehnt, die Klonmenschen vereint und aus ihrer grauen kalten Welt geführt, die Luxuswesen erobert …, er muss zwölf oder dreizehn gewesen sein, selbst wenn er schon vierzehn oder fünfzehn war … Nein. Später, als der Fußball und der Wahnsinn der Spiele in sein Leben traten, hatte er kaum noch gelesen, und die utopische Literatur verstaubte in seinem Regal.»1. Auflage, 1985«. Aber er hatte aufgehört, sich über solche scheinbaren Unklarheiten zu wundern.
Er entfernte sich langsam von dem Leutnant und dem steinernen Gesicht in der Wand. Die Wege waren voller Laub. Er schob die Hände in die Manteltaschen, es wurde kühl. Er nahm jeden Tag zwei Ginkgo-Tabletten, die hatte ihm der Graf einmal empfohlen,»Gut für die Durchblutung, gut fürs Gehirn, kannte und nahm schon der alte Goethe!«Er versuchte, den Weg zu finden, den er gekommen war. Aber immer wieder stieß er auf eine Mauer, hatte das Gefühl, im Kreis zu laufen, er schwitzte. Gelbes und rotes Laub an den Bäumen, auf dem Boden. Ihm fiel auf, dass er, seit er hier war, in dieser Zeit niemanden gesehen hatte. Wieso besuchte keiner die Toten an so einem schönen Tag? Doch, eine Frau war ihm begegnet, als er vorhin den Hügel hinaufgegangen war. Sie hatte etwas gesungen, er konnte es nicht genau verstehen, und sie verstummte, als sie ihn sah. Eine ältere Frau, aber nicht uralt, sechzig, siebzig vielleicht, schwer zu sagen. Kurze Haare, oder hatte sie eine dunkle Wollmütze getragen? Wollmütze, ja. Vielleicht ein Trauerlied oder so etwas. Sie hatte zu Boden geblickt, als sie aneinander vorbeigingen, als würde sie sich schämen für ihren Gesang, kurz später hatte er sie wieder singen gehört, sehr leise und wie aus weiter Ferne, sich aber nicht noch einmal umgedreht. Er überflog einige der Namen auf den Grabsteinen, verließ den großen Weg und verlor sich in den kleinen Verästelungen zwischen den Gräbern. Familie Schuster, Jochen Krien, H. und F. Gehrleben, Familie Leer, Unserer lieben Mutter, 1908–1989, die Liebe währet ewiglich.
Er dachte selten über den Tod nach. Stimmte das? Der Vermieter der Liebe. Denn die Liebe währet ewiglich. Er lachte. Die ältere Frau konnte auch ein Mann gewesen sein. Sie trug einen hellen, vielleicht grauen Mantel. Oder ein in Würde gealterter Ladyboy, aber ältere Semester dieser Absonderlichkeit waren sicher selten, das würde noch einige Jahrzehnte dauern, bis die jungen Transen alt geworden waren, ununterscheidbar von Männern oder Frauen, je nachdem, die Medizin machte es möglich, er hatte selbst einige wunderschöne Frauen gesehen, die früher Männer gewesen waren und jetzt die Liebhaber dieser Transformation für gutes Geld empfingen. Nur eine Frage der Zeit bis sich welche bei ihm meldeten, weil sie in seinen Wohnungen arbeiten wollten. Aber vielleicht hatte er sich dann schon zurückgezogen aus dem Geschäft. In dieser Zukunft, die nicht so weit weg war. Alt wie ein Baum möchte ich werden … Vielleicht gehe ich deshalb hier spazieren, dachte er, um zu planen, ein wenig in die kommenden Jahre zu schauen. Und so lief er weiter, raschelte mit den Füßen im Laub, dachte an dies, dachte an das, fühlte sich sehr fern von der Stadt, lief mit seiner Großmutter durch das kleine Dorf, trug die Gießkanne auf dem Weg zum Gottesacker, wie sie den Dorffriedhof nannte, versuchte, sich zu erinnern, wie dieses winzige Dorf hieß, das in der Nähe der kleinen Industriestadt war, deren Fabriken und Raffinerien nachts weit übers Feld leuchteten, so dass sie sie sehen konnten, Flammen über den Schornsteinen, seine Großmutter und er, wenn sie am Dachfenster saßen, wo der kleine Fernseher stand. Schwarzweiß. Er würde das gern jemandem erzählen. Seiner Frau? Seinem Sohn? Der ging durch den Wahnsinn anderer Spiele. So wie er früher. Vielleicht war das gut, vielleicht musste das so sein. Wenn er ihm einmal alles übergeben wollte. Die Immobilien, die Firma, das Fitnessstudio. Niemand konnte ihm das wegnehmen. Niemand würde ihm das wegnehmen. Zu viele Jahre. Nach all den Jahren. Zu viel Kraft und Zeit. War das alles? dachte er manchmal. Und dachte es wieder.
Er stand vor einer breiten Treppe. Nur wenige Stufen bis zu einer großen Tür, Säulen links und rechts. Er drehte sich um. Hinter ihm ein Wasserbecken, ein rechteckiger, in Stein gefasster See. Es war noch recht hell. Das Licht eines späten Oktobernachmittages. Das Gebäude, zu dem die Treppe führte, ein seltsam geometrisches Gebilde, spiegelte sich auf dem Wasser, eine hohe Front mit einem kuppelförmigen Dach, wie ein großes Eingangsportal. Die Türen zwischen den Säulen geschlossen. Er sah den Abendhimmel auf dem Wasser. Wo war er? Den Turm der Kirche konnte er nirgends erkennen, er bewegte seinen Kopf in alle Richtungen. Zwei Enten auf dem Wasser. Er musste zurück zu seinem Wagen, zurück in die Stadt fahren, die irgendwo weit weg war, zurück zu seinem Büro. Telefonieren. Er griff in die Innentasche seines Mantels und spürte die Packung mit den Ginkgo-Tabletten. Keine Enten auf dem Wasser.
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