Er blickte auf das steinerne Gesicht. Direkt vor ihm wuchs es aus der Mauer. Leere Augen, der Mund geöffnet, wie klagend. Schrift darüber, eine Tafel, die Buchstaben und Worte so verwittert, dass er sie kaum lesen konnte. Irgendein Leutnant, jung gestorben, noch vorm ersten Krieg, wie er aus den nur teilweise lesbaren Jahreszahlen entzifferte. Irgendwann zuvor, vielleicht zwanzig, dreißig Minuten, hatte er plötzlich in einer Art kleinem Hof gestanden, durch Mauern abgegrenzt, und in der Mitte des Hofs ragte eine Säule empor, auf der ein rundes steinernes Emblem ruhte, Hammer und Sichel, hinter der Säule eine Reihe von Grabsteinen. Er erinnerte sich, dass er hier einmal als Kind gewesen war, mit seiner Schulklasse, mit anderen Schulklassen, irgendein Gedenktag, vielleicht der achte Mai, der Tag der Befreiung, Pioniere und Blauhemden, Lehrer und Parteisekretäre, Offiziere, und langsam kehrte dieses Bild zurück, als er da stand und auf diese Gräber blickte. Russische Soldaten. Sowjetische Soldaten, so sagten sie damals. Mitte der Siebziger muss das gewesen sein. Reden wurden gehalten. Oder erinnerte sich nur an diesen Gedenkplatz, hatte ihn aber nicht betreten seit damals, jetzt , dieses seltsame steinerne Gesicht vor sich. Auch ein Soldat. Aber im Frieden gestorben. Herz, Krebs, Suff, Selbstmord. Unfall. Duell. Er drehte sich ein paarmal, blickte über die Wege, durch die Bäume, wo war dieser kleine Kriegerhain? War es vielleicht seine Erinnerung an dieses große Schweigen zwischen den großen Reden, die ihn hierher, auf diesen Friedhof am Rand der Stadt gebracht hatte? Stimmen, Gesichter. Warum bist du hier? Er wollte zurück zur Straße gehen, zu seinem Wagen, in sein Büro fahren, nach Hause fahren, runter an den See gehen, aber da hatte er am Vormittag schon gestanden. So weit stimmte das alles. Er dachte an Tokio, dieses neonbeleuchtete Metropolis am anderen Ende der Welt, Roboter und Menschen auf dieser Insel, durch die bald die Strahlung kriecht. Dort war er das erste Mal verschwunden. Im Jahre null. War zurück nach Hause geflogen. Hatte weitergemacht. Jahr um Jahr. Hatte alle Attacken und Angebote überstanden. Jugos, Kanacken, Engel, Politik, Freunde, Russen, Verbündete … Hatte so getan, als wäre alles vollkommen normal. In ihm. Mit ihm. War in den Nächten durch fremde Viertel gefahren. Fand sich in Wiederholungen wieder. Fand Veränderungen. Briefe, die er nie geschrieben hatte, Dokumente, die er nicht haben sollte, Informationen, Kontakte, die ihn verwunderten. Ging zu einem Therapeuten. Ließ sich das Gehirn durchleuchten. Ließ sich die Seele durchpusten. War vollkommen normal. Brachte die Geschäfte voran. Verkaufte seine Aktien, bevor die den Bach runtergingen. Investierte in Immobilien. Verhandelte in Berlin und Hannover. Kaufte Kunst. Trank mit dem Grafen, diesem halben Hochstapler, der ihn immer noch beeindruckte. Und der ihm den Österreicher vorstellte, der früher mal ein Anwalt gewesen war und jetzt einen exklusiven Club betrieb, der ihm ein Vermögen eingebracht hatte, ein Vorzeigeobjekt für die österreichische Bürokratie, ein sauberes Haus, das die Behörden und die Bürger erfreute. Träumte mit ihnen von der Aktie Rot. Champagner. Nein, er hatte vorhin nicht auf diese Gräber geblickt, die gefallenen Helden des Großen Vaterländischen Krieges. Aber er hörte die Musik, die damals gespielt wurde, gesungen wurde, der Chor der Soldaten, als er in seiner Pionieruniform, rotes Halstuch, blaues Käppi, dort gestanden hatte. Leise erst, dann immer lauter, die toten Helden, zerschossene Herzen, zerrissene Lungen, aus denen dieses letzte große Lied … Selbst diesen verrückten Bullen hatte er ausgesessen, als wäre er ein Vollblutpolitiker, diesen hageren Alten, der nicht weit von ihm wohnte und der längst schon kein Bulle mehr war und der ihn mit der Nase, mit der ganzen Fresse in den Dreck hatte drücken wollen. Sollte er im Rathaus wühlen, dieser Wahnsinnige, der doch in seinem eigenen Netz gefangen war, jede Nacht brannte bei ihm Licht, sah er ihn in seinem Wintergarten auf und ab gehen, ruhelos und stundenlang und jahrelang, und sollte er bei den Bonzen wühlen, die jetzt ganze Straßenzüge besaßen. Mit denen er Geschäfte machte, mehr nicht. Alles sauber. Verdammt nochmal sauber. Er hatte Gänsehaut bekommen, als sie die Hymne der großen Sowjetunion gespielt und gesungen hatten. Sein Russisch war immer noch ganz gut. Er könnte die Gedenktafeln und Inschriften der Gräber gut lesen.»… gefallen im Großen Vaterländischen Krieg«. Das Ende der Utopien.»Ruhm und Ehre der Sowjetunion«. Das Ende des Wahnsinns. Der Anfang des anderen Wahnsinns. Neunzig. Ein reeller Wahnsinn zumindest. Er starrte immer noch auf das Gesicht im Stein. Junger Mann, what have you done .
Er hörte die Vögel. Hatte sich doch die ganze Zeit über gewundert, dass er keine Vögel hörte. Hier in diesem Grün, diesem Wald. Wo sie sicher zu Zehntausenden lebten. Aber vielleicht war es der nahende Abend, der sie aktiv werden ließ. Ein Zwitschern und Singen aus den Bäumen, das dann aber plötzlich verstummte. Dann begann es wieder, dann verstummte es wieder. Während er immer noch auf das Gesicht des jungen Leutnants starrte. Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit! Er blickte auf das Mädchen, das eine Reihe vor ihm stand, wie gern er sie hatte, unten am Kanal, vor zwei Tagen sind sie zusammen in den alten Hafenspeichern gewesen, er hatte ihr von diesem Buch über die utopische Stadt Eden City erzählt, bevor er sie küsste, er ist zwölf Jahre alt, er möchte so viel wissen, und er träumt von den Häfen für Schiffe und Raumschiffe, und er spürt und sieht den Schlag ihres Herzens, die Hand auf ihrer Brust, und schämt sich und will wieder mit ihr allein sein und blickt dann auf das steinerne Emblem, Hammer und Sichel, denkt an den großen hydraulischen Hammer, den er durchs offene Werktor sieht und hört, die Hitze drückt bis auf den Fußweg und die Straße durch dieses offene Tor, die stetigen Schläge des riesigen Hammers, Funken sprühend bearbeitet er das Metall, den Stahl, was auch immer, sie jagen ihn weg, wenn er zu nah ist, er hockt auf dem Fußweg und blickt auf die Arbeiter der Gießerei, der großen Schmiede, zusammen hocken sie dort auf dem Bordstein, ihre Schultern berühren sich, bis sie zu dem alten verfallenen Hafen gehen, er sieht ihr Gesicht in dieser Stille, der Chor der sowjetischen Soldaten, es sind bestimmt über hundert, und mehr noch, er will nicht zählen, Thors Hammer hat er schon fast vergessen, das gefiel den Lehrern ganz und gar nicht, utopische Literatur, das ist schon was anderes, das sind Sozialismus und Utopien zwischen den Sternen, jawoll, was willst du mal werden? Kaufmann will ich werden, Geschäftsmann will ich werden, Häuser will ich bauen, für mich und für andere, große Häfen will ich bauen, und dann entfernen sie sich, Immer bereit! , laufen Hand in Hand zwischen den Gräbern, immer tiefer in die kleinen Wälder, diese Baumgruppen, Büsche und verwilderte Zierpflanzen, stoßen auf Mauern, sitzen auf steinernen Bänken, sehen den Abend kommen und berühren dann, irgendwo dazwischen, die Flügel des Engels, den Bart des Engels, der auf einer steinernen Bank sitzt, am Fuße einer Grabstätte, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen unter der zerfurchten Stirn, klopfen an seine Haut und hören, TOCK tock, DONG dong, dass die Figur aus Eisen ist, wie sie denken, aus irgendeinem Metall, das grün geworden ist im Laufe fremder Jahrzehnte.
Er starrte immer noch auf das graue Gesicht im Stein. Vielleicht war er deswegen auf diesem Friedhof. Wohin gehst du? Auf dem er seit jenem Jahr, genau konnte er nicht sagen, welches Jahr es gewesen ist, obwohl …, wenn er zwölf, dreizehn Jahre alt war, dann … Er zählte, nahm die Hände und Finger zu Hilfe und musste lachen darüber. Was spielte das auch für eine Rolle. Der Abend kam langsam über die Mauer. Leises, dumpfes Knallen. Sie rannten, sich an den Händen haltend, sahen die drei orangen Männer auf der anderen Seite der Mauer …
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