Meine Schwester nippte am Kaffee, wand sich, als ich begann, die Schokoladentafeln an die Kinder zu verteilen, und flüchtete in den Garten. Ich überreichte das Waffeleisen, ich sprach dem Schmalzgebäck zu.
Justyna führte unsere Tante durch das Haus. Sie erörterte, wie ihre Eltern nach dem Krieg aus Ostpolen, das an Rußland gefallen war, vertrieben und hierhin umgesiedelt worden waren, sich in diesem Haus aber nie heimisch gefühlt, nie etwas erneuert, im Grunde nichts angerührt hatten, weil sie immer in der Erwartung gelebt hätten, eines Tages wieder wegzumüssen. Ihr selbst fehlten, sagte sie, die Mittel, substantiell etwas am Haus zu tun.
Sidonia nickte verständnisvoll, und ich fragte mich, ob sie so weit gehen würde, Justyna Wandfarbe zu schicken, ob sie es verantworten wollte, daß Justyna die Tapete, die ihr eigener, Sidonias Vater aufgeklebt hatte, schließlich abriß oder überstrich.
Ich mußte das Plumpsklo im Anbau aufsuchen und war überrascht, daß es dort ausschließlich nach warmem Fichtenholz roch. Neben ein Bündel aus zurechtgeschnittenen Zeitungsblättern hatte Justyna eine neue graue steifpapierene Klopapierrolle gestellt, die ich nicht anzubrechen wagte. Ich streute eine Schaufel Sägemehl in die Öffnung, zufrieden, daß ich den Vorgang bewältigte, aber ohne daß er etwas in mir auslöste, was Wehmut hätte sein können, ohne daß er mir auch nur im geringsten bekannt vorkam. Kein früheres Leben, keine subkutane Weitergabe von elterlichen Erinnerungen, nicht einmal ein Wiedererkennen aus Fernsehen und Film.
Meine Erinnerungen an diese Reise sind zu großen Teilen dürftig. In der Therapie unterscheiden wir zwischen dürftigen und üppigen Erinnerungen. Den üppigen wird der Vorzug gegeben. Der Patient ist angehalten, eine Erinnerung möglichst detailfreudig auszustaffieren, sie sich sinnlich zu vergegenwärtigen, um sich diesen verlorenen Teil seines Lebens mit der ganzen gesammelten Großartigkeit seiner Einbildungskraft wieder anzueignen. Eine dürftige Erinnerung kaschiert Verdrängtes. Niemals, so die Theorie, ist das Leben so dürftig wie im nachhinein oft dargestellt. Und eine üppige Erinnerung ist dazu dienlich, aus einem als dürftig empfundenen Leben im nachhinein einen Erfolg zu machen.
Ich für meinen Teil habe hingegen die dürftige Erinnerung schätzen gelernt. Mag ihr therapeutischer Effekt gering sein, sie beläßt das Vergangene im Bereich der Möglichkeiten, legt sich nicht fest.
Ich hatte mir vorgestellt, es gäbe im Garten eine umzäunte Stelle. Ein Rechteck, etwa von der Größe zweier Personen, die nebeneinander liegen, von einem verschnörkelten Gitter eingefaßt, mit Tigerlilien oder Hortensien bepflanzt. Diese Umzäunung war nicht vorhanden, dennoch erinnere ich mich im nachhinein mit Vorliebe an sie, auch an die Tigerlilien, die es nicht gab.
Hinter dem Schuppen, hatte unser Vater gesagt, um den Schuppen herum, und dann seht ihr schon die Stelle.
Neben dem Schuppen, hatte unsere Tante behauptet, einfach dicht am Schuppen, man kann es gar nicht verfehlen, allerdings ist nichts Besonderes zu sehen.
Zunächst waren uns die widersprüchlichen Angaben keineswegs fragwürdig vorgekommen. Ich trug in der Brusttasche den Lageplan, den Tante Sidonia zur Vorbereitung mit violettem Filzstift aufgezeichnet und in Kopie an Justyna geschickt hatte, außerdem das einzige Foto des Anwesens, das sie aus den Kriegswirren gerettet hatte und an dem bisher weniger der Schuppen von Interesse gewesen war als vielmehr die Familie, die vor dem Haus für das Foto posiert. In der Mitte die Großeltern in Korbsesseln, dahinter die Eltern, links das Kindermädchen, rechts der Hund Balthasar, vorne die beiden Kinder in hellen Kittelkleidern. Als älteste Tochter eines Lehrers blickt Tante Sidonia streng, altklug und etwas mürrisch, sie hat diesen Gesichtsausdruck bis heute beibehalten und ihre gouvernantenhafte Art nie abgelegt, hält auf dem Foto aber beschützend die Hand über das Kleinkind mit dem Spitzenkragen, das gerade erst stehen kann und mit unserem Vater keine Ähnlichkeit aufweist. Von dem Schuppen ist nicht viel zu erkennen, weil die Familie alles verdeckt. Ein Stück Wiese, ein Stück Zaun, ein Stück Nachbarsgarten. Ganz am Rand, schon jenseits des Zauns, etwas unscharf Pflanzliches, von dem Tante Sidonia stets, nachdem sie andächtig die Namen aller abgebildeten Personen sowie des Hundes heruntergeleiert hatte, behauptete, das sei der Maulbeerbaum von Sosenpichlers.
Während das Haus, in dem unsere Großeltern gelebt hatten, nahezu unverändert geblieben war, war der Schuppen nicht mehr vorhanden. Die Wiese stand hoch, Brombeergestrüpp bildete unbetretbare Inseln, Brennesseln wuchsen am Haus. Auf der Wiese war alles abgetragen und überwuchert. Kein Brett, kein einziger Ziegel mehr.
Ich wickelte das Kreuz aus dem Vorhang, zeigte es Clara vor, die es mit kritischem Finger berührte. Justyna lief nach einem Spaten. Ihr Mann war nicht aufgetaucht. Sidonia bahnte sich einen Weg durch das Gras.
Wir irrten eine Weile durch den Garten. Der Lageplan erwies sich als nutzlos. Die Entfernungen waren falsch nachempfunden, die eine Seite des Grundstücks schien nur halb so lang zu sein, wie Tante Sidonia angegeben hatte, auf der anderen ging der Zaun dafür doppelt so weit. Es blieb unklar, ob sich das Grab eher gegen das eine oder das andere Ende des Zauns hin befand, ob es diesseits oder jenseits des Schuppens gelegen hatte und auf welcher Höhe überhaupt.
Sie selbst war sich jetzt, vor Ort, nicht mehr sicher. Ihre Absicht war gewesen, das Kreuz im Schutz der Schuppenwand aufzustellen. Nun sah ich an ihren abgehackten Bewegungen, wie sie allmählich in Panik geriet.
Warum nicht hier am Zaun, schlug Clara vor, und Sidonia bedachte sie mit einem wütenden Blick. Man würde den Kreuzstab von weitem für eine Zaunlatte halten.
Ewentualnie tutaj , empfahl Justyna, hier habe es früher eine leichte Kuhle gegeben, die sie später mit Ziegelschutt aufgefüllt hätten, dort sei ehemals vielleicht etwas abgesackt.
Mitten auf der Wiese, befand Sidonia entgeistert. Hier spielen doch Kinder!
Am Zaun trat meine Schwester auf weißliche Früchte, die sich im Staub krümmten, und hob den Kopf zu einigen Maulbeeren, die noch an den Zweigen hingen. Verstohlen pflückten wir ein paar ab. Sie lagen in meiner Hand wie fettgefressene Maden und schmeckten süß und fade. Chinesisch, fand Mila. Es waren die ersten Maulbeeren, die wir je aßen.
Der Maulbeerbaum stand noch, dem Nachbarhaus fehlte das Dach. Meine Schwester trödelte unter den Maulbeerzweigen, ich verlor mich im Gestrüpp. Ließ den Blick über die jungen Pappeln schweifen, die sich aus den Büschen erhoben, glitt an dornigen Ranken entlang, hielt inne an einem verschatteten Stück des Gartens, wo der Zaun schief hing und teilweise ganz umgefallen war. Dahinter nur die Leere der Landschaft.
Hinter dem Grundstück bog ein Wirtschaftsweg ins Feld. Meine Schwester spazierte diesen Weg entlang, pflückte Blumen, als ginge sie das alles nichts an. Ich ärgerte mich über dieses ungerührte Blumenpflücken, und ich hoffte, daß sie nicht auch noch beginnen würde, Kränze zu winden. Sie schlenderte demonstrativ gelassen zurück, den Blumenstrauß im Arm, wippenden Rockes, sie scharrte mit dem Absatz zwischen den Brennesseln und förderte einen Kronkorken zutage. Der ist nicht von uns, sagte ich wütend, und meine Schwester ließ den Strauß nachlässig, als würfe sie ihn weg, zwischen die Brennesseln fallen, und ich ärgerte mich noch mehr, daß sie nicht einmal imstande war, ihn dort ordentlich niederzulegen.
Die anderen hatten sich inzwischen auf eine Stelle direkt an der Hauswand geeinigt.
Man sieht es gut, bemerkte Sidonia zufrieden, und hier stört es nicht.
Ich überließ Justyna den geblümten Vorhang und übernahm den Spaten, ich benutzte den Gummihammer, ich häufte einen kleinen Erdhügel um den Balken aus Lindenholz.
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