Es war ein Tag Anfang Juni 1946, drei Wochen vor seinem Namenstag, als Johannes Janich, sechs Jahre alt, an der Hand seiner Schwester die Heimat verließ. Er stand mit Sidonia vor der Gastwirtschaft im Dorf und trug einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, darin ein Unterhemd, ein Hemd, ein Paar Strümpfe, ein Stofftaschentuch. Ein Pferdewagen fuhr vor, sie bestiegen die Ladefläche und wurden zum zehn Kilometer entfernten Bahnhof gefahren. Erwachsene liefen die Strecke zu Fuß. Die Geschwister reisten unbegleitet.
Mit anderen Ausgewiesenen pferchte man sie in Viehwaggons, sie ratterten drei Tage quer durchs Land, und was bisher ein Ort, die Heimat , gewesen war, löste sich im wirren Umherfahren, Rangieren, Abkoppeln, Ankoppeln auf.
Durch die Ritzen im Waggon spähte Johannes hinaus auf die Felder, die rot überflammt waren von Mohn. Ein feuriges Rot wie das kommunistische Rot, das sich jetzt über diesen Landstrich legte und vor dem sie flohen, ein Rot wie das Kardinalsrot, dem sie in den Westen nachzogen, das katholische Klatschmohnrot des gnädigen Vergessens.
Durch die Ritzen im Waggon pfiff der Wind. Johannes, vom Hunger geschwächt, erkältete sich sofort. Er saß auf dem Boden, lehnte die Wange an sein zerknülltes Taschentuch, hielt sich an der Hand seiner Schwester fest.
Ritzen im Waggon, die hell und wieder dunkel wurden, Tage und Nächte. Tag um Tag flohen Bahnschwellen unter ihnen weg, die winzigen Maßeinheiten eines Zeitstrahls, zu schnell vorüber, als daß sie zu einer deutlichen Vorstellung hätten werden können. Tag um Tag blieb die Landschaft zurück, fielen Landschaftsbilder in eins; drei Tage, die den Kindern wie drei Wochen schienen, drei Wochen wie ein Block, der sich plötzlich zu einer Anhöhe aufwarf, zu einem Hochplateau über der Stadt. Auf der Felsterrasse, die zum Fluß Elbe steil abfiel, thronte Schloß Sonnenstein.
Beim architektonischen Komplex Sonnenstein handelte es sich um die Gebäude der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt. Zu Seiten der Festung lagen Villen in Parkanlagen verstreut, durch die ehemals weißbekittelte Pfleger zogen, Schwestern in hochgeschlossenem schwarzen Ornat, mit dem Schürzenlatz über der Brust, der reinweißen Schleife im Rücken, der Haube im straff gescheitelten Haar. Schwestern, die zügigen Schritts ihren Aufgaben nachkamen, weiße Flecken, die zwischen Bäumen und Buschwerk auftauchten, dann verschluckt wurden vom Schatten, vom Licht. Weiße Flecken, vom Rhododendron aufgesogen, vom Rasen wieder ausgespien, sie unterhielten das progressivste Institut im ganzen Land. Patienten in Anstaltskleidung hackten gruppenweise verwilderte Beete. Sie zogen Furchen in den Ackergrund, führten Malerarbeiten in den Zimmern aus, sie flochten Körbe, halfen in der Küche: Die Anstalt Sonnenstein verschrieb sich der Humanität. Man sah von Zwangsmaßnahmen wie der Isolierung in Käfigen weitgehend ab, führte Beschäftigungstherapie ein, man nutzte das Badewesen zu Heilzwecken. Sturzbad. Kaltbad. Kopfbad. Unruhigen Patienten, die in anderen Einrichtungen fixiert worden wären, bereitete man ein Dauerbad mit Körpertemperatur. Die Kranken wurden so lange gebadet, bis ausreichende Beruhigung, bis Schlaf eintrat.
Als bekanntester Patient der Anstalt darf wohl der Senatspräsident Schreber gelten. Im Hinblick auf seine geistige Verfassung und in Anbetracht seiner Herkunft aus der gehobenen Klasse traktierte man ihn nicht mit Gartenarbeit. Er beschäftigte sich selbst, frönte dem Klavierspiel, zog sich meistenteils in seine Räume zurück.
Schreber glaubte sich durch seine Nervenenden mit Gott verbunden und war im Begriff, sich mittels einer durch seine Nervenbahnen gesendeten Kraft in ein Weib zu verwandeln. Da seine eigene Frau sich nach einer Reihe von Fehlgeburten als untauglich erwiesen hatte, die Nachkommenschaft der Familie zu sichern, sah Schreber sich gezwungen, diese Aufgabe selbst zu übernehmen, sich von Gottes Strahlen befruchten zu lassen und der Welt ein neues Menschengeschlecht zu schenken. Ein solches Geschlecht zu gewährleisten, hielt er für um so nötiger, als er die Realität der bis dahin vorhandenen Welt und die Echtheit der Menschen, mit denen er umging, in Zweifel zog. Sah er sich doch umgeben von schlecht ausgedachten Männern, nämlich seinen Ärzten, seinen Wärtern, dem Pflegepersonal.
Schreber betrieb eine Art negativen Sonnenkult. Er sah sich von der Sonne, die Gott vorgelagert war und mit menschlicher Stimme zu ihm sprach, sowohl auserwählt als auch verfolgt. Es war ihm ein Anliegen, vor dem Sonnenschein, der in sein Zimmer drang, unauffällig auszuweichen. Er begab sich an die jeweils verschattete Wand, aber die Sonne änderte ihren Lauf, kam von unmöglicher Seite, stürzte sich noch in der dunkelsten Ecke auf ihn.
Schreber wurde trotz modernster Methoden nicht geheilt. Sein Wahnsystem existierte parallel zu den angenehmen Umgangsformen, den guten Manieren, dem brillanten Verstand des Senatspräsidenten, und schließlich wurde dieser als geschäftsfähig entlassen, das Projekt des neuen Menschen vorläufig verschoben, einer ungewissen Zukunft anvertraut.
Beim architektonischen Komplex Sonnenstein handelte es sich um die Gebäude der ehemaligen Vernichtungsanstalt, die ihre Arbeit zu dem Zeitpunkt aufnahm, da die Heilanstalt geschlossen wurde.
In den Räumen des Paralytikerhauses richtete der Direktor erste Gaskammern ein. Patienten, deren Krankheit einen chronischen Verlauf nahm, wurden aus der aufgelösten Heilanstalt nicht entlassen, sondern direkt den Gaskammern zugeführt. Dort starben in den Jahren 1940 und 1941 etwa 15 000 Menschen. Geisteskranke und Behinderte, mißgebildete und mongoloide Kinder, auch Soldaten, die aufgrund ihres Kriegseinsatzes an einem Nervenleiden erkrankten, konnten ihres Lebens nicht mehr sicher sein.
Sowohl der Direktor als auch das Prinzip der Vergasung wanderten nach zwei Jahren in die Konzentrationslager ab. Während man erste KZ-Häftlinge zunächst auf dem Sonnenstein ermordet hatte, wurden die Gaskammern, die hier erprobt worden waren, in großem Stil dann andernorts nachgebaut.
Der Leiter des Sonnensteins führte später im Konzentrationslager Auschwitz medizinische Experimente durch. Er sterilisierte Frauen und Männer mit Röntgenstrahlen, doch die Versuche mißlangen. Die Behandelten erlitten schwere Verbrennungen, die Organe entzündeten sich, viele starben qualvoll an den Folgen. Strahlen, von denen sich Schreber noch befruchtet wähnte, erwiesen sich nicht als geeignetes Mittel für Unfruchtbarkeit.
Es gibt Orte, an denen sich nur Unglückliche einfinden. Orte, an denen sich das Unglück festgesetzt hat, Orte, die es auf alle übertragen, die sich dort aufhalten.
Der architektonische Komplex Sonnenstein diente nach dem Ende der Krankenmorde als Reichsverwaltungsschule und Reservelazarett. Wenn wir davon ausgehen, daß auch die Zöglinge der Reichsverwaltungsschule unter psychischen Deformationen litten, wenn wir bereit sind, auch diese Deformationen als Verwundungen zu betrachten, so kann zusammenfassend gesagt werden, daß der Sonnenstein immer ein Ort der Versehrten war. Ein Ort, an dem sich das Grauen jener Gesellschaft kristallisierte.
Beim architektonischen Komplex Sonnenstein handelte es sich um Gebäude, die die Rote Armee als Truppenunterkunft genutzt und nach ihrer Befreiungsarbeit weitgehend zerstört hatte. War es ihnen mit dieser Zerstörung gelungen, den Fluch aus den Mauern zu vertreiben?
Elektrische Leitungen waren gekappt, Lampen von der Wand gerissen, Möbel verfeuert. Türen fehlten, Wasserrohre waren gebrochen. Hunderte Fensterscheiben mußten neu eingezogen werden, die Heizung erneuert, die Sanitäranlagen wiederhergestellt.
Hierher kamen Johannes und Sidonia Janich als Kriegswaisen. Vom Übernahmepunkt am Bahnhof brachte man sie hierher, ins Auffanglager.
Beim architektonischen Komplex Sonnenstein handelte es sich jetzt um eine Durchgangsstation für die Vertriebenen, eine Sammelstelle für menschliches Strandgut, um einen Umschlagspunkt für Umsiedler.
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