Für die Wissenschaft ist die pazifische Leuchtqualle Aequorea victoria von Bedeutung. Sie enthält Aequorin, das ein blaues Licht aussendet. Das blaue Licht faszinierte Odilo am meisten. Gern hätte er mit Mila eine Zeit am Pazifik verbracht. Zwar konnte er sich Exemplare von Aequorea victoria ins Labor bestellen; sie, wenn er denn wollte, durch ein feinmaschiges Sieb pressen, wie es brachial die Entdecker des Aequorins in Amerika zu tun pflegten; morgens fingen sie die Quallen lebend aus dem Meer, den Tag über verbrachten sie damit, sie zu zerkleinern, um dann festzustellen, daß die Gallertmasse noch nach dem Tode der Tiere im Waschbecken blaues Licht produzierte.
Aber es ging ihm nicht darum, die Tiere in ihre Einzelteile zu zerlegen.
Odilo empfand es als persönlichen Erfolg, die Quallen in ihrer angestammten Umgebung leuchten zu sehen, auch wenn es weiter zu nichts führte, im Grunde genommen sogar vollkommen sinnlos war.
Es nieselte unerbittlich, und sie verfolgten die Wege der Tropfen, die auf die gespannte Haut der See fielen, in den Wasserkörper hineinsanken. Die Quallen trieben dicht unter der Oberfläche. Durch die Berührung gereizt, reagierten sie mit diesem seltsam ortlosen Schimmern. Ließen das Meer von innen leuchten; flache Wand- und Deckenleuchten, Irrlichter unter Wasser; Lichterscheinung, die bei Erregung zunimmt.
Sie rückten näher zusammen, der Stoff ihrer Kleider rieb aneinander, Mila wollte sich vorstellen, selbst eines dieser Tiere zu sein. Wie es sich anfühlte, von den Strömungen mitgezogen zu werden. Ein Sich-schleifen-Lassen, eine den Winden und Gezeiten ausgesetzte Lässigkeit.
Ihr kaltes Feuer, ihre ausnehmende Eleganz, wenn sie sich in ihrem Element befanden. Ihre Berührungsverführung. Ihr kaltes Brennen. Wäßrige, kalte Glut.
Und später, wenn es sie an den Strand spülte, die Brandung sie umdrehte und zu Haufen zusammenschob, ihre Unansehnlichkeit — das matschig Verflüssigte eines Spätwintertages. Die angetauten Schneereste am Straßenrand, schmutzige Eiskrusten, glasig, zerstampft. Eine schreckenerregende Masse, die rasend schnell dahinschwindet. Zwischenzustände. Nicht mehr ganz von dieser Welt. Jedes Kind versucht, sie anzufassen, herausgefordert von ihrer weichen Uneindeutigkeit. Mila entsann sich noch des Mädchenwunsches, mit dem Gummistiefel in sie hineinzutreten. Eine Berührung zornig zu übertreiben, bis sie in eine fremde Sphäre reicht, bis sie etwas zu erreichen scheint, was sonst unantastbar ist.
Es war beinah windstill. Die Stille. Meine Schwester war von dieser Stille umgeben. Sie war ohne Kopf.
Odilo beobachtete nebenbei, wie ihre Kleidung, ihr Mantel, ihr Schal nach und nach durchweicht wurden, wie erst glitzernde Tröpfchen auf den feinen Flusen schwebten, wie dann eine Verfärbung ins Dunklere stattfand, eine plötzliche Verschiebung in einen anderen Zustand.
Er ahnte nicht das Brennen, das sich in Mila hineinfraß, das sie bis dahin zu vermeiden gewußt hatte, mit langen Handschuhen, mit dem Willen zu erotischer Erkenntnis, einer inneren Distanz.
Sie sahen auf das unermeßliche Meer hinaus, das sie erschauern machte, wie der Regen die Quallen erschauern ließ. Aber sie, die Menschen, leuchteten nicht auf, im Gegenteil schien es ihnen, daß ihnen der Mut sank, daß sie erloschen.
Sie erwachte in der Nacht und fand Odilo nicht neben sich. Sie fand sich noch halb in den Fetzen eines Traums, der an eine lange zurückliegende Fahrt mit einem Ausflugsschiff anknüpfte. Damals, im Urlaub an der Küste, hatten wir unsere Eltern bedrängt, mit diesem Schiff fahren zu dürfen. Das Schiff besitze einen Glasboden, hieß es, und die Betreibergesellschaft warb mit einer Fotomontage, Geheimnisse des Meeresgrundes , auf der eine wundersame Unterwasserwelt zu sehen war, üppige Seeanemonen und Korallen, buntgestreifte Fische, Seesterne und langhaarige Nixen, wobei wir letztere als Reklame abtaten, den Rest aber durchaus erwarteten. Das Schiff legte ab, wir stürmten ins Untergeschoß, das allerdings gewöhnlich wirkte, keineswegs gläsern, und eine Bar enthielt. Schließlich entdeckten wir, umringt von einem Geländer, eine Scheibe im Boden, ein kleines Rechteck bloß, vielleicht von der Länge eines Hütehundes, und durch dieses Rechteck sahen wir den Meeresboden. Sand. Flacher, in leichte Wellen geschobener Sand, Sand und einzelne Steine. Ein paar weiße Muschelschalen in dieser Sandfläche, viel weniger als am Strand, grauer Sand, über dem ein paar Luftblasen trudelten, dann ein zerfetzter, halb eingegrabener Turnschuh, dann wieder bloß Sand. Der Sand entfernte sich, je weiter wir hinausfuhren, er sank immer weiter nach unten, schließlich sahen wir nur noch das Wasser, sonst nichts.
Die Kronenqualle schwebt unter der Decke des Bibliothekssaales, sie erhellt das Dunkel mit dem unwirklichen Licht eines Tiefseetieres, das dazu gemacht ist, dem Druck mehrerer Tonnen Wasser standzuhalten. Diesen Tonnen seine gallertige Weichheit, seine Angreifbarkeit, seine Beeindruckbarkeit entgegenzusetzen. Ein Tier, das sich wenig bewegt, das der Kälte und Finsternis mit seiner passiven Aggressivität trotzt, dessen Lebensvorgänge in Zeitlupe verlaufen, das selbst den Verlauf der Zeit zu verlangsamen scheint. Diese Lähmung aller Lebensvorgänge hat längst auch uns erfaßt, die wir uns noch ein paar Meter tiefer aufhalten, mit aufgeschlagenen Büchern um ranzige Sessel schlurfen, in dieser Atmosphäre eines immensen Druckes, der in unserem Falle ein psychischer ist. Ich sage uns, als wäre ich unterschiedslos mitbetroffen und geneigt, wie alle anderen ebenso die Last der Historie auf mich zu nehmen und mich mit dieser Last besonders vorsichtig zu bewegen: ohne Schlamm aufzuwühlen, ohne Widerstand. Man befindet sich in einer Art Schockstarre, und die Kunst besteht darin, sich zu bewegen, als bewege man sich nicht. Wir befinden uns in einem Raum der Handlungslosigkeit. Alle Handlungen haben stattgefunden, viele hätten besser nicht stattgefunden, in diesem Raum bleibt nichts mehr zu tun. Nichts, als sich anzupassen. Manchmal kommt es mir so vor, als bestünde unsere Aufgabe darin, den sich rasend beschleunigenden Veränderungen durch unsere apathische Langsamkeit etwas entgegenzusetzen: Hier kann uns nur noch wenig geschehen. Der Druck jener Außenwelt, jener Geschichte wäre zugleich das, was uns birgt.
Der Buchbestand in der Bibliothek ist vernachlässigenswert. Dennoch halten sich die Patienten tagsüber gern hier auf. Die meisten Werke stammen noch aus DDR-Zeiten. Wie der Stahl gehärtet wurde, Urania-Kompendium Technik , solche Sachen. Die Patienten verbeißen sich in diese Lektüren mit einer Art von Erkenntniswut, als könnten sie darin über ihr Schicksal Aufklärung erhalten. Die Saaldecke ist außerordentlich düster. Ausgestaltet mit Muschelornamenten, wie man sie in Seebädern den Touristen auf Spanschachteln verkauft, gibt diese Decke das schattige, kühle Gefühl einer Grotte. Über Jahrhunderte haben hier Kerzen gebrannt, Kaminfeuer gelodert, der Ruß von Jahrhunderten ist an die Decke gestiegen und hat sich dort festgesetzt. Die Muschelschalen mit ihren feinen Rillen, die Kalkgehäuse der Wasserschnecken sind schwer zu reinigen, die Decke blieb schwarz.
Ein Ofenschirm ist noch vorhanden. Im Sommer steht er vor der Kaminöffnung und schirmt den Heizkörper, den man am Platz der Feuerstelle installiert hat, vor empfindlichen Blicken ab. Im Winter, wenn die Heizung läuft, wird er abgerückt, und die Patienten benutzen ihn als spanische Wand. Sie bauen ihn zwischen zwei Sesseln auf, um sich eine Lesekabine oder eine Kreuzworträtselkabine zu schaffen, ein Stück Privatheit im Aufenthaltsraum.
Ab und zu fällt eine Muschel auf ein Buch. Ein Schneckengehäuse löst sich aus dem Gips und sinkt zu Boden. Am Grund geht die Strömung kaum merklich. Oben ist sie stärker, sie wiegt den Leuchter im Sog der vergehenden Zeit, in der Strömung der Baltischen See. Frisches Haff, Skagerrak, Winde Kareliens — der Leuchter bleibt von der Hitze und Kälte vergangener Jahre durchdrungen, vom Jetzigen, Unveränderten träge umspült.
Читать дальше