Odilo wedelte halbherzig ein paar Insekten fort. Die Schleier wichen aus und schlossen sich hinter seiner Hand wieder zusammen, als wäre nichts geschehen. Es irritierte ihn, daß ihm die Situation, auf die er lange hingearbeitet hatte, durch unvorhersehbare Umstände entglitt. Er zog sein Stofftaschentuch hervor und begann, damit über ihr Kleid zu wischen, er zerdrückte die Tierchen, erzielte nichts als einen schmierigen Film. Er erreichte damit, daß sie weiterging, die Arme angewidert zu beiden Seiten gestreckt, wie eine Seiltänzerin, balancierend auf Fliegen.
Die Gewittertierchen, beruhigte er sie, würden mit dem Ausbruch des Gewitters verschwunden sein. Sie solle sich jetzt ein anderes Kleid anziehen, ein dunkleres, und dann würden sie auf der Hotelterrasse etwas trinken, würden zusehen, wie sich die Wolken ballten.
Odilo stand im gerippten Unterhemd am Waschbecken. Er stand in Unterhemd und Unterhose und wusch sich unter den Achseln. Er ließ den Unterarm hängen, die Hand wie abwinkend, hob den Ellbogen hoch, flatterte. Er hantierte in einem Bad, das nach seinem Dafürhalten zu klein war, selbst für das Bad eines billigen Hotels. Er hatte nichts anderes mehr bekommen, es war Hauptsaison. Solide, aber geschmacklos eingerichtet. Elende hellblaue Kacheln, um zu demonstrieren, daß in diesem Raum Wasser lief, ein schwarzer Toilettendeckel, der dafür verantwortlich sein mochte, daß es wie in den Bädern der siebziger Jahre roch, eine Badewanne ohne Duschvorhang, die sich als Dusche nicht benutzen ließ, ohne den Raum unter Wasser zu setzen. Die Kacheln beengten ihn, er war nervös, hätte Mila lieber etwas anderes geboten. Etwas Großzügigeres, etwas Schönes. Statt dessen sah er sich gezwungen, in einer Räumlichkeit zu hampeln, die einer Behinderung gleichkam, die ihn in seinen Absichten nicht unterstützte. Waschlappen. Er hatte seit Jahrzehnten keinen Waschlappen mehr benutzt. Jetzt aber sollte es schnell gehen, er fand nicht die Zeit, in einer Wanne ohne Vorhang zu brausen und dann stundenlang den Boden aufzuwischen. Morgen früh würde dieser Waschlappen steifgetrocknet am Haken hängen, schon jetzt war es ihm peinlich. Der moderne Mensch duschte. Die Badezimmertür stand sperrangelweit auf, Odilo hatte sich zu rigoroser Offenheit entschlossen. Zur Vertraulichkeit eines Kindes. Sie sollte, durfte alles von ihm sehen. Er wollte Ernst machen. Schwächen zeigen. Anders ließ sich eine Beziehung gar nicht ertragen. Oder ließ sich nur auf diese Weise, indem er sich gab, als sei er allein, ihre Anwesenheit für diesen Moment vergessen? Odilo beugte sich vor und ließ Wasser über seine Arme laufen. Er legte sich ein Handtuch um die Schultern, hielt es an den Zipfeln straff, kam beflügelt ins Zimmer.
Weiße Unterwäsche, Altherrenpantoffeln, schlappender Gang. Sie konzentrierte sich darauf, wie der Trikotstoff näher kam, sich am Fenster grau verschattete, dicht vor ihren Augen pulsierte. Ein treuherziger Stoff, feingegliedert in einzelne Rippen, die sich dem Körper anschmiegten, ihn linierten. Einzelne Tropfen von den Wasseraktivitäten auf der Brust, eine Farbnuance dunkler, bebend.
Die Wolken rissen für einen Moment auf, ein Schlaglicht glitt ins Zimmer, das Unterhemd blendete sie. Sie schloß die Augen, spürte nur, wie der Strahl rasch verschwand, das Zimmer fremd und kühler zurückließ. Dunkelgrau und rauhhäutig wie die Füße, die Beine des Schwans. Sie sah ihn vor sich, seine Imponierhaltung: den Hals stark zurückgebogen, den Schnabel gesenkt, die Schwingen gelüftet.
Das Hotelhandtuch flog in den Sessel. Ein kleineres Stoffstück segelte hinterher. Weitere Sturzflüge im Zimmer, Unruhe. Schwimmfüße paddelten unter Wasser, ruderten durch Entengrütze, schleimige Grünalgen. Blasenkolonien stiegen auf, das Teichwasser perlte.
Gummikalte Hände legten sich auf ihren Bauch, tasteten über die Hüften, wanderten die Schenkel entlang. Schwimmhäute, dachte sie, die sich der Rundung anpassen. Die feucht ankleben, schwanenschwer lasten. Mila verhärtete sich. Häßliche Flossen watschelten über ihre ausgestreckten Beine, sie strich versuchsweise über die gespannten Häute, die sich von ihrem Körper nicht lösen wollten, griff nach den Knöcheln, zog sie noch weiter zu sich heran, wand sich unter ihnen weg.
Odilo stopfte das Kissen zurecht. Pumpende Leiber, von Federn umhüllt; ihr schien, daß aus dem Kissen Federkiele ragten, ein billiges Kissen mit Federn minderer Qualität. Die Spitzen stachen durch den Bezug, piksten sie in den Nacken, kratzten in ihrer Armbeuge, kitzelten. Ein Oberbett, vollgestopft mit hibbeligem Federvieh, drängte an sie heran, plusterte sich auf. Konturfedern spreizten sich, verlorene Flaumfedern flogen.
Sie hielt den langen Hals des Schwans, ließ ihn durch die Hand gleiten, ein seidenweicher Hals, der sich aufzulösen schien in Flaum. Flaum, der über ihre Wange strich, ihr ins Ohr flüsterte. Dann der Schnabel zwischen ihren Lippen, ein harter Schnabel, der sich in ihrem Mund aufsperrte, ihre Kiefer auseinanderzwang. Sie leckte über geriffelte Zahnreihen der Entenvögel; gleichmäßige Lamellen wie ein Waschbrett, eine Wasseroberfläche, von einer Zungenberührung in feinste Wellen geworfen und sofort erstarrt.
Wind stieß durch das gekippte Fenster, schob Odilos Papiere vom Tisch. Sie hörte sie über die Platte rutschen, über den Teppichboden schaben. Steigende, fallende Kurven. Die Blätter segelten aufs Bett, erhoben sich nochmals, schwebten durchs Zimmer. Papierflieger, Papiergefieder. Lose Steuerfedern. Deckfedern. Schwungfedern.
Eisengefieder quietschte. Sie bildete sich ein, die Sprungfedern durch die Matratze hindurch zu spüren, zu Wirbeln gebogene Drähte, Wirbel, die dem Körper Auftrieb verliehen. Wirbel, verhärtet, in denen sich die Natur bewegte. Strudelndes Wasser. Kreiselnde Luftmassen. Trudelnde Daunen.
Vage Federfinger strichen durch die Luft, vornehm verlängerte Finger, die nichts bewegen, nichts greifen konnten. Sie streiften ihr Haar, umhüllten ihre Schultern. Fittiche umgaben sie, schwangen sich auf.
Ein Abend, an den sie sich nicht erinnern wollte. Heruntergekommene Schwäne paddelten zwischen Plastikflaschen, bettelten majestätisch um Brot. Sie trug eine Pudelmütze und Fausthandschuhe, sie reichte noch nicht über das Geländer zum Fluß. Sie brach, vom dicken Handschuh beeinträchtigt, Stücke von den Graubrotschnitten ab, warf sie durch das Gitter ins Wasser, ein Schwan reckte den Hals nach ihr.
Sie wußte nicht, ob sie ihn mochte.
Kofferraumdeckel knallten zu, Scheinwerfer fraßen sich hinter ihr vorüber. Ein Abend, der nicht ausbrach, der immer Schwelle blieb, immer kurz davor. Sie hielt sich am Geländer fest, das Brot schwamm zwischen Abfällen, sie warf die Tüte hinterher, die weiß gebläht auf dem Wasser aufsetzte, der die Schwäne folgten.
Schwäne, ihr dünkelhaftes Betreten von Grünanlagen. Sie hatten über Reisen gesprochen, über den Wunsch, eine undeutliche Sehnsucht in Bewegung zu verwandeln. Lauter zugvogelhafte Bestrebungen, flüsterten sie sich zu, die doch darauf hinausliefen, daß man gemeinsam voreinander floh. Der Wille zur Handlung war da. Sie kannten sich kaum.
Mißvergnügt überflügelte Parkhäuser. Mauserzüge. Rastloser Flug. Erregtes Wasser unterhalb. Das Gehetzte ihrer Beziehung. Das Getriebene. Reisen: Sie reisten sofort.
Daß jede Reise einer vergeblichen Sehnsucht nach innerem Leuchten stattgab. Die mechanische Erzeugung einer Bilderfolge, deren Zusammenhang sich im nachhinein als zwingend erwies. Ein Lichtbildervortrag, an dem doch das wichtigste die Lücken zwischen den einzelnen Dias waren, langes Warten an unwirtlichen Haltestellen, die Absturzkante vor dem Schlaf in unbekannten Räumen, der Atem fremder Passagiere im Sitz nebenan. Die Erfahrungen im nachhinein unbenennbar, weißes Rauschen, das sich sofort verflüchtigte, nachdem es für einen flackernden Moment gelungen war, mit gleichmäßigem Flügelschlag wie ein Dynamo Lichtenergie zu erzeugen, ein Glosen aus dem Körperinneren. Man schien immer heller zu werden, während es draußen immer dunkler wurde. Beides erfüllte sie mit Angst.
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