Diese Luft hatte 1826 schon Frédéric Chopin geatmet, als er noch Fryderyk hieß, sich hier mit Mutter und Schwester zur Kur aufhielt und sein erstes Konzert außerhalb der Grenzen von Polen gab, ein Wohltätigkeitskonzert, Mendelssohn hatte sie geatmet, und jetzt atmete Mila sie, Komponistenatem vermischt mit den Dünsten von Linsensuppe und rostigem Rohr.
In der Dämmerung betraten sie den Kurpavillon. Sie waren die einzigen Gäste. Der Pavillon lag in einem trüben gelben Licht wie von Heizkissen und Rheumadecken, das sie schlafwandlerisch durchschritten. In der Trinkhalle saß eine Frau mit Krankenschwesterhaube hinter einer Schulbank und verkaufte daumengroße Plastikbecher. Mila reichte ihr eine Fünfzigermünze und erhielt zwei Becherchen. Sie standen damit eine Weile unschlüssig vor dem Brunnen. Das arsenhaltige Wasser floß stoßweise aus einem dünnen Röhrchen, es wehte sie etwas Fauliges von diesem Brunnen an. Sie hielten ihre Becher in den Strahl.
Odilo wäre lieber nach Karlsbad gefahren, nach Marienbad, Goethes wegen. Mila wollte hierher, Chopins wegen. Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte der Ort zu den bedeutendsten Herzheilbädern Europas. Dann war er aus der Mode gekommen. Und jetzt, im Winter, blieben die Kurgäste ohnehin aus.
Odilo fühlte sich unwohl in dieser Umgebung der Mineralmoore und des Glimmerschiefers, der Gefäßkrankheiten und Frauenleiden. Er glaubte alle Unpäßlichkeiten auf sich zu ziehen. Zog die Schultern hoch, wenn sie in die Nähe anderer Leute gerieten, zuckte überempfindlich mit dem rechten Lid, fürchtete sich vor Bazillen, vor Dummheit, vor Unbequemlichkeit.
Er ertrug den Geruch nicht: die Kohleöfen und die süßlichen Zweitakterabgase, die deftigen Essensgerüche; dazu der metallische Geruch des Schnees, das frisch gesägte Holz, der übelkeiterregende Geruch des Stahlsprudels.
Sie waren allein in der frühen Winterdunkelheit, die kaschiert wurde vom Schwefellicht, sie fühlten sich vielmehr allein, denn die Becherverkäuferin saß mit einem Strickzeug hinter ihrem Tisch und gab sich abwesend. Aus der Tiefe des Kurparks näherte sich eine Wolke aus Lärm und Geschrei. Eine Gruppe Grundschulkinder wurde im Restlicht, das in den Park fiel, sichtbar, sie tauchten paarweise auf, einander an den Händen haltend, und sie wurden schlagartig ruhig, als sie die Schwelle zum Brunnenraum überschritten, als beträten sie, vorweg die Lehrerin im strammen Ausflugsschritt, ein Kirchenschiff.
Die Becherverkäuferin legte ihr Strickzeug zur Seite. Einzelne Kinder kosteten vom Arsenwasser; es schmeckte ihnen nicht, und sie zogen eigene, süßere Getränke aus ihren bunten Rucksäcken. Sie kauten Kaugummi und saure Schnüre, verloren bald die Ehrfurcht, sprachen lauter, sprachen ihr kindliches Polnisch mit einem Zuckerhauch.
Odilo beobachtete die Kinder mit Mißtrauen. Sie waren dick eingepackt in Pudelmützen, in Schals, in wattierte Jacken, die ihre Bewegungen ein wenig roboterhaft machten. Ein Mädchen hatte mit klebrigen Fingern versehentlich seine Hand gestreift, als es sich einen Weg bahnte zum Brunnen, dort versuchte, in der hohlen Hand den Wasserstrahl aufzufangen. Odilo war zurückgezuckt, dann von Mila sanft zur Seite gezogen worden, bis die Kinder sich wieder zerstreut hatten.
Odilo spielte nervös mit dem Becher, rollte ihn zwischen den Handflächen, ließ die Wände im Zangengriff gegeneinander federn. Mit einem Knacken zerdrückte er das Gefäß. Wasser tropfte von seinem Handgelenk auf den Boden, vergeudetes Heilwasser, das sich mit den schmutzigen Fußabdrücken der Gäste, mit Schneematsch vermischte; das nun erneut eingespeist würde in den langen Prozeß des Sinterns.
Er ließ die Plastiktrümmer in den Brunnen fallen, wo sie stockend bis zum Abfluß trudelten, dort immer wieder aufzuckten, zur Rotation ansetzten, aber eine Drehung um die eigene Achse nicht schafften.
Odilo steckte die nasse Hand in die Hosentasche, die andere legte er um Milas Schulter, sie traten Arm in Arm zurück in den Wind.
Draußen beständiges Tropfen. Es tropfte von den Dachrinnen und Ästen, von Bänken und Papierkörben. Die Eiszapfen lösten sich auf, es tropfte von gestrickten Pulswärmern, Capes und Schals, die ganze Atmosphäre aus Topflappen- und Lehnstuhlgemütlichkeit tropfte auf die Holzstöße hinter den Häusern, während in den Pflanzen bereits die Säfte stiegen. Gegenläufige Nässe: Odilo gefiel es hier nicht. Er hatte sich lange geweigert, den Osten Europas zur Kenntnis zu nehmen. Sich schließlich eingelassen auf Chopin. Mit so viel Wasser hatte er nicht gerechnet.
Sein Schädel pochte. Jedes einzelne Tropfgeräusch fiel hämmernd in seinen Kopf, hallte wider, und während es beim Aufprall kurz und heftig klopfte, verursachte der Nachhall einen langgezogenen Schmerz.
Er klammerte sich an Milas Arm und stolperte über aufgeweichte, schlecht beleuchtete Wege. Zu den Seiten Schneehügel, achtlos aufgehäuft und unter harschen Krusten vollgesogen mit Wasser. Die Parkwiesen voller weißer Flecken. Unbekannte Gebiete auf altem Kartenmaterial, aus der Zeit gefallenes Gelände. Hic sunt leones.
Er starrte auf den Boden, auf den blinden Schneespiegel, der ihm zu hell war, den Kopfschmerz verstärkte. Er mußte sich zurückziehen, die Reizüberflutung eindämmen.
Ihm schien, daß sich alles beschleunigte, die Erde immer schneller rotierte, Tag und Nacht ein unmäßiges Flackern, die Jahreszeiten fiebrige Schauer auf seiner Haut.
Getilgte Bilder des Winters, aufgefressenes Gelände. Aus der löwenköpfigen Leere rieselte das Wasser, der ganze Ort ein Löwenmaul, das Wasser spie.
Eine Woche zuvor hatte er noch bei Nieselregen auf der Domplatte innegehalten, sehr weit oben an den gotischen Streben die langgestreckten Schweinemänner mehr geahnt als gesehen, die geifernden Hundsdrachen mit angelegten Flügeln, die spiralhornigen Ziegenböcke mit Nixenschwänzen, und er hatte sich sofort selbst als Mischwesen gefühlt, aus fragwürdigen Hälften oder Vierteln zusammengesetzt. Der feine Regen fiel ihm ins Gesicht, die Chimären hockten hoch oben am Dom, das Maul über der Stadt geöffnet, unbewegt, stumm. Der Regen vom Domdach lief nicht mehr durch ihre Kehle, er rann im Verborgenen herab, in verdeckten Rinnen, daß er den Besuchern nicht vor die Füße plätscherte, nicht in dicken Strahlen aus großer Höhe auf dem Platz zerspritzte, dem Besucher nicht von unten in die Kleider fuhr. Nicht mehr sollte das Dämonische abgehalten werden vom Gotteshaus, sondern vom unbedarften Passanten, der an das Dämonische nicht mehr glaubte, nur noch an Lästiges, Unbequemes.
Von den Wasserspeiern wurde einstmals erwartet, daß sie die Bewegung des Regens bündelten. Mit ihrer Häßlichkeit leiteten sie Blitze ab, mit ihrer Monstrosität dirigierten sie den Donner, schickten die Wolkenungetüme auf andere Wege abseits der Stadt — und war nicht der Kölner Dom sogar aus Bombenhageln unversehrt hervorgegangen, ihretwegen?
Heutzutage ging nur noch Wind über sie hinweg, der Verlauf des Wetters wurde von ihnen nicht länger reguliert, heutzutage gab es die Vorhersagen, die Strömungsbilder im Fernsehen, die allerdings nur vorgriffen, nicht eingriffen. Odilo glaubte dennoch daran, mit der Vorhersage über das Wetter verfügen zu können, und plötzlich hatte er sich auf die Tage mit Mila gefreut, zu hoffen gewagt, daß ihn die Körperkonfusion dann für eine Weile verließe, weil Mila ihn in eine Art Natürlichkeit hineinzuziehen, sein grundsätzliches Unwohlsein zu lindern vermochte.
Aber jetzt umfloß es seine Schuhe in Rinnsalen, als habe er selbst das ganze Wasser hohlmäulig ausgespuckt.
Am nächsten Tag ging er nicht aus, schützte Migräne vor. Mila schloß sorgsam die Perlknöpfe ihrer wollweißen Strickweste, zog den Mantel an, nahm die cremefarbene Handtasche über den Arm.
Mila ging durch die schneeverwischten Stellen im Park zum Brunnenhaus. Ging durch die weißgefleckte Landkarte, Arbeit an der Quelle zu leisten, ein vages Schuldgefühl dadurch abzubauen. Sie flüsterte die polnische Bezeichnung vor sich hin — pijalnia —, schreckte ein Taubenpaar auf, das auf nacktem Ast döste, dann mit synchronen Wendungen der Köpfe sein Gefieder putzte. Sie fühlte sich immer beschädigter, je näher sie kam. Trinkkur. Erinnerungskur.
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