Sie verspürte eine seltsame Begierde diesem Ort gegenüber, sie verspürte ein Bedürfnis, sich ihm anzuvertrauen, die Last seiner Geschichte zu schultern. Sie ging hoheitlich in ihren Altfrauenkleidern, als verkörperte sie eine Vergangenheit, die sich außer ihr niemand zurückwünschte.
Müde Attraktionen der brachliegenden Tourismusindustrie. Eine dumpf riechende Kirche, bestehend aus Wachsflecken, schmelzenden Kerzen, verformten Votivgaben aus Wachs. Eingefaßte und überdachte Rinnsale. Wandelhallen, bevölkert von Kindergruppen aus einer mißlungenen, schneelosen Winterfreizeit.
Auf den Straßen alte Leute, die bereits begannen, ihre Rückseite zu vernachlässigen. Ein Mann, dem das Taschentuch aus der zerbeulten Hosentasche hing. Eine Frau, vorne gut gekämmt, die Haare am Hinterkopf nicht frisiert. Mila ging hinter ihr her, sah direkt auf die kahle Stelle in den schütteren Dauerwellen, die noch flachgelegen waren von der Nacht.
Sie hatte sich erhofft, die Musik Chopins schwebe lautlos in den Straßen, wenigstens eine Ahnung, ein Hauch. Aber es gelang ihr nicht, sich auf Chopin zu konzentrieren, nicht einmal, sich sein Regentropfen-Prélude in Erinnerung zu rufen.
Statt dessen Löwenchöre: Hic sunt leones. Die Schneehaufen am Wegrand waren nur unwesentlich geschrumpft, überall rann und rieselte es, Gesang der Löwen, Gähnen und Brüllen der Löwen, Knurren und Schnurren, ihre unaufhörlichen Katzengeräusche, ihre großangelegte Katzensprache, die sich im Tropfen und Rauschen fortsetzte; eine Warnung, nicht zu nahe zu treten. Nicht versehentlich in diese Auflösung zu geraten, die sich überall ausbreitete, sich heimlich in den Dingen fortsetzte, in den Schaukeln und Turnstangen auf dem Spielplatz, die ihre Konsistenz nur vortäuschten. In der Rutsche aus verblichenen Kunststoffteilen. Dem alten Kletterglobus aus Metallstangen in den Primärfarben. Dem vergessenen Gurkeneimer im Sand. Niemand spielte hier. Alles war naß.
Es taute draußen. Taute demonstrativ. Der kalte Krieg war vorbei. Es gab einen Reiseboom in die Landstriche in Europas Osten, in denen man die verlorenen Zeiten wiederzufinden hoffte. Dieser Kurort lag ganz in der Nähe des Ortes, in dem ihr Vater geboren war. Hier war Tante Sidonia aufgewachsen, hier hatte das Großelternpaar gelebt, das aus der Familienbilanz hatte herausgerechnet werden müssen.
Mila hatte sich vorgestellt, in dieser Gegend etwas zu finden, eine Stimmung, einen Anblick, Gründe vielleicht für ihr ständiges Unbehagen, das der neugewonnene Frieden nur neuerlich in sie einfließen ließ. Es durchsickerte Generation um Generation: ein unscharfes Schuldgefühl, eine nagende Unruhe, die sich auf nichts zurückführen ließ. Jetzt war sie an der Reihe, Erinnerungen zu bergen und zu tilgen, mit den Versehrungen zurechtzukommen. Aber ihr war ja nichts geschehen. Niemand hatte ihr jemals ein Haar gekrümmt, und es war unredlich, sich beeinträchtigt zu fühlen.
Sie wanderte durch zerfließende Wege zur Papiermühle, zur Sommerrodelbahn. Ging am Nachmittag durch Rinnsale und Sturzbäche zu ihrer Unterkunft zurück, stopfte Zeitungspapier in die Schuhe, hängte die Strümpfe über die Heizung, stellte sich unter die glühendheiße Dusche, bis sie krebsrot angelaufen war.
Nachts schien es ihr, als fahre sie fort, im Dunkeln zu tappen, im Trüben zu fischen, sie sah Wasserspeier vor sich, die das Wetter von damals erbrachen, sie sah ein unruhiges Glitzern, aber es gelang ihr nicht, dieses Geglitzer zu einem Bild zusammenzufügen.
Sie ließ die Hand über den Rand des Bettgestells hängen, hielt in der Faust einen von Odilos Schnürsenkeln, hielt daran wie ein Kleinkind auch im Schlaf noch fest. Er zog sein anderes Paar Schuhe an und ging leise hinaus.
Er ertrug es nicht, neben ihr zu liegen, wenn sie schlief. Sie schien sich ihm dann entzogen zu haben, sie war weit entfernt, seinem Einfluß nicht zugänglich.
In der ersten Nacht hatte er sie mehrmals geweckt. Er sagte nicht, daß es ihn verrückt machte, wenn sie ihn allein ließ, schlafend. Er legte sich dicht zu ihr, er hatte sie wachgeküßt, und er küßte sie kurz darauf wieder wach.
Er schlief nicht mehr, während meine Schwester immer mehr schlief, als müsse sie ihre Energie aus höheren Sphären ziehen. Tagsüber ging sie umher wie in Trance. Er weckte sie nicht mehr so oft, er durchquerte nachts den Park, marschierte zum dunklen Brunnenhaus, hielt im kalten Himmel nach Sternschnuppen Ausschau.
Als er zurückkehrte, betrachtete er lange, wie sie sich in die Decken eingerollt hatte, streichelte ihre Strickjacke, die über der Stuhllehne hing, ließ die Perlknöpfe durch die Finger gleiten.
Im Halbschlaf beobachtete sie, wie er sich leise auszog, sich neben sie legte. Sie beobachtete ihn mit geschlossenen Augen, lauschte auf jedes kleinste Geräusch, beobachtete ihn mit dem ganzen Körper, horchte mit der Haut. Sie wartete darauf, daß er sie mit schüchternen Berührungen zu wecken suchte.
Danach versuchte er, als erster einzuschlafen. Sie mußte ihm versprechen, wach zu bleiben; solange wach zu bleiben, bis sie hörte, daß sein Atem gleichmäßiger ging.
Er schlief ein, und sie drehte sich zur Seite.
Kurz darauf, es schien ihr kurz, sie war gerade erst weggedämmert, küßte er sie wieder wach. Seine Augen weit aufgerissen und starr, er sah sie und sah sie nicht. Seine Bewegungen routiniert, und doch auf eine erschreckende Art ungelenk. Er griff nach ihr und griff daneben, tastete nicht im Dunkeln, tastete nicht wie blind, sondern griff ganz selbstverständlich nach ihr, griff neben sie und knetete die Bettdecke. Erst wollte sie seine Hand nehmen und an die richtige Stelle führen, aber dann kam sie ihm entgegen, rückte dorthin, wo er seltsam mechanisch weiterknetete, als sei sein Körper nicht imstande, einen einmal begonnenen Bewegungsablauf zu stoppen.
Erst als er sich wegdrehte, begriff sie, daß er schlief. Noch immer schlief, daß er die ganze Zeit geschlafen hatte, aufgerissenen Auges.
Sie sprach ihn am Morgen nicht darauf an, nicht beim Frühstück in der Gaststube mit Schlesischen Würsten und hohen Blechkuchenwürfeln, nicht während sie den Mantel anzog, den Hut aufsetzte, sich das Haar an den Schläfen zurechtstrich zum Gang durch den Ort, zum Jungbrunnen, wie sie es scherzhaft nannten; sie bat ihn nicht, mitzukommen.
23 Die Folgen — Fallgeschichten 2
Ruhekissen
Niemand hat begriffen, wie es ihm gelang, die Schwangerschaften vollständig zu übersehen. Sie war nicht gertenschlank, von daher konnte ein weiter Pullover einiges kaschieren. Daß die Nachbarn keine besonderen Veränderungen bemerkten, läßt sich erklären oder zumindest ertragen. Den Eltern und Schwiegereltern, zu denen regelmäßiger Kontakt bestand, die sie am Wochenende besuchte, mit denen sie täglich telefonierte, hätte etwas auffallen müssen. Selbst wenn sie keine Notwendigkeit sahen, den sehr veränderlichen Körperumfang ihrer Tochter oder Schwiegertochter zu kommentieren, wenn sie es vorzogen, an Diäten und gescheiterte Diäten, an ein immerwährendes Diätprogramm und den Jo-Jo-Effekt zu glauben, gibt es doch in einer solchen Situation auch etwas, was über den Augenschein hinausgeht, einen psychischen Ausnahmezustand, einen weiteren, wenn auch ungeborenen, Menschen im Wohnzimmer, dessen Anwesenheit man verdrängt. Doch auch diejenigen Personen, mit denen sie auf engstem Raum in einer kleinen Mietwohnung zusammenlebte, die beiden pubertierenden Söhne, der Kindsvater, wollen nichts gesehen und auch nichts gespürt haben, kein verändertes Verhalten, kein morgendliches Erbrechen im Bad, kein stumpfer werdendes Haar, kein verbessertes Hautbild. Von pubertierenden Söhnen wird man eine solche Aufmerksamkeit nicht unbedingt erwarten, sie sind in diesem Alter mit sich selbst beschäftigt. Oliver Weichhals jedoch, der Erzeuger dieser Söhne, versetzte durch seine Fähigkeit, die eigene Frau aus seinem Bewußtsein auszublenden, auch die Fachwelt in Erstaunen. Zu seiner Entschuldigung wird angeführt, er sei berufsbedingt die meiste Zeit abwesend gewesen. Allerdings hielt er sich, von der meisten Zeit einmal abgesehen, die übrige Zeit in der gemeinsamen Mietwohnung auf. Er betrat nach einigen durchgehenden Arbeitstagen, an denen er auswärts übernachtete, die heimatliche Wohnung, die beengt war, dünnwandig, eine pappwandige Wohnung, die dazu zwang, innere Wände hochzuziehen als Ersatz, die ihre Bewohner zu akustischer Abstumpfung nötigte, ihr Revierverhalten irritierte. Er kam in der Dämmerung nach Hause, den Schlüssel kämpferisch vorgestreckt, er stieß ihn ins Schloß, markierte die Garderobe mit seinem Mantel, besetzte die Couch, scheuchte die Söhne vom Fernseher weg in ihr Zimmer. Die Söhne pubertierten in einem winzigen Zimmer mit Etagenbett. Jeder besaß eine Schreibtischhälfte, eine Schrankhälfte, die Lage war erträglich, weil sie sich, wie ihr Vater, die meiste Zeit außer Haus aufhielten. Sportbedingt pflegten sie eine überwiegende Abwesenheit, aber wenn sie, wie jetzt, in der Wohnung waren, wurde Oliver Weichhals sofort nervös. Sein Adamsapfel schnellte vor, er zog die Schultern hoch, ballte die Faust in der Tasche. Seine Ehefrau hantierte in der Küche. Ein Gemüsemesser tackte auf das Plastikbrett, Salatbesteck stieß an die Glasschale, die Dunstabzugshaube heulte. Die Kochgeräusche verschmolzen mit dem Fernsehton, und er blendete alles zusammen aus, horchte darauf, was die Söhne im Pubertätszimmer trieben. Seine Hand hatte sich geöffnet und spielte mit den Kordelfransen, die grüngolden am Couchrand herunterhingen, die aalglatt durch die Finger rannen, eingedreht wie weiche Korkenzieher.
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