Als sein Freund zurückkam, hatte der plötzlich eine Frau, und es war aus. Ihm blieb nur ein Blumenstrauß, apricotfarbene Rosen mit Schleierkraut, den er im Oktober zum Geburtstag bekommen hatte. Über Kopf aufgehängt, sorgsam getrocknet und wieder in die Vase gestellt, stand der Strauß auf dem Wohnzimmertisch und staubte ein.
Es schnürte ihm die Brust, aber er wollte nicht wieder heulen, nicht mitten im Park. Er sammelte die Hamster in seine Jackentasche und nahm sie mit nach Hause. Sie konnten vorläufig im ausgedienten Aquarium wohnen.
Er hatte das Aquarium mit Sägespänen und Holzwolle befüllt, in die sich die Hamster eingruben. Er konnte sie durch die Glaswand schlafen sehen: eingerollt, mit winzigen rosa Pfoten, zuckenden Näschen, hauchdünnen Lidern, ein niedlicher, ein zerbrechlicher Schlaf.
Das erwachsene Weibchen war schon wieder trächtig. Als der Wurf kam, schien es ihm besser, die älteren, schon halbwüchsigen Jungen von der Mutter zu trennen. Er kaufte ihnen einen Hamsterkäfig mit Laufrad. Manchmal stand er nachts auf und sah ihnen zu, wie sie darin liefen. Es rührte ihn, daß sie sich vergeblich Mühe gaben, liefen und liefen ohne Ziel. Sie erreichten nichts, und er empfand Sympathie für sie, er fühlte sich ihnen nahe, fast hätte er gedacht: verwandt.
Die Hamster vermehrten sich unerwartet schnell. Nach drei Wochen trugen bereits die Jungen, die er im Park gefunden hatte, nach drei weiteren Wochen die Kleinen, die im Aquarium geboren waren. Er kaufte einen größeren Käfig, aber bald benötigte er mehr Behälter, so daß er zu improvisieren versuchte. Holzkisten oder Pappkartons kamen nicht in Frage, die Tiere fraßen sich durch. Putzeimer kamen in Frage, große Einmachkessel, stabile Plastikkisten mit hohem Rand. Er stellte bereit, was sein bescheidener Haushalt hergab. Versorgte die Hamster mit Futter. Wechselte die Einstreu, wenn auch seltener als zu Beginn. Dann gelang es dem ersten Tier zu entweichen.
Von Anfang an hatten die Hamster, die nicht im Laufrad liefen, unablässig Versuche unternommen, die Wände hochzugehen. Schon im Aquarium waren sie mit Anlauf gegen das Glas gesprungen, hatten zwei Schritte in die Höhe gemacht, um dann abzurutschen und wieder unruhig mit den anderen zu wimmeln. Sie rannten und sprangen die ganze Nacht, und er bedeckte das Aquarium vorsorglich mit einem Kuchengitter, beschwerte dieses mit einem Topf.
Jetzt hatte es einer von ihnen, Kurt Koch wußte nicht wie, geschafft, sich hochzukatapultieren und die Wand des Putzeimers zu überwinden. Er hatte sich unter die Spüle geflüchtet und sich dort, hinter dem Vorhang, zwischen den Putzmitteln versteckt, ein Gewohnheitstier, dachte Kurt lächelnd. Es gelang ihm nicht, ihn wieder einzufangen, und er setzte ihm in zwei Untertellern trockene Maiskörner und Wasser hin.
Der freilaufende Hamster nagte alles an. Kurt Koch stellte seine Schuhe hoch. Rollte den Teppich ein und brachte ihn in den Keller. Hängte den Staubsauber in einer gewissen Höhe auf. Mit den eckigen Plastikkästen baute er eine Mauer um seinen Wohnzimmerschrank. An seinen Zimmerpflanzen hing er nicht. Sie waren, las er nach, nicht giftig. Sie verschwanden über Nacht.
Nach drei Monaten fand er das Muttertier aus dem Park tot im Käfig. Er fühlte sich schuldig, wußte aber nicht, was er falsch gemacht hatte. Er wußte nicht, wie alt Hamster werden. Er wußte nicht, wohin mit dem Kadaver. Meinte, etwas vom Abdecker gehört zu haben, dem so ein Haustier nach Beendigung des Lebens abzugeben war. Tote Haustiere nur beim Tierarzt entsorgen, raunte es in ihm, niemals in den Hausmüll, auch nicht einfach irgendwo eingraben, Tierfriedhof allenfalls, raunte es, aber auch das würde Gebühren kosten. Er legte das tote Weibchen auf Holzwolle in einen Schuhkarton und stellte ihn vorläufig irgendwo ab. Er war froh, wenn es ihm gelang, in Zukunft das Futter für die immer noch wachsende Schar zu bezahlen. Dreihundert Hamster versorgte er inzwischen. Er bewohnte zwei Zimmer. In jedem Raum, auch in der Küche und im Bad, Dutzende Hamster. Nachts lag er oft wach, weil die Tiere in ihren Behältern tobten. Sie rasten und kletterten. Beschäftigten sich unentwegt mit Flucht. Bissen um sich und fauchten. Bissen einander tot. Die, die entkamen, fraßen sich durch die Fußleisten und schliefen tagsüber in verborgenen Hohlräumen des Gemäuers. Nachts nahmen sie Futtergaben entgegen, verschwanden wieder im Abseits, vermehrten sich dort.
Aus der Wohnung von Kurt Koch begann es zu riechen. Er hatte die Kontrolle über die Population, ihre Kopulationen und Ausscheidungen verloren; der Linoleumboden in der Küche war mit einer dicken Schicht Sägespänen bedeckt. Darin eingegraben lebende und tote Tiere, verlassene Nester, gefüllt mit Spelzen und reiskorngroßem Kot. Die feuchten Stellen trockneten nicht mehr.
Kurt tat noch immer sein Bestes. Er gab sich Mühe, die Versorgung zu gewährleisten, aber er sah nachts nicht mehr gerne, wie sie im Rad liefen, er war erschöpft.
Die Nachbarn bemerkten lange nicht, daß die ersten Goldhamster die Wohnungsgrenzen überwunden hatten. Das nächtliche Rascheln, die Fraß- und Kotspuren führten sie auf Mäuse zurück, Ärgernis genug. Aber eines Morgens fand Frau Schulze einen Hamster in der Mausefalle.
Als das Tierschutzamt kam, war er ehrlich gekränkt. Er hatte sich eingeschränkt. Hatte getan, was er konnte. Nun wurde ihm bedeutet, er habe auf ganzer Linie versagt.
Einstreupackungen stapelten sich die Wand hoch. An vielen Stellen war die Plastikhülle aufgebissen, die Streu rieselte heraus. Hamster hatten sich Gänge in den Turm gegraben.
Die Wohnung wurde geräumt. Man nahm alle Hamster mit. Schaufelte die Streu weg, riß das zerfetzte Linoleum heraus. Für die Tiere, die sich in den Wänden versteckt hielten, engagierte der Vermieter einen Kammerjäger. Die Möbelböden vollgesogen mit Urin: Auch die Möbel mußten entsorgt werden. Mit den Möbeln verschwand auch der Trockenstrauß. Oben auf dem Wohnzimmerschrank, wo die Hamster nicht hinreichten, hatte er sich gehalten, gänzlich eingestaubt, verschrumpelt und hart. Ein Mitarbeiter vom Amt hob ihn herunter, zog auf dem Weg zu den Müllsäcken schwebende Spinnenfäden hinter sich her.
Die Wolkenformel
Mechthild Pech beschäftigte sich seit frühester Jugend damit, das Phänomen der Wolke in seiner materiellen Dimension zu erfassen. Nachdem sie schon im Kinderwagen den Blick stets in die Höhe gerichtet hatte, dem Flug der flauschigen und majestätischen Gebilde mit besonderer Zuneigung folgend und begeistert speichelnd, wenn Gewitter aufzog, legte sie bald ein imaginäres Raster über den Himmel, das ihr eine Antwort auf folgende Frage ermöglichen sollte: Welches Volumen muß eine Wolke aufweisen, um eine bestimmte Literzahl abzuregnen? Ihr ganzer Ehrgeiz lag darin, Geschwindigkeit, Größe und Wassergehalt unserer flüchtigen Gefährten zu berechnen, um mit Hilfe dieser Angaben die Niederschlagsmengen exakt vorherzusagen.
Mechthild Pech war seit frühester Jugend zu intelligent für ihre Umgebung und erregte schon im Kindergarten den Neid ihrer gleichaltrigen Artgenossen. Die Kinder hänselten sie, schlossen sie von gemeinsamen Spielen aus, weil sie bei Spielen, die zu gewinnen waren, immer gewann, sie nahmen ihr die Malstifte weg und bewarfen sie im Sandkasten mit Sand. Mechthild Pech war schon bald intelligent genug, ihre Mitschüler nichts mehr merken zu lassen. Sie absolvierte die Schulzeit äußerst unauffällig. Sie wandte sich den passenden Jungen zu, sie lief Marathon, sie verfolgte die Eishockeyturniere. Je älter sie wurde, desto mehr trug ihr Äußeres dazu bei, daß sie gut zurechtkam. Mechthild Pech aus Mecklenburg, dunkelhaarig, drahtig, besaß das strenge Gesicht einer musisch und gärtnerisch interessierten Hausfrau, und niemand hätte ihr ein mathematisches Vermögen zugetraut, das über die vergleichende Addition der Posten auf ihrem Einkaufsbon hinausging.
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