Da innerhalb der hierarchischen Struktur unserer Anstalt die vornehmste Übung darin besteht, auch ohne weißen Kittel, rein mittels Haltung die Autorität zu wahren, erliege ich allein aufgrund der Tatsache, daß mitten im Schloß mein Bett steht, einer reputationszerstörenden Peinlichkeit. Die Autorität liegt nicht. Sie liegt niemals. Wer liegt, ist tot. Nicht einmal Christus am Kreuz liegt, er liegt auch nicht im Grab, folgerichtig. Das Grab ist leer. Einzige Ausnahme: ägyptische Gottheiten. Diese werden liegend abgebildet, insofern sie zwar tot sind, aber dieser Tod als relativ aufgefaßt wird, als kurze Passage, gewissermaßen als Initiation. Die liegenden Gottheiten werden behandelt, gesalbt, sie wechseln damit auf der Stelle vom Gottheiten- zum Patientenstatus. Auffällig auch das Möbel, auf dem sie sich in diesem Zustand befinden. Heutzutage würde man es als Seziertisch bezeichnen, oder auch, ohne weiteres, als Couch.
Dieses Couchgefühl, hier, ausgestreckt im Herzen des Schlosses, im Unort des Bettes, zwingt mich zur Verschärfung meiner ärztlichen Fähigkeiten. Hier ist mir auferlegt, einen Mittelpunkt zu bilden. Frau Dr. Z. hält dies für das A und O der ärztlichen Kunst: einen Mittelpunkt bilden, an dem die Patienten sich ausrichten können.
Als Chefin führt sie dieses Kunststück immer wieder mit unerhörter Selbstsicherheit vor. Die Patienten hängen, einen gewissen Mindestabstand vorausgesetzt, in Trauben an ihr, weichen ihr nicht von den Fersen. Sie hat keine Zeit für sie, läßt sich auf kein Gespräch ein, aber die meisten finden bereits in ihrem Anblick Zärtlichkeit, Erleichterung und Rat.
Ich muß davon ausgehen, daß dergleichen auch von mir erwartet wird. Nicht alle Aufgaben im Schloß werden ausgesprochen. Vieles setzt Frau Dr. Z. stillschweigend voraus. Alles, was mit Format zu tun hat, mit Charakter. Mit Fähigkeiten wie Takt und Einfühlungsvermögen, die schwer zu messen, schwer zu bewerten, schwer zu überprüfen sind.
Mir persönlich ist das Mittelpunktbilden nicht immer angenehm. Oft wäre es mir lieber, eine etwas randständigere Position zu bekleiden. Allein die Patienten beharren darauf, sich an mir zu orientieren, mein Tun und Lassen nachzuahmen, die Räumlichkeiten, in denen ich mich bewege, mit Vorliebe ebenfalls aufzusuchen.
Ein eigenwilliger Wunsch nach Nähe führt so manchen ausdrücklich in die Richtung meines Schlafzimmers. Gestern erst, als ich mich in der Mittagspause für einige Zeit zurückziehen wollte, stand Herr P. neben dem Kühlschrank im Korridor, die Hand an der Brille studierte er das Logogramm, als ließe sich anhand der Kühlschrankmarke Entscheidendes auch über mich erfahren. Bei meinem Kühlwunder handelt es sich um den Haushaltskühlschrank Kristall 63 aus dem VEB Deutsche Kühl- und Kraftmaschinen Scharfenstein, ein Modell mit futuristisch gerundeten Ecken, über die Herr P. gleich anerkennend strich. Als er meiner gewahr wurde, nickte er befriedigt, wich aber nicht von der Stelle. Ich schlüpfte in mein Zimmer, quetschte mich genaugenommen durch einen allzu schmalen Türspalt, um Herrn P. keinen Einblick zu ermöglichen, schloß die Tür ein wenig zu schnell, ein wenig zu laut.
Es gibt, soweit ich weiß, keine Regel, die es den Patienten untersagt, sich tagsüber in den Fluren des Schlosses aufzuhalten. Sie drücken sich, selbst wenn sie keine Therapiestunde haben, immer wieder vor meinem Büro herum, mischen sich unter die Wartenden. Aber besonders mein Schlafzimmer zieht sie an. Sie sonnen sich dort vor der Tür im Glanz meiner Abwesenheit. Tagsüber nehmen sie meine nächtliche Präsenz vorweg, was dazu führt, daß ich mich des Nachts von ihnen behelligt fühle. Ich weiß, sie träumen von mir. Ich träume von ihnen. Das Schloß kreist um mich.
Ich wälze mich auf den Rücken, ziehe die Bettdecke noch einmal bis zum Kinn. Der Morgen dämmert heran. An meinen Plafond ist ein Himmel gemalt, blaßblau mit goldenem Sternendekor, der seine besten Zeiten hinter sich hat. Unter dem schimmeligen Blau zeigt sich wie aufkommende Bewölkung der Putz, die Sterne versinken in Schäbigkeit. Doch stammen sie aus einer Periode, in welcher man davon ausging, das selbstverständliche Zentrum Europas zu sein. Und während Europa längst in gleichberechtigte Staaten auseinanderfällt, in mäßig gefärbte Einzelsterne, die um ein leeres Zentrum kreisen, während der geographische Mittelpunkt Europas nach unterschiedlichen Berechnungen entweder in Polen, Hessen, Litauen oder Tschechien liegt, also einem Wanderpokal gleichkommt, halte ich es für eine meiner Aufgaben, diesen Himmel zu beruhigen, zu hypnotisieren, mich zu ihm in Bezug zu setzen, für diesen Himmel ein Zentrum zu sein. Es geht darum, sich auf einen Punkt zusammenzuziehen, sich zusammenzunehmen und gleichzeitig locker zu lassen, sich auszudehnen und alle Ausdehnung zu überstrahlen. Es geht darum, zugleich allen Raum einzunehmen und keinen. Ich bemühe mich nach Kräften, einen Mittelpunkt zu manifestieren, einen einzigen Punkt aus beliebigen gleichgültigen Punkten hervorzuheben, ihn zu einem besonderen zu machen, zu mir.
Ich suche mir einen der schäbigen Sterne aus. Ich vertiefe mich in seine Farbigkeit, in das alte Gold, das mit den Jahren einen rotzgrünen Ton angenommen hat. Ich möchte mich mit diesem Gold identifizieren, Voraussetzung für alles Weitere, es fällt mir schwer.
Du, meine Seele, versuchst den festen Punkt in dir zu finden, das Zentrum stubenhockerischer Geheimniskrämerei, doch da ist nur die gloriose Weite des Himmels, in welcher die weißen Gewohnheiten, grauen Gewohnheiten wandern. Uns fehlen die züngelnden Strahlen, die als Akte der Willkür von unserm Haupt ausgehen. Uns bleiben Gedanken unklarer Zuordnung, wahllose Gedanken, die gewöhnlich von einem zum andern driften, sich einnisten, rasch wieder fortfliegen.
Und du, meine Seele, ein Ort ohne Maß, jener Stern, der sich in seinem eigenen Glanz verliert, ein himmlischer Körper, in dessen Glanz sich die Welt wieder auflöst.
Die Sterne sind durch ein gemaltes Gitterwerk verbunden, welches eine ausschweifende Räumlichkeit andeutet, Sphären. Dort erhebt sich die geistige Schöpfung, hierarchisch angeordnete Chöre, wie ich sie im Religionsunterricht auswendig lernen mußte; Gott am nächsten die Seraphim, brennend vor Liebe, ihre sechs Flügel von Augen bedeckt, dann die Cherubim, angefüllt mit Weisheit; sie besitzen vier Flügel und vier Angesichter, eines nach jeder Seite, und in ihrem Gefolge drehen sich vier Räder ineinander, die sich ebenfalls zu allen Seiten wenden und alles zu sehen vermögen. Throne und Herrschaften, Mächte, Gewalten, Fürstentümer. Die Bezeichnung Fürstentümer schien mir immer etwas manieriert, fehlübersetzt, warum nicht einfach Fürsten. Ganz hinten oder unten, jedenfalls in größter Entfernung, was auch geistig oder seelisch, ganz unräumlich gemeint sein kann, lobpreisen Erzengel und Engel, sie alle von schäbigen Sternen verdeckt; Sterne, die ich mich bemühe, im Geiste lodern zu lassen, sie zu befeuern, zu bewegen, sie gänzlich auf- und schließlich am Firmament untergehen zu lassen. Verantwortung: Mir obliegt es, den gesamten Apparat in Gang zu halten. Doch du, meine Seele, und ich, wir können nur versuchen, den Anschein zu wahren, können bloß vorgeben, den Mittelpunkt zu bilden in ruckweise, unwillkürlich vergehender Zeit, in jenem problematischen Raum, der jeder Stelle die Last aufzwingt, Drahtzieher des Universums zu sein.
Die Ohnmacht des Himmels, mit Posamenten behängt. Und wieder beginnend die harte Arbeit am Weltlichen, trauriger Traum vom Tage, enthaltend Frau Dr. Z. und Herrn P., enthaltend meine Schwester Mila und Herrn Leonberger, Odilo. Der Morgen ist da.
Draußen Nebel, in dem blaß die Parkbäume schweben. Nebel draußen heißt, es wird auch drinnen alles eingenebelt sein, die Patienten den ganzen Tag über wie in Watte, undeutlich zu sehen, schlecht verständlich, unter der Watte verkorkst. Draußen Flügelschläge, das Schwanenpaar landet im Teich, reckt die Hälse über das gilbe Gras an der Uferböschung, wartet stoisch auf die ersten Pfleger, die ersten Patienten, die die Lust ankommt, mit ein paar Brotstücken in der Tasche um den Teich zu wandeln. Das Füttern der Schwäne ist strengstens verboten. Wohl handelt es sich hier meiner Ansicht nach um eine läßliche Regel, immerhin aber um eine Regel, die Frau Dr. Z. persönlich aufgestellt hat. Ich gebe vor, nicht zu bemerken, daß sich niemand daran hält. Die Patienten zweigen bei den Mahlzeiten systematisch Brotscheiben ab. Frau X. geht so weit, in ihrer Handtasche eigens eine Plastiktüte mitzuführen, um die Tasche vor Krümeln zu schützen, wenn sie morgens die Kanten, die sie nicht mag, und die Rinden, die sie sich abschneidet, vom Teller mit einem Schwung in ihren Schoß schaufelt, wo schon die Tasche ihr Maul aufreißt. Ich werde Frau Dr. Z. nicht in den Rücken fallen, aber ich halte die Schwanentherapie für sinnvoll. Die Patienten üben sich in Fürsorge, in Beschwichtigung, sie wollen die Schwäne auf jeden Fall über den Winter bringen, wie sie sie schon bequem über den Sommer gebracht haben, wollen sie an sich binden, wollen im Frühjahr flaumige graue Schwanenküken sehen, kurz und gut, sie setzen hohe Erwartungen in ihre Krümelwürfe, und sobald die Schwäne dazu ansetzen, ein paar Bröckchen aus dem Wasser zu fischen, schlagen sie auch schon freudig die Hände zusammen und sehen ihre Erwartungen erfüllt.
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