Demonstrativ klimperte ich mit meinem Schlüssel. Die Dame versicherte mir, mein Freund sei nicht hier gewesen.
Essen Sie das noch?
Ja, sagte ich. Meine Stimme klang bärbeißig.
Ich ließ den Teller stehen und lief über den Platz zurück in den Wald. Nach ein paar Metern hatte ich die Taschentuchhäufchen hinter mir gelassen. Ich ging bis zur großen Wegkreuzung vor und setzte dort, obgleich es nicht kalt war, meine Kapuze auf. Trockene Tannennadeln rieselten mir in den Nacken, ich setzte die Kapuze wieder ab und versuchte, Kopf zum Weg gesenkt, die Nadeln aus dem Hemd zu schütteln.
Der eine Weg führte ins Tal, der andere zu einem Wanderparkplatz. Ich schlug den Weg zum Wanderparkplatz ein, sah aber schon von weitem, daß dort ein Bauwagen stand. Dürftigkeit dieses Bauwagens. Die Kanten mit rotweißem Warnanstrich versehen, hinter halbgeschlossenen Fensterläden eine Gardine, der Schornstein ein langstieliger Pilz, der aus den mausgrau gestrichenen Brettern wuchs. Mobiles Zimmer, in dem, wie es hieß, blutjunge Prostituierte gewöhnlich die Freier empfingen.
Hier zeigte sich wieder das Dichtbesiedelte des Rheinlands. Kein Punkt, an dem nicht ununterbrochen Wandergruppen, Außendienstmitarbeiter, Warentransporte querten, kein Punkt, an dem man mit sich und dem Wald allein sein konnte, an dem nicht fortwährend Leute Gebiete besetzten, an dem die sogenannte Waldeinsamkeit auch nur in Ansätzen vorhanden gewesen wäre.
Ich gab die Suche auf, ich kehrte um.
Sorgen. Leere. Luftflimmern. Ein warmer Abend, wie aus der Zeit gefallen.
Abendrot brach durch den Wald. Rotdornrot, ein verfliegendes, unwirkliches Rot vermischte sich mit dem Weißdornweiß des Tageslichts. Der Tag schwand. Odilo nicht aufzufinden. Ich dachte an ihn aus weiter Ferne, wie wenn man sich an einen Traum erinnert, zu erinnern sucht, von dem nur noch ein Gefühlsrest, kein Bild mehr da ist. Odilo ein blinder Fleck, eine Unschärfe in meinem Leben.
Was wollte ich von ihm?
Er verhielt sich nicht wie ein Freund. Er war nicht verläßlich. Und, gewissermaßen, nicht handhabbar.
Odilo war der ortloseste Mensch, den ich kannte. Eigentlich wußte niemand, was er den ganzen Tag tat. Seine Mutter konnte gelegentlich bestätigen, daß er sich in seinem Arbeitszimmer aufhielt. Ich rief an: Ja, hieß es, er sei zu Hause, er arbeite, er sei nicht zu sprechen. Nein, hieß es, er sei im Labor. Nein, hieß es, er sei verreist, da und da, sie wisse nicht genau, wann er zurückkehre, eigentlich auch nicht genau, wo er hatte hinfahren wollen, ein Vortrag, ein Symposion, eine Konferenz, er sei erwachsen, schulde ihr keine Rechenschaft.
Ein Mensch des alten Jahrhunderts, spießig, ordentlich, diszipliniert. Morgens saß er vor Sonnenaufgang am Schreibtisch, er benutzte ausgewählte Bleistifte und Füllfedern, obgleich seine Arbeit ihn mit modernster Computertechnologie konfrontierte, er hing an altmodischen Gepflogenheiten wie dem Fünfuhrtee, er verabscheute das Fernsehen und die kommunistische Partei. Ein Mensch des alten Jahrhunderts, dem dieses Jahrhundert wegbrach.
Er pflegte ein Leben in Zurückgezogenheit. Er machte sich rar. Wenn man ihn traf, vermauerte er sich in ein Gedankensystem, an dem man keinen Anteil hatte. Wenn man ihn traf, befand er sich in Gedanken anderswo. Eigentlich wußte man nie, wo er wirklich war.
Es wurde schon dunkel. Gleichgültige Rücklichter. Das Meer aus Lack und Chrom. Darin die Lichtwellen. Spiegelungen. Der Widerschein, in Kurven geführt.
Noch einmal auf diesen Parkplatz geschmuggelt der lange Atem ländlicher Sommerabende, wenn die Wetterlage eine Amphitheater-Akustik hervorbringt, als kämen die Geräusche, das Zwitschern und Zirpen, aus weiter Ferne und doch aus dem eigenen Innern. Ich irrte zwischen den tabernakelhaft verschlossenen Wagen umher, zwischen den Blenderbergen aus Alaskablau und Balticblau, aus Baikal metallic und Persischblau, Pasadenablau, Labradorblau, glitt durch Polarweiß und Polizeiweiß und Candyweiß, Alpinweiß und Firnweiß, durch ernste Tönungen von Nachtschwarz, Traumschwarz, Cosmosschwarz. Diamantschwarz. Lackierungen in Lachssilber, Rauchsilber, Nepalsilber; Titansilber oder Tizianrot, oder Postrot und Imperialrot, die eleganten Nuancen von Perlgrau und Atlasgrau, Ascotgrau, Wolframgrau. Fahrzeuge in Stratusgrau bedeckten als tiefe Bewölkung die Fläche, sie erinnerten, Memoryrot, an das wissende Ich, sie bedienten, Manilagrün, eine Sehnsucht nach Flucht.
Ich irrte durch ihre luxuriöse Größe und Farbstrahlung, ihre geheimnislose, alles verdeckende Gleichförmigkeit, irrte durch ihre abstoßende, penetrante Schönheit.
Ich interessierte mich nicht für Automobile. Ihre Heckspoiler und Spitzkühler, ihre Leistung, ihre Geschwindigkeit ließen mich gleichgültig. Ich interessierte mich ein wenig für ihre Lichtkanten und Abrißkanten, für die Charakterlinie, die das Fahrzeug modelliert, für die Dachlinie, die es in seiner Höhe, und die Gürtellinie, die es in seiner Bodenhaftung definiert, ich verfolgte gerne die Fensteröffnungslinie, an der der Materialwechsel von Blech zu Glas erfolgt, und die Kammlinie, die Wannenlinie, die Stromlinie. Ich mochte die Bombierung, die Wölbung, mit der sich ein Blech über das Nichts spannt, und mir gefielen Kühlerfiguren. Grundsätzlich aber interessierte ich mich für abwesende, für unauffindbare Automobile, ich interessierte mich hauptsächlich für ihre Abwesenheit.
Auch Odilo interessierten sie nicht die Spur. Er kaufte sich in seinen letzten Jahren Neuwagen, er glaubte es seinem Status oder seiner Mutter schuldig zu sein, aber die Modelle begeisterten ihn nicht. Wir waren Dilettanten.
Ich trat an den Parkplatzrand, dicht ans Gebüsch. Aus dem Gebüsch stiegen leuchtende Punkte, Glühwürmchen, die ich gerne berührt hätte. Ich versuchte, eins mit der Hand zu haschen, aber es gelang mir nicht, es zu fangen.
Ich setzte mich ins Auto und konzentrierte mich auf die eckigen Ziffern meiner Digitaluhr. Die Balken sprangen um und um und formierten sich zu immer neuen Zahlwerten, zu einem Schlag-auf-Schlag, zum Gang der Dinge.
Ich stellte einen Fuß auf den anderen, saß in armseliger Verlegenheit wie als Junge, wenn die kleinen Mädchen, Freundinnen meiner Schwester, mich nicht mitspielen ließen.
Ich war beleidigt, und ich war gern beleidigt. Ich suhlte mich in diesem Beleidigtsein.
Ich wollte gar nicht, daß er wieder auftauchte, ich wollte ihn nicht entschuldigen, wollte mit böser Lust, daß er mir übel mitspielte, mich ausnutzte und überging. Je länger ich auf ihn wartete, desto strahlender wurde meine moralische Überlegenheit.
Sorgen? Ich glaubte nicht, daß ihm etwas passiert war, nicht einmal, daß er sich verirrt hatte. Er war vielleicht abgelenkt worden. Es störte ihn nicht, mich warten zu lassen.
Peinigend allenfalls: durch dieses Beleidigtsein eine Verbindung mühsam aufrechtzuerhalten, die von seiner Seite aus nicht existierte. Das Unverbindliche unserer Beziehung erinnerte mich an den Hall auf Klinikgängen, an die leeren Flure mit ihren Linoleumböden und der sachlichen Beleuchtung. Odilo versetzte mich, und es gab mir einen Vorgeschmack, wovon?
Ich schaltete den Verkehrsfunk ein und lauschte dem Reden von Unfallstellen, Umleitungen, Krankenwagen und Stau, lauschte dem Knarzen und Knistern in einer Stimme, die davon unberührt blieb.
Fast wünschte ich, daß ihm etwas passiert wäre, damit nicht alles auf die Mißachtung meiner Person hinausliefe, aber dann wünschte ich wieder, es sei ihm nichts passiert, und zwar nicht, damit ihm eben nichts passiert war, sondern damit ich ihn ins Unrecht setzen konnte und mich, beleidigt, ins Recht.
Auf einmal war ich überzeugt, daß er bereits seit einer gewissen Zeit alleine Erlkönige jagte. Daß er regelmäßig in den Wald fuhr. Ohne mich zu fragen, ohne mich einzuladen.
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