Auf dem Weg zum Frühstück nehme ich einen Seitengang. Es ist mir lieber, wenn ich den Patienten, den Pflegern, den Kollegen nicht bereits auf nüchternen Magen begegne. Nach dem Essen können sie kommen, vorher halte ich mich für angreifbar. Aber an der Treppe, wo sonst kein Mensch entlangläuft, holt mich jemand ein.
Sie gehen so krumm, sagt die Stimme der Kindsmörderin, und sie hat recht, ich lasse die Schultern hängen, zur Krise gekrümmt.
Seit der Beerdigung ist mir etwas entglitten, und ich gehe leicht vorgebeugt, den Blick zu Boden gerichtet, als suchte ich etwas, einen kleinen Gegenstand, den ich verloren habe, aber ich erinnere mich nicht genau, was es ist.
Sie gehen so krumm, lieber Altfried, sagt die Kindsmörderin, und ich blicke auf, um sie zu begrüßen, aber ich kann sie nicht sehen. Ich sehe ihre Schuhe, die vor mir den Gang entlangschlurfen, weiße Turnschuhe, die sie immer trägt, aber merkwürdigerweise nur ihre Schuhe. Dort, wo sich der restliche Körper hätte befinden müssen, scheint mir ein helles Tuch zu hängen, etwas Undurchdringliches, das mit dem grellen Neonlicht im Treppenhaus verschmilzt.
Etwas Blasses, entsetzlich Langweiliges, zutiefst Unauffälliges umgibt sie oder vielmehr steht vernichtend über ihren Schuhen, ich bringe es nicht fertig, genauer hinzusehen. Ich erinnere mich statt dessen an die letzte Therapiestunde, sie hatte zu den weißen Turnschuhen eine enge Jeans und einen rosa Pullover mit V-Ausschnitt getragen, die Füße ordentlich nebeneinandergestellt, die Knie geschlossen, eine Musterschülerinnenhaltung eingenommen, die Hände gefaltet. Auch da war es mir nur mit Mühe gelungen, ihr Äußeres überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Eine Aura von Verhuschtheit und Graumäusigkeit umgab sie, man interessierte sich nicht für sie, es kostete Kraft, ihr zuzuhören, und was sie sagte, schrieb ich automatisch auf, ich hörte es kaum und vergaß es sofort.
Ich betrachte die weißen Turnschuhe, die zaghaft die Treppenstufen nehmen, und bin nicht sonderlich überrascht. Sie besitzt gleich mir die Fähigkeit, die Energie aus ihrem Körper in einem ungewöhnlichen Ausmaß herauszunehmen oder einzukapseln, die Energie, die ein normaler Mensch ausstrahlt, so sehr zu dämpfen, daß sie sich praktisch ausblenden kann. Es schockiert mich keineswegs, denn eine solche dramatische Selbstverleugnung ist aus der Logik ihres Falls heraus verständlich, und es schockiert mich doch, denn wenn sie schon in der Lage ist, sich so sehr zurückzunehmen, daß sie nur noch aus Treppenhauswand besteht, warum kann sie das dann nicht bis auf die Schuhe ausdehnen? Die Sache mit den Schuhen ist eine fragwürdige Symptombildung, aufmerksamkeitsheischend, plakativ, sexualisiert, ebensogut hätte sie es so einrichten können, daß man nur ihre Vagina sieht. Die Sache mit den Schuhen alarmiert mich, ich folge den Schuhen die Treppe hinab.
Es gibt unauffällige Menschen, die leicht übergangen werden, es gibt Ereignisse, an die sich kein Zeuge erinnert, es gibt Ladengeschäfte, die man partout nicht bemerkt, auch wenn man täglich an ihnen vorbei muß. In unserer Straße hatten wir lange ein solches Geschäft gehabt, einen Uhren- und Juwelierladen. Weder meine Schwester noch ich haben ihn je bemerkt. Manchmal wiesen uns Mitschüler darauf hin, aber wenn wir auf unserem Schulweg daran vorbeigingen, war die Stelle, an der er sich befinden mußte, wie ein graues Loch. Einmal sollte ich die Armbanduhr unserer Mutter zur Reparatur dort abgeben, ich lief immer wieder die Straße hinauf und hinab, bis ich schließlich den Eingang fand, es war das erste Mal, daß ich den Laden wahrnahm, aber danach gab es dort wieder nur diese Farblosigkeit, von der man den Blick unwillkürlich wegwandte. Manchmal hatte ich mir vorgenommen, speziell darauf zu achten, wenn ich das Haus verließ, aber an jener Stelle war ich jedesmal von anderen Eindrücken, wichtigeren Gedanken abgelenkt. Es lag an diesem Laden, seinen Betreibern: Er strahlte nichts aus. Bei solchen Fertigkeiten, wie zum Beispiel Kundschaft anziehen, handelt es sich stets um eine Art unbewußte Magie, die wir alle tagtäglich ausüben. Jedes Managertraining hat zum Ziel, diese Magie bewußt zu machen, sie zu verstärken und damit zu arbeiten. Erfolgreiche Manager können ihre Ausstrahlung, wenn es darauf ankommt, vervielfachen. Andere haben, bewußt oder unbewußt, gelernt zu implodieren, sich so zusammenzuziehen, daß sie unbemerkbar sind. Die Kindsmörderin hat diese Eigenschaft für sich ausgenutzt, oder sie hat, wer will das sagen, darunter gelitten.
Mir fehlt die Kraft, den Blick zu heben, dorthin, wo ihr Gesicht wäre. Was würde man dort sehen? Sie hat ihr Neugeborenes im Eisschrank tiefgefroren, ich weiß, ihr Gesicht ist glatt, als wäre nichts geschehen.
Ich halte mich am Treppengeländer fest und zwinge mich, sie anzusprechen. Ich wünsche ihr mit lauter Stimme einen guten Morgen, sie zuckt zusammen, enthüllt eine senfgelbe Bluse, einen felsgrauen Rock, fleischfarbene Perlonstrümpfe, sie wendet sich zu mir um, ihre Augen stehen vor, wie bei einer Flunder, die sich mit winzigen Flossenbewegungen in den Sand eingegraben hat, die sich nicht durch die geringste Regung, nur durch die Elektrizität, die von ihr ausgeht, verrät.
Ich saß in der unruhigen Luft vor dem Parkplatz der Raststätte und wartete auf ihn. Odilo war mir im Wald aus den Augen gekommen, wir hatten uns verloren, und nach einer ganzen Weile des Rufens und Suchens war ich zum Parkplatz zurückgekehrt. Das Lärmen im Wald hatte der Jagdaktion sofort jegliche Unauffälligkeit genommen: sinnlos, an diesem Tag weitere Bemühungen anzustrengen. Ohnehin hielt ich den Tag nicht für ideal, im Grunde hielt ich ihn für ungeeignet, ein Spätsommertag, klar und warm, aber Odilo hatte auf dem Ausflug bestanden, er wollte nicht vom Wetter abhängig sein.
Der weiße Plastikstuhl, auf dem ich mich niedergelassen hatte, ratschte unangenehm über den Vorplatz der Imbißstube, er knarrte bedrohlich, sobald ich mich bewegte, ich bewegte mich also nicht. Nur die Arme wagte ich zu rühren; ich zersäbelte, stocksteif bis zum Hals, einen von drei Reibekuchen in millimeterkleine Schnitzel. Trennwände aus Bastmatten schotteten die Gastronomiefläche seitlich ab. Zum Parkplatz hin beschränkte lediglich ein Rundholzriegel auf Kniehöhe den Durchgang. Ich trank eine bittere Limonade und atmete ungesunden Tankstellengeruch. Tiefflieger donnerten über den Wald und zerschnitten das heuchlerische Blau des Himmels, ein Blau, das federnd auf dem warmen Asphalt auflag, sich mit den Düften von Harz und Benzin vermischte. Sie donnerten über den Wald, dessen Eingang hinter der Tankstelle lag, ein stinkender Trampelpfad, von zerknüllten Papiertaschentüchern gesäumt.
Warum auch hatten wir ausgerechnet hier starten müssen. Streßdurchzitterte Auffahrten. Neuankömmlinge warfen rücksichtslos Wagentüren zu. Lastwagenfahrer schwangen sich in ihre hochgelegene Kabine, auf den wippenden Straßenthron. Sie zogen königlich Schlieren über den Parkplatz und setzten ihre elefantösen Wege fort.
Ich kaute mechanisch auf winzigen Kartoffel- und Zwiebelstückchen, kaute daran schon seit geraumer Zeit, als mich von hinten die Bedienung ansprach. Ob mit dem Essen etwas nicht in Ordnung sei. Es mir nicht schmecke.
Ich versicherte ihr, das Essen sei tadellos. Ob sie zufällig meinen Freund gesehen habe. Ich beschrieb ihr Odilo, hilflos, wie man jemanden beschreibt, der keine besonderen Merkmale aufweist und auf dessen Kleiderwahl an diesem Tag man nicht geachtet hat.
Was hatte er an? — Er hatte halt irgend etwas an. Eine Hose. Eine leichte Jacke. — Das treffe praktisch auf jeden ihrer Gäste zu. Jeder Gast an diesem Tag komme in Hose und leichter Jacke herangerauscht, schlinge etwas in sich hinein und steige wieder ins Auto. — Ich betonte, daß es genau um diesen Punkt gehe. Mein Freund sei ohne Auto hier. Er sei mit mir mitgefahren. Und ich nähme ihn auch wieder mit zurück.
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