Das Tonband. Sie ließen dieses grauenhafte Tonband laufen, entsetzliche Schreie, tief aus dem Erdinneren dringend, in Abständen dumpf und dann ganz schrill quieckend, als ob da zwischendurch Ohnmachten stattfanden. Und dann wurde es noch dunkler und es gab kein Zurück — aber man hatte es ja so haben wollen, für seine drei Pfund.
Da war ein Fenster, ein viereckiges Loch in der Wand, durch das man in einen der tiefgelegenen Kerker sehen konnte. Da rang eine arme Frau die Hände, die Füße hatte man ihr gequetscht und den Mund mit einer Eisenbirne verschraubt. Ich fühlte meine gesträubten Haare, ich glaube, es lief sogar eine mechanische Ratte umher. Zwei Stunden Kerkerhaft und ein lebenslänglicher Dauerschaden des Besuchers.
Oh, es waren auch bildungswerte Dinge zu bewundern, Heinrich den Vierten in seiner Mission, den Iren die Köpfe abzuhacken, das Totenbett Richards des Ersten, William den Vierten mit den Pocken, Edgar den Dreizehnten als Büßer mit entfernter rechter und linker Hand, die spektakuläre Hinrichtung von Perkin Warbeck, alles lebensgroß. Für die Hinrichtung gab es einen eigenen Raum, in dem schreckliche Geräusche, Knirschen und Reißen zu hören waren, und der Geruch angesengten Fleisches. Offen gestanden, weit mehr hatten mich die authentischen Werkzeuge beeindruck, obwohl sie Imitationen waren, nehme ich an, die Stockeisen, die Blöcke, die Zangen und Zwingen, ja, auch die Prügelmaschine — oh ja, deren Gebrauch konnte ich nachvollziehen, ein Kasten, der nur den blanken Hintern freigab. Gut nachvollziehbar. Dazu bröselten die alten Ziegel von den Wänden und vom Gewölbe tropfte das Sickerwasser, ein großes Szenario damals und, mit der neuen Adresse, ein ebenso großer Verlust heute. Wahrscheinlich haben sie jetzt den ganzen Dauerschaden für Schulklassen aufbereitet und entsprechend entfettet. Sie kriegen ja alles hin und werden auch noch den Rest der Welt ruinieren. Meine Meinung.
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So wird es nicht sehr verwundern, wenn ich jetzt mit dem Schlüssel in der Hand von der London Bridge kommend in die Buck Street einbiege.
Fünf Wochen lang hatte diese Bahntrasse, beziehungsweise der unterirdische Teil derselben, bestehend aus acht gemauerten Gewölbebögen samt Durchbrüchen zum Verkauf gestanden, regulär auf dem Immobilienmarkt, regulär als Immobilie. Natürlich ohne Heinrich den Vierten und Richard den Ersten. Zu übernehmen waren lediglich noch einige feste Einbauten wie Schafotte und Gitterkäfige. Übrigens auch der «grüne Mann», den hatten sie nicht mitnehmen wollen.
Das Objekt hatte ja einige Tücken aufzuweisen, mangelnde Lüftung, mangelnde Lichtverhältnisse, Mauerschwamm, gehobener Geräuschpegel durch durchfahrende Züge und auch sonst alle möglichen Verwerfungen, alle geeignet, den geforderten Preis auf ein Minimum zu drücken. Denn wir wollen uns nichts vormachen, es würde einiger Größe bedürfen, sich hier unter den gegebenen Umständen häuslich einzurichten.
So hatte ich denn am Ende und nach zähen Verhandlungen nur noch einen einzigen Opponenten, der Kontra bot, eine Abfallverwertungsgesellschaft, der die Finsternis nichts auszumachen schien, die dann aber doch den freien Himmel vorzog, irgendein gestaltloses Gelände in Canningtown. Naja. Ich hatte mich ernstlich gewundert, daß ich überhaupt noch etwas bezahlen mußte. Im Endeffekt.
Und zu meiner eigenen Überraschung: Ich hatte den «London Dungeon» gekauft regulär als Immobilie auf dem Immobilienmarkt. In London. Also sieht man mich an diesem schönen Londoner Abend einen Schlüssel hervorziehen und die schwere Eisentür aufschließen. Als letztes sehe ich noch die Sonnenkringel an der gegenüberliegenden Hauswand und habe das Ding-Dong, Ding-Dong im Ohr, das Lied der Verzweiflung, als ich nun meine Unterwelt regulär als Eigentümer betrete.
Gleich vorne steht der «grüne Mann», riecht etwas streng, wahrscheinlich ist die Holzwolle innen stockig geworden. Ich horche in die Tiefe, wo ein entferntes Wassertropfen hörbar ist, sehr entfernt, das ganze Ausmaß verdeutlichend. Als Beleuchtung gibt es hier nur eine einzelne bescheidene Birne oben an der Decke, die nicht sehr hilft, das Dunkel zu erhellen, nächstens werde ich rote Lampions anbringen. Ich gehe einen Schritt und noch einen Schritt, Eintritt brauche ich nicht zu zahlen, noch einen Schritt — und dann klickt die Gittertür hinter mir ins Schloß. Und zwar laut, das erzielt dann einen zusätzlichen Schaden.
Habe ich das vergessen. Diese «Schleuse» gehörte auch noch zu den abzulösenden Einbauten (ohne Figuren). Ein Gitterraum mit zolldicken Gitterstäben und je einer Tür vorne und einer hinten, die automatisch ins Schloß fallen, wenn der Besucher hindurchgeht. Damit sollte wohl vermittelt werden, wie es sich anfühlt, wenn die Tür ins Schloß fällt. Für immer und ewig. Zur Anschauung steht da noch die Streckbank im Raum, mit Seilzügen an den vier Ecken.
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Aber ich sehe, daß ich die Geschichte von hinten aufziehe. Als Anfang sollten die Brüder Karamasow auf dem Bahnhof Paddington ihren Auftritt haben. Nachmittags um fünf Uhr von der Underground kommend, auf den Platz vor der großen Anzeigetafel einbiegend, wo man auf die Anzeige für den Zug nach Bath wartet. Genauer gesagt, lauert. Denn sie bringen die Anzeige immer ganz knapp, zwei Minuten vor Abfahrt des Zuges, und jeder rennt. Ich sehe also die Brüder kommen — sie hatten sicherlich nicht die Underground, sondern ein Taxi genommen, die Stände sind gleich nebenan —, und denke noch, das ist lächerlich dicht, wie mir die Brüder auf den Fersen sind, und woher wollen sie wissen, daß ich nach Bath fahre. Während mir zum soundsovielten Mal aufgeht, wie lächerlich es ist: Immer einen Schritt zu kurz und immer einen Schritt voraus. Wie ein Wettlauf zwischen Achill und dem Lahmen, mit dem der Mathematiklehrer die Differentialrechnung zu erklären versucht. Achill läuft zehnmal so schnell wie der Lahme, dieser hat zehn Schritt Vorsprung. Aber wenn Achill diese zehn Schritt bewältigt hat, ist der Lahme einen Schritt weiter. Bewältigt Achill diesen einen Schritt, ist der Lahme eine Handbreit weiter — bewältigt Achill auch diese Handbreit, ist er einen Fingerbreit weiter … wie man weiß, erreicht Achill den Lahmen nie. Wenn es auch nur eine Haaresbreite ist. Die Annäherung im Unendlichen, so ungefähr darf man sich mein Verhältnis zu den Brüdern vorstellen. Eine einzige Katastrophe.
Ich weiß, woran es liegt. Ich gebe ihnen Hinweise, die eben keine Hinweise sind. Ein zerknitterter Fahrschein hier, ein Wort zum Nachtportier da, eine Mütze am Haken, keine Mütze am Haken, zwei hinterlegte Postnummern. Nicht, daß ich sie ihnen gebe — im Gegenteil, ich bin ja von krankhafter Vorsicht erfüllt —, aber irgendwie gebe ich sie ihnen doch. Katz und Maus, ich die Katz oder sie die Katz?
Jedenfalls habe ich sie auf ausreichende Weise durch ganz London geführt, immer mit einer Buslänge Vorsprung. Zu den Stoßzeiten kann man sich sogar zum nächsten Bus vorhangeln, wenn er vor dem roten Licht steht, zum nächsten und übernächsten, die da aufgereiht stehen, die 15ner, die 23er, 40er, im großen Stillstand um fünf. Ich habe die Methode studiert und beherrsche sie, meine Brüder Karamasow aber eben nicht. Am Aldgate kurz hinter Bloom’s hatten sie mich verloren, das heißt, ich sie, und mußte zurückstoßen, fand die beiden mit hängenden Köpfen an der Haltestelle vor Bloom’s (best kosher Restaurant west of Suez) und mußte sie erst einmal wieder in Gang bringen — zumindest bis Limehouse Corner und wieder zurück.
An der London Bridge allerdings verlor ich sie dann endgültig — oder sie mich. Aber die Brücke begeht man zu Fuß, wobei die beiden langen gebogenen Gehwege wenig Deckung bieten, das heißt, gar keine. Deshalb hilft nur schnelles Laufen bis zur London Bridge-Station, und zwar blind, ohne sich umzusehen, und wie ich mich am Ende umsehe, sind da auf der ganzen langen Strecke keine Brüder mehr vorhanden. Nun gut, immerhin hatte ich ihnen die Richtung aufgezeigt, sollten sie gefälligst selber sehen, wie sie zurechtkamen.
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