Ich weiß es.
Also schwinge ich mich, und sie schwingen sich über die Handläufe, mit unseren Schiebermützen, an sich nichts Ungewöhnliches in Warschau, trotzdem erfahren wir den ganzen Unmut der Bevölkerung. Wir werden gestoßen und geschlagen, sie möglicherweise mehr als ich, weil sie zwei sind. Weil sie ununterbrochen sich auszuweisen bemüht sind. Ich werde dann am Ende der Rolltreppe abgeführt, so geschehen am helllichten Tag auf dem Wroclav Bahnhof vor einer Menge, die es eigentlich hätte besser wissen müssen. Daß sich die Angelegenheit dann als ein Mißverständnis herausstellte, ändert für meine Person nichts an der Tatsache — man hatte mich mit meiner Mütze für einen Betrüger, einen gewissen Irkuts gehalten, für den in der Bahnhofshalle eine Falle aufgestellt worden war. Man verhörte mich auf einer gelbgefliesten Polizeiwache gleich hinter den Toiletten.
«Bist du besoffen?»
«Eigentlich nicht.»
«Was hast du dich dann über die Handläufe zu schwingen, bist du besoffen?»
Was sollte ich dazu sagen.
«Falls es sich noch nicht herumgesprochen hat, hier herrscht Ordnung in Polen!»
*
Die Mützen übrigens, solche wie ich eine getragen hatte, sind signifikant, obwohl rund im Schnitt, irgendwie unverantwortlich eckig gefaltet, auf eine unverantwortliche Weise. Das Ergebnis ist denn auch wenig Vertrauen erweckend. Kein Wunder, daß man mich für einen Betrüger gehalten hatte.
Athen.
In Athen herrscht auch mehr Ordnung als man denkt, obwohl ich wenig darüber aussagen kann. Der Fisch wird hier mit Zimt zubereitet, bei Hitze sehr angenehm. Und in den Altstadtläden kann man kleine Blechbrunnen kaufen, die, an die Wand gehängt, aus kleinen handgefertigten Messinghähnen Wasser spenden. An sich sehr hübsch, wenn sonst nur braune Brühe aus der Leitung kommt. Das griechische Konfekt hat auch seinen Stellenwert, auch die nett gelispelte griechische Sprache, aber eigentlich weiß ich nicht, was ich hier überhaupt zu suchen habe.
Ich hätte den Zug nach Istanbul nehmen sollen, denn dort wartet ein Hotel auf mich, ein ganz und gar verschwiegenes aus Vaters Zeiten. Wir hatten dort einmal übernachtet, als uns Vaters Tätigkeit noch weit herumführte. Ich erinnere mich deutlich. Es bestand aus einem engen Hofschacht, auf den sämtliche Luftzufuhr mündete, eine erstickende Angelegenheit, Fenster zur Straße gab es keine. Im Beyoglu Viertel. Soweit ich mich erinnere, gehörte es einem Herrn Güllül Pascha, jedenfalls war das der Name des Hotels. Wir verbrachten nur eine Nacht, und am Morgen wachten wir vergiftet auf, mein Vater noch mehr als ich, mit Kopfschmerzen und Übelkeit auf der Straße, offenbar hatte sich die mangelnde Sauerstoffzufuhr mit dem Zimt im Fisch (nein, das ist griechisch) vereint, sagte mein Vater, und beklagte sich bei Herrn Güllül. Dabei war er selber schuld. Denn hier nun wird die ganze Tragweite deutlich: Das Hotel gehörte meinem Vater! Ja, du hörst richtig, eine seiner obskuren Anlagen, irgendwie hatte er ja auch sein eigenes Geld waschen müssen, soweit er es als seines betrachtete.
Und hier nun kommt die zweite Überraschung: Jetzt gehört es mir!
Das Güllül Pascha im Beyoglu Viertel.
So mir nichts, dir nichts, tut mir leid, werde es aber trotzdem nicht aufsuchen, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit.
*
Also doch Warschau. Ankunft ein Uhr nachts. Ich habe dreizehn Stunden Bahnfahrt hinter mir, in den letzten beiden mit dem Kopf in ständiger Schwebe. Jeder Platz ist besetzt, ich habe Schwierigkeiten, meine Beine unterzubringen, weil mein Gegenüber, ein starker alter Mann mit einem Eßkorb auf den Knien, zwar ißt, aber dennoch schläft und seine Füße unter meinen Sitz stellt. In Ziadoz, kurz vor Warschau, wacht er auf und blickt wild um sich, seinen Korb habe ich seit einer halben Stunde festgehalten. Wer weiß, wohin diese Leute alle wollen, es ist entmutigend. In dieser Nacht. In diesem Zug, wo draußen eine lichtlose, nasse Landschaft vor dem Fenster heult, das sich anscheinend nicht ganz schließen läßt. Gott sei Dank sitze ich nicht in Fahrtrichtung, so daß es mich nicht direkt anbläst. Das Paar direkt am Fenster sitzt vereint unter einem Mantel und die Dame im Tangokleid neben mir (sehr polnisch übrigens) hat sich in eine pflaumfarbene Flauschdecke gehüllt. Dann ist da noch ein junger Mann, Schauspieler, wie er wiederholt behauptet, er sieht aber nicht unzuverlässig aus, und eine rothäutige Frau, die nach einer starken Seife riecht, auch sehr polnisch. Ich selber, nur noch fröstelnd, weiß nicht, ob ich das hingekriegt habe, das richtige Bild, jedenfalls reise ich mit einem schweinsledernen Pappkoffer, den ich nachher irgendwo stehen lassen werde.
Warschau, Wroclav-Bahnhof, nachts um eins.
Unter der schwachen Bahnsteigbeleuchtung sind ganze Schicksale versammelt, sitzen auf abgestelltem Gepäck und warten, worauf, auf den Zug nach Lodz. Junge, immer noch hübsche Bräute in ganz billigen Blusen und dünnen Mänteln. Soldaten mit eigenartig geformten Kappen, die anscheinend durch kleine Pappdeckel viereckig gehalten werden, mit einem Gestellungsbefehl nach Rzeszow in der Tasche, die meisten schlafend. Und die Gruppe Wanderarbeiter aus der Gegend von Olsztyn, etwa zehn oder zwölf, auch in tiefem Schlaf. Einige haben sich direkt auf das Pflaster gelegt, auf Zeitungen oder Pappen, und die Entmutigung ist auch bei der schlechten Beleuchtung des Bahnsteigs sichtbar.
Ich stelle mir vor, wie ich nun völlig erschöpft ebenfalls dort sitzend oder liegend die Nacht verbringe. In der Zugluft, im leisen Sprühregen, inmitten krächzender Rangiergeräusche und frierender Soldatenbräute. Stattdessen bin ich aber weitergegangen, dorthin, wo sich am Ende des Bahnsteigs dieser mit ein paar Stufen im Dunkeln verliert. Wo sich das Gelände der ehemaligen Eisenbahner Darlehenskasse Masowinia erstreckt. Dort gibt es eine Kohlentür in der Mauer, braunfleckig und wahrscheinlich seit Jahrzehnten festgerostet und nicht mehr in Gebrauch. Und dennoch gibt es da einen gut geölten kleinen Schlitz in dem Rost (mit Geld ist alles zu erreichen), in den nun mein Schlüssel paßt, ich glaube, man hatte es fast geahnt.
Das Licht empfängt mich, der leichte warme Holzgeruch, Musik aus «Hotel Costes», es ist sogar vorgeheizt. Und wenn ich den Schrank öffne, hängt dort dieser wunderbare lehmgelbe Mantel, den ich in Dijon — war es Dijon? — hatte zurücklassen müssen. Es ist kein Gelb, es ist eine schattige Herbstfarbe, und ich hatte damals gleich den ganzen Satz gekauft. Zahnbürste auf dem Toilettensims — man ahnt —, perlmuttartig mit dem Lichteffekt. Während draußen das Brummen eines der neuen schweren Fernzüge schwach angeschlagen zu hören ist. Ich darf sagen, beim besten Willen, also beim allerbesten Willen kann mich hier niemand finden, besser, also besser kann sich kein Mensch auf dieser Welt verbergen. Das darf ich einmal erwähnt haben.
*
Und warum gibst du ihnen nicht, was sie haben wollen, ich meine, warum gibst du es denn nicht einfach her?
Weil, lieber Freitag, weil es mein Erbe ist!
– –
Um das es sich hier handelt.
– –
Das, was mein Vater mir vererbt hat!
Und was ist das?
Es sind fünf Zahlen und vier Buchstaben.
Nun, wieviel ist es, ich meine: W i e v i e l?
Frag nicht.
Ich habe sogar erwogen, meinen Wohnsitz ganz auf die Schienen zu verlegen, auf eine rollende Bahnmeisterei sozusagen, eine permanente Schlafwagenreservierung, möglicherweise sogar zwei Abteile nebeneinander. In früheren Zeiten wäre das ohne weiteres möglich gewesen, als die Bahnlinien noch private Unternehmungen darstellten. Da wurden ganze Salonwagen an die regulären Züge gehängt, ganze Palast-Suiten für die Eigner solcher Extravaganzen. Doch auch heute gibt es noch Exoten, die Kontingente ihres bewegten Bahnraums verkaufen. Auf Jahrzehnte. Zum Beispiel auf der Strecke Bombay — Malabarküste, oder, noch ausgedehnter, Istanbul — Teheran — Karatschi, danach Bangkok — Singapur, auf der sogenannten Goldenen Route. Die, zwar im ganzen nicht durchgehend, mit angehängten Kurswagen dennoch besteht. Hin und zurück zwei Monate, zu Monsunzeiten sogar drei Monate. Ich sehe da ein feines kleines Kompartment in teefarbener Seide und teefarbener Täfelung mit der Perlmuttzahnbürste im Bad, Musik «Hotel Costes», während draußen dunkle Tempelstädte vorbeifliegen.
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