Als sie in der Schule Kabale und Liebe für die Abschlussfeier einstudieren, erhält sie die Rolle der Lady Milford. Sie lernt ihren Text mit Hingabe, probt immer wieder vor dem Spiegel. Sie wünscht sich, Ferdinand wäre in sie verliebt und nicht in Luise, die natürlich von Conny gespielt wird. Ferdinand ist im wirklichen Leben ein Junge aus der Parallelklasse, der dem amerikanischen Sänger Dean Reed ähnelt, für den sie schon eine ganze Weile schwärmt. Statt seiner scheint sich der Sekretär Wurm für sie zu interessieren, ein Bauernjunge mit dunklen Haaren und einem melancholischen Gesicht, der in der Schule drei Reihen vor ihr sitzt. Sie hat Ludwig, der Ludi gerufen wird, nie attraktiv gefunden, aber nun, da sie für ihn in Frage kommt, betrachtet sie ihn genauer. Er hat breite Schultern, trägt Pullover mit Lederflicken am Ellbogen, und er wird von den anderen Schülern geachtet. Ludis Eltern besitzen einen eigenen Bauernhof, sie haben Pferde, Kühe und Hühner. Seine Küsse sind zaghaft, ganz anders als die von Bernd, und als er einmal zufällig ihren immer noch ausgestopften BH berührt, wird er rot. Sie fährt mit ihm auf dem Moped durch die Dörfer, nachts wartet er vor dem Heim auf sie, und wenn sie in der Disco zusammen tanzen, hält er die Augen geschlossen. Doch dann ist er von einem Tag auf den anderen verschwunden. Sie erfährt, dass er eine seltene Blutkrankheit hat und in die Charité nach Berlin gebracht wurde. Erst durch seine Abwesenheit spürt sie, dass sie ihn mag, glaubt sogar, in ihn verliebt zu sein.
Ludi bleibt lange fort. Es ist längst Winter, ein knochenkalter Winter, die Schule fällt oft aus, weil die Heizung defekt ist. Die Lehrer verschieben die Proben für das Theaterstück auf den Frühling.
Mit der Schulklasse fährt sie nach Dresden in die Gemäldegalerie. Sie versucht vor den Bildern zu stehen, als wäre sonst niemand da, sie versucht dem Gekreuzigten sein Leid nachzufühlen. Vor der Sixtinischen Madonna verharrt sie in Bewunderung, und doch misstraut sie diesem Eindruck, ihre Bewunderung erscheint ihr wie vor sich selbst gespielt. Es bleibt eine Irritation, die fortan wie ein Irrlicht in ihr aufflackert.
Sie leiht Conny ihr Lieblingsbuch, Geliebte Söhne . Doch jedes Mal, wenn sie nachfragt, erklärt Conny, sie sei noch nicht dazu gekommen, das Buch zu lesen. Sie wirft Conny vor, sich nur für Jungs zu interessieren, sie verlangt von ihr, das Buch zu lesen, sie stellt ihr ein Ultimatum. Obwohl Conny es dann zu lesen beginnt, reicht ihr das plötzlich nicht mehr aus.
An einem Abend geht sie mit ihr auf den Hof, um eine zu rauchen. Die Luft ist von Regenschlieren durchzogen, das Fenster von Bernd glänzt dunkel, er hat sich für drei Jahre bei der Armee verpflichtet, und doch versucht sie, sein Zimmer hinter dem Glas zu erkennen, bevor sie zu reden beginnt. Als könnte er sie hören, wählt sie ihre Sätze mit Bedacht. Sie klagt ihre Freundin der Oberflächlichkeit an. Sie steht mit verschränkten Armen vor ihr und beendet mit pathetischen Worten ihre Freundschaft. Als Conny etwas entgegnen will, winkt sie ab, es ist vorbei, sagt sie.
Sie befreundet sich mit Sputnik, einem Mädchen aus der Parallelklasse. Sputnik ist die Schnellste im Langlauf, ein schmales, drahtiges Mädchen, nur Sputnik kann sich im Laufen mit ihr messen. Sie wohnt mit ihren sieben Geschwistern und ihrer verwitweten Mutter in einem windschiefen Haus an einem Bach. Dort treffen sich die größeren Jungs aus der Umgebung. Die meisten der Jungs machen ihre Lehre in der LPG, Sputniks ältester Bruder beendet gerade seine Lehre in einer Gärtnerei und will später Friedhofsgärtner werden.
Nach der Schule sitzt sie mit ihrer neuen Freundin am Ufer des Baches, nach und nach trudeln die Jungs ein. Das erste Frühlingslicht fällt auf ihre bleichen Wintergesichter, die sie hungrig in die Sonne halten, und dabei paffen sie Zigaretten, schnipsen die Kippen ins Wasser und beobachten, wie sie langsam davontreiben. Auch Mädchen sind dabei, sie kann sich ihre Namen schlecht merken, weil sie oft wechseln: Nicole aus dem Friseurladen, deren Arsch aus dem Rock platzt, Christa mit der fleckigen Haut, Regina, dreißig, also steinalt, noch eine Nicole, die nur zweimal kurz auftaucht.
Harry, einer der Jungs, nennt sie Heimkind. Na, du Heimkind, sagt er und meint es überhaupt nicht böse, er lächelt dabei, als wären sie vom selben Schlag. Jeden Freitag schmeißen die Jungs eine Party am Bach, egal, ob sie am nächsten Tag zur Schicht müssen oder nicht. Sie trinkt mit ihnen Bier, das in einer Blechwanne mit Eis lagert, und Bergarbeiterschnaps, der ihr beim ersten Schluck den Boden unter den Füßen wegreißt. Ihre Freundin Sputnik ist trinkfester, sie muss sich auch nicht ihre Schüchternheit wegtrinken, sie trägt Die Glocke von Schiller auf Sächsisch vor, und die Jungs lachen sich halb schlapp.
Sie kommt an diesen Freitagen immer viel zu spät ins Heim zurück, kreuzt erst gegen Mitternacht auf, von der übermüdeten Nachtwache erwartet, die sie wortlos in ihr Zimmer führt. Nach mehreren Verweisen bemüht sie sich, pünktlich zu sein. Harry bringt sie mit dem Moped, und sie lässt sich zum Abschied von ihm eine Kette machen, eine Kette aus Knutschflecken, die sie stolz am Hals trägt. Mehr lässt sie nicht zu, er darf sie nur küssen, nicht anfassen. Er schenkt ihr einen ausgekochten Hühnerknochen, ein Rippchen; für dich, du Heimkind, sagt er, und sie fragt sich, ob sie ihm vielleicht gefällt. Harry macht eine Fleischerlehre, seine Hände ähneln Riesenpranken, sie würde glatt in eine seiner Hände passen, er könnte sie damit umhertragen, einfach so.
Die Schulstunden verschläft sie oder albert herum, gibt im ernsten Ton Blödsinn von sich, und ihre Lehrer betrachten sie mit einem müden Staunen. Nur die Deutschlehrerin hält an ihrer Schülerin fest, sie sagt ihr eine große Karriere als Schauspielerin voraus. Diese Vorstellung schmeichelt ihr, doch sie fühlt, dass sie nichts mit ihr zu tun hat. Seit sie den Sportlehrer hat sagen hören, sie als Lady Milford sei eine Bohnenstange im Reifrock, hat sie keine Lust mehr mitzuspielen.
Im Frühsommer wird Ludi zwanzig Kilo leichter aus dem Krankenhaus entlassen. Sie ist erschrocken über seinen Anblick. Sie muss an den Gevatter Tod aus den Märchen denken, und wie der Ludi für zu leicht befinden würde, zu leicht, um am Leben zu bleiben. Als er zwei Wochen später stirbt, fühlt sie nur eine dunkle Beklommenheit, keine Trauer, und als sie versucht zu weinen, kommt sie sich unecht vor, wie eine schlechte Schauspielerin, die auf eine Zwiebel starrt, um loszuheulen.
Am letzten Schultag haben sich ihre Klassenkameraden eine Überraschung für sie ausgedacht: Auf ihrer Bank liegen eingewickelte Pausenbrote, Kuchen, Äpfel, eine Tüte voller Kirschen, Kekse, Bonbons, Schokolade — jeder hat ihr etwas mitgebracht, und sie beginnt langsam und gerührt unter den Blicken der anderen zu essen. Sie schafft alles, verschmäht nur die Schachtel mit den lebendigen Weinbergschnecken.
Die Schulprüfungen hat sie gerade so bestanden, außer der Deutschnote sind ihre Zensuren ziemlich mies. Sie wird eine Lehre als Rinderzüchterin beginnen, und die in ihrem Vertrag stehende Berufsbezeichnung Zootechniker/Mechanisator macht es auch nicht glanzvoller. Rinderzüchter wird nur, wer nichts Besseres bekommen hat.
Sie wird aus dem Heim entlassen. Tagelang haben sie über nichts anderes geredet. Sie sitzt mit den anderen im Bus, der sie in die Sommerferien und zu den Eltern bringen soll, und sie versichern einander, sich nie zu vergessen. Radatte will Schneiderin werden, und Mui geht weiter auf die EOS. Als sie am Hauptbahnhof aus dem Bus steigen, verabschieden sich die anderen eilig von ihr. Sie steht blinzelnd da, versucht ihre Tränen wegzulächeln. Was hat sie denn erwartet? Dass Radatte traurig ist, sie nicht mehr zu sehen, nicht mehr von ihr verspottet zu werden?
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