Uwe Tellkamp - Der Turm

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Hausmusik, Lektüre, intellektueller Austausch: Das Dresdner Villenviertel, vom real existierenden Sozialismus längst mit Verfallsgrau überzogen, schottet sich ab. Resigniert, aber humorvoll kommentiert man den Niedergang eines Gesellschaftssystems, in dem Bildungsbürger eigentlich nicht vorgesehen sind. Anne und Richard Hoffmann, sie Krankenschwester, er Chirurg, stehen im Konflikt zwischen Anpassung und Aufbegehren: Kann man den Zumutungen des Systems in der Nische, der "süßen Krankheit Gestern" der Dresdner Nostalgie entfliehen wie Richards Cousin Niklas Tietze — oder ist der Zeitpunkt gekommen, die Ausreise zu wählen? Christian, ihr ältester Sohn, der Medizin studieren will, bekommt die Härte des Systems in der NVA zu spüren. Sein Weg scheint als Strafgefangener am Ofen eines Chemiewerks zu enden. Sein Onkel Meno Rohde steht zwischen den Welten: Als Kind der "roten Aristokratie" im Moskauer Exil hat er Zugang zum seltsamen Bezirk "Ostrom", wo die Nomenklatura residiert, die Lebensläufe der Menschen verwaltet werden und deutsches demokratisches Recht gesprochen wird.

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Am nächsten Morgen, gegen vier Uhr, erwachte er nach einem schrecklichen Traum: Ein Alb hockte auf ihm, ein Laken-Dämon, der immer neue Tücher durch die Lüfte herbeirief und sich grinsend aufhuckte — dabei war nur Chakamankabudibaba ins Bett gekrochen und hatte sich auf seinen Bauch gelegt. Die Fensterscheiben trugen Eisfarne. Meno ging in die Waschküche. Die Wäsche war in den Zubern gefroren; er nahm die Holzkelle vom Waschherd, zerschlug die Eisschicht: Die Laken trieben wie gefrorene Stockfische in der Lauge. Zu früh, um den Herd anzuheizen; bleimüde kroch Meno noch einmal ins Bett, obwohl es ihn reizte, den neuen Nachbarn die rücksichtslosen Herausklopfereien heimzuzahlen, die widerwärtig siegesgewisse Rundfunkmusik, die Honichs Gymnastik begleitete, bevor er die Haustür zuschlug und sich zum Frühsport aufmachte. Aber auch einen Kampfgruppenkommandeur erschöpfte der Winter; nachdem die Kaminski-Zwillinge ebenfalls mit Honich in Streit geraten waren, nahm er wenigstens an den Wochenenden Rücksicht. Meno träumte, schlafen zu können … Chakamankabudibaba aber strich grummelnd ums Bett, und oben hörte Meno schon Libussa mit dem Kohleneimer für den Badeofen hantieren. Er träumte von der Waschküche … Sah die ochsenhaften, mit Ringbändern beschlagenen Waschzuber, noch vom Böttcher gefertigt in früheren Zeitaltern, Qualitätsware, die der Seifenfabrikant sich wohl schuldig gewesen war. Auf Holzböcken dräuten sie über dem Abfluß, der immer wieder verstopfte. Dann mußten die männlichen Hausbewohner mit langen Eisendrähten in der Finsternis darunter stochern, in der Hoffnung, daß die stehengebliebene Waschlauge dann zu den Hangrohren im Garten finden würde … Dorthin leiteten auch die Toiletten des Tausendaugenhauses ab, auch sie neigten zu Verstopfungen; Stahl hatte es Meno so erklärt: Liefen solche Rohre zu steil nach unten, verschwand zwar das Flüssige rasch, das Feste aber blieb liegen — und man mußte stochern. Dafür gab es, aufbewahrt im Gartenhaus, etwa fünf Meter lange Eisenruten mit Ösen, und als Hanna und Meno ins Tausendaugenhaus gezogen waren, hatte der Schiffsarzt einen kleinen Einführungskurs in die Tücken und Besonderheiten des Wohnalltags in einem seit Jahrzehnten unsanierten Altbau gegeben. Hanna hatte über die Waschküche nur ungläubig den Kopf geschüttelt, bis zur Heirat hatte ihre Mutter für sie gewaschen, sie wußte nichts von unzuverlässigen Wasch-»Vollautomaten«, nichts von winzigen Schleudern, in denen die Trommel hochkant stand, die mit zwei Handtüchern schon gefüllt waren und beim Stromgeben mittels Plastbügel, der wie ein Schallplattenabtaster über den Schleuderdeckel ragte, eine solche Unwucht entwickelten, daß das Gerät zu wandern begann, das Wasser aus dem Ablaufschnabel neben die Schüssel lief und die Schleuder sich selbst ausschaltete, indem sie den Stecker aus der Steckdose zog. Meno erinnerte sich, wie Hanna durch die Waschküche gegangen war. Der Waschherd, gemauert und mit eingelassenem Zinkbottich, mußte befeuert werden, Briketts und Holz dazu nahm jede Mietpartei von ihrem Kontingent. Es gab einen Legetisch, Kernseife in klobigen Würfeln, Packungen feinpulveriges Schneeberger Blau, das man der Wäsche, war sie vergilbt, nach der Komplementärfarbenlehre als Weißmittel zusetzte. Wenn man wusch, gab es Wrasen, den warmen, feuchtigkeitsgesättigten, wattig schlappen Dampf, der die Kleidung am Leib kleben ließ, das Atmen zum Kampf und die Küche zum tropischen Ort machte, Wrasen, der als Kochhitze aus dem Kessel brandete, wenn man, geschützt von Gummihandschuhen, den Holzdeckel lüpfte, um mit der Waschkelle (»Butterstampfer«, nannte sie Libussa) den 95 °C heißen Schleim umzurühren, in dem, lang, dünn und schön wie eine Schneiderelle, ein Stahlthermometer steckte. Es gab ein Waschbrett für Hemden und Unterwäsche; Meno träumte von schrubbenden Händen, an denen statt Seifenblasen Plektrons wuchsen, zum rhythmischen Schnarren beim Jazz … Unerbittlich senkte sich das Kreissägenkreischen des» заря«-Weckers in seine Betäubung.

Eine Woche später war die Wäsche gewaschen und auf dem Dachboden der Karavelle getrocknet. Meno und Anne hatten einen Termin für die Mangel bekommen, die sich neben der Dampfwaschanstalt, einem achtzigjährigen Fossil, in der Sonnenleite befand.

«Na, Herr Rohde«, lockte Udo Männchen in der Dresdner Edition,»brauchen Sie mal wieder einen Haushaltstag?«

«Sie haben gut reden«, wies Meno das Vergnügen des Typografen von sich,»Sie wohnen Dreiraum-Vollkomfort, und Ihre Frau kümmert sich um Ihre, na, Stoffe.«

Der Typograf trug jetzt weitärmelige Blusen mit Bündchen über den Handgelenken, selbstgeschneidert, selbstgenäht, Seide und Leinen kombiniert und farbenfroh wie die Flaggen von Entwicklungsländern.

«Was finden die Leute in der Zentrale nur immer an dieser Garamond. Warum nicht mal eine Baskerville wie bei der Virginia Woolf-Ausgabe, die Insel macht? Dreiraum-Vollkomfort! Sie wollen mich wohl veräppeln? Bei dem Stromausfall neulich war’s Dreiraum-Blindekuh! Ich sage Ihnen, da kommt einiges zu auf die Geburtskliniken in dieser Stadt.«

«Pösitiv, pösitiv«, meinte Miss Mimi in tapfer-entschlossener Kakteenumstachelung französischer Sehnsüchte.

«Haushaltstag? Herr Rohde, Sie sind, wie ich annehme, keine verheiratete berufstätige Frau, somit steht Ihnen ein Haushaltstag nicht zu«, bedauerte Josef Redlich.»Sehen Sie, auch ich, obwohl ein runzelreicher Karrenzieher, muß Urlaub nehmen, wenn mir die Wäsche über den Kopf wächst. ›Die Täfelchen von Schokolade und Arsenik, worauf die Gesetze geschrieben sind‹, Heft D.«–

Entferntes Knirschen in der Morgendämmerung, gemischt, als Meno und Anne von der Rißin die Sonnenleite bogen, mit dem Poltern von Kohlen, die der Lehrling der Bäckerei Walther in die Schubkarre schaufelte, mit dem Brummen eines Trafohäuschens, dem Raspeln der Eiskratzer auf den Auto-Windschutzscheiben. Das Knirschen kam näher, strahlig vom Lindwurmring, der Rißleite, von der unteren Sonnenleite her; bald erkannte Meno dunkle, mühsam näher stapfende Flecke: Frauen des Viertels, die an diesem Dienstag wie Anne Haushaltstag hatten und die Wäsche auf Leiterwagen zur Dampfwaschanstalt brachten. Sie kamen näher im grauwelligen Schnee, allmählich lösten sich die hellen Flecken der Gesichter aus den dunklen der Rümpfe (die Mäntel reichten bis übers Knie, die klobigen Stiefel versanken im Harsch, dem die wenigen, weiß brennenden Laternen das Aussehen von Papier gaben; Schneeschieber und Winterdienst würden später zu arbeiten beginnen); jener breitschulterigen, vermummten, geschlechtsneutralen Rümpfe, die, wie von einem Magneten gezogen, dem imaginären Schnittpunkt ihrer Wege zustrebten (es schien die Bäckerei Walther zu sein, die ab sieben Uhr Semmeln verkaufte, schon jetzt hatte sich eine Warteschlange gebildet), sich zu einem Schattenpfeil finden würden, der auf die Waschanstalt zielte. Die Frauen nickten Grüße, sprachen noch nicht. Das Knirschen war ein akustischer Fremdkörper in der Morgenstille, Meno dachte: ein verrosteter Stab, durch ein Fell gerieben; unangenehm, als zerrte es schlechte Träume aus der Nacht in den Tag hinüber: Es war das Geräusch der Leiterwagen, in denen die Frauen ihre Wäsche transportierten, der in trockenen Lagern schmirgelnden Holzräder, die mit Eisenspangen beschlagen waren, bei manchen Wagen fehlten Viertel- und halbe Kreise dieser Kutschenrad-Beschläge, oder es hatten sich die ungeschlachten Vierkantnägel aus den Reifen gelockert, wodurch die Wagen bockten und holperten; es war das Quietschen der Deichsel im Deichselarm, das Knurren der Rungen über den Vorder-, das Geklopf der Lissen über den Hinterrädern; ein Geräuschgemisch, treibholzgrau: so auch die Farbe der von Regen und Sonne ausgelaugten Wagen.

«Und ich weiß eben nicht, ob Richard Stahl trauen kann«, fuhr Anne fort.»Sie verbringen ganze Wochenenden dort draußen in Lohmen. Er sagt Gerhart, der sagt Richard. Ich frage ja nicht für mich, und Robert bleibt auch oft übers Wochenende im Internat … trotzdem könnten wir wieder mal was gemeinsam unternehmen.«

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