«Wir sind ja Kollegen«, begann Frau Barsano ohne Umschweife,»und Sie haben hier ein Problem. Übrigens wird daran auf Hochtouren gearbeitet, mein Mann schätzt, daß Sie in einer, spätestens zwei Stunden wieder Strom haben. «Sie zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch aus, betrachtete den Glutkegel, der beim Aufglimmen ihre Züge erhellte.»Ich schlage vor, daß ich meine Tochter bei uns behandle, ich meine, im Friedrich-Wolf-Krankenhaus. Herr Müller«
«— hat mich informiert. — Wie Sie wollen, Frau Barsano.«
«Es ist auch der Wunsch meiner Tochter. Wir haben bei uns alle Möglichkeiten.«
«Sie sind mir keine Rechenschaft schuldig. Auch Ihre Tochter nicht.«
«Wir haben sogar Lupenbrillen und ein OP-Mikroskop bekommen. — Gut. Ich möchte, und auch mein Mann möchte«, sie inhalierte, warf dann die Zigarette weg,»daß von unserem Gespräch nichts nach draußen dringt. Können wir uns darauf verlassen? Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen, Herr Hoffmann.«
«Auf Wiedersehen.«
Der Wartburg schlingerte davon, Richard sah ihm nach. Einige Minuten später löste sich eine Gestalt aus dem Schatten des Parks, sprach etwas in ein Funkgerät. Das Schneegestöber war wieder dichter geworden. Augenblicke stand der Mann unschlüssig, dann hob er den Arm zu einem ungelenken Gruß. Ein Wagen fuhr vor. Als der Fahrer die Tür öffnete, krümmte sich der Mann auf den Sitz; das Lämpchen erhellte Max Barsanos Gesicht.
52. Schallplatte und Abtastnadel von Staub freihalten
Der Wind hatte sich gelegt, die Parteisekretäre schwiegen, in den Wohnzimmern flimmerte das Abendprogramm:»Ein Kessel Buntes«,»Schätzen Sie mal«,»Porträt per Telefon«, ein Indianerfilm mit Gojko Mitić. Meno glaubte es hören zu können, das Aufatmen im Land: Wenigstens das war geschafft, eine gemütliche Vorweihnachtszeit, mit Festtagsbraten, warmen Öfen, Pantoffeln und genügend Bier. Die Versorgung mit Salzstangen und Erdnußflips war, wenn die Leute nicht völlig verrückt werden würden, für den Jahreswechsel sichergestellt. Die Barden der Unterhaltung, des Volkskitzels, der Beruhigung und des lullenden Schlafs hatten den Stafettenstab übernommen, Willi Schwabe stieg zu den gläsern-puppenhaften Klängen der Bonbonfee Tschaikowskis zu seiner Rumpelkammer hinauf und plauderte, nachdem er die Kutscherlaterne an einen Haken gehängt hatte, angetan mit Samtjoppe, das weiße Haar zu elegantem Scheitel gelegt, vom Land des Lächelns, das in den UFA-Studios von Potsdam-Babelsberg oder der Wien-Film errichtet worden war … Tänzelte elegant, Charmeur und gepflegtliebenswürdiger esprit aus der Welt von gestern, vor Kulissen aus Schwarzweißfotos und Theaterdraperien, lehnte sich in die Biegung eines Flügels, auf dem eine Kerze brannte. Meno liebte diese Sendung,»Willi Schwabes Rumpelkammer«, er verpaßte sie ungern, und wenn er an manchen Montagen verspätet aus dem Verlag kam, sah er in vielen Fenstern des Viertels die gleichzeitig wechselnden Bilder von Fernsehen der DDR 1 und meinte die wohltimbrierte Stimme des Conferenciers durch die Scheiben über Hilde Hildebrandt, Hans Moser, Theo Lingen,»die große Wessely «parlieren zu hören. Es war, es war … und in gänseweißen, rußdurchkörnten Flockendaunen, Organismen (Seesternen, Kinderhänden) ähnlicher als leblosen Kristallen, schwebte der stille Schnee durch die Gleichmäßigkeit der Tage. Es war, es war … aber die Uhren schlugen, die Zehnminutenuhr wies mit weich nachvibrierendem Gongen die Stunden; abends kroch die Melodie der» Aktuellen Kamera «durch die Häuser, bahnte sich ihren Weg durch die Wohnungen am Lindwurmring, brachte Hutmacher Lamprechts Kreationen nicht aus dem Konzept, ließ die Lehrlinge im Friseursalon Wiener beim Zusammenfegen der Tagesproduktion Haarabfall nicht innehalten, stöberte in den Räumen der Pelzschneiderei» Harmonie«, wo der Abteilungsleiter noch über Abrechnungen saß, eine pflichtbewußte Nähmaschine an Fellwesten oder Fäustlingen surrte (nein, Meno wußte es besser: Um diese Stunden nähte niemand mehr für das Volk); kümmerte sich nicht um Doktor Fernaus Flüche, die er in Kamelhaarpantoffeln, ein Felsenkeller-Bräu geöffnet, dem Ansager mit dem fehlerfrei die Erfolgsberichte vor Jahresschluß hervormahlenden Unterkiefer zuprosten würde, ließ Niklas Tietze auf dem Weg von der Praxis, wenn er unter den Fenstern der Tanzschule Roeckler stehenblieb, um der Musik vom verstimmten Klavier, den Schleifwalzern von Violoncello und Violine nachzulauschen, die Tasche öffnen und seinen zerfledderten Kalender auskramen: denn es war die Zeit, das Signal, das in unsicheren Umrissen aus den Fenstern und durch die Hausflure spindelte, es waren die Uhren, die ihn an die Zeit erinnerten: War heute nicht Donnerstag schon und man also eingeladen zur Festen Stunde auf der Schlehenleite beim Musikkritiker Däne, hatte ihm Gudrun etwas aufgetragen, das zu erledigen er womöglich vergessen hatte, standen noch Hausbesuche an, bei Frau von Stern beispielsweise, die sich eisern hielt, aber ebenso eisern auf der wöchentlichen Untersuchung durch Doktor Tietze beharrte, der» wie immer «kalte Güsse anordnete, die ihr, der über neunzigjährigen» alten Echse«(Frau Zschunke), nicht schadeten,»wie immer «Herztropfen und Digitoxin-Tabletten verschrieb, die sie regelmäßig in der Apotheke einlöste (»man darf ’s ja nicht umkommen lassen, nichtwahr«) und regelmäßig, wie Meno wußte, ins Futter für die altersschwachen Katzen mischte, die sie namentlich aufrief, um zu verhindern, daß die jungen ihnen das Futter wegschnappten …
… Atlantis, dessen Konturen Meno hinter den Zimmern zurückkehren sah, eine Art Parallelverschiebung, eine flackernde Projektion; Brückenstäbe, Brückenplanken über der Rosenschlucht, verkrustet und mit Seepocken-Rost besetzt, die Grauleite lauschte mit langsam drehenden Parabolschüsseln, über die Turmstraße liefen zur Stunde, wenn die hölzernen Schneeschieber die Wege zwischen den Heckenrosenranken freischabten und abgeklopft wurden auf den Bürgersteigen vor den hochverschneiten Autos, Schüler der Polytechnischen Oberschule» Louis Fürnberg «zur Standseilbahn, warfen Schneebälle auf das Dach der kleinen Arbogastschen Sternwarte, die feinzifferigen schwarzen Hausnummern auf den ovalen weißen Emailschildern — und Meno hörte, wenn die 11 wieder einmal nicht fuhr und er die Standseilbahn benutzen mußte, um in die Stadt zu gelangen, die Schüler im Wagen fröhlich über Fußball palavern (Dynamo Dresden, BFC Dynamo): Sie fuhren ins Rittergut Helfenberg zum» Unterrichtstag in der technischen Produktion«, wo sie» K16«-Kameras zusammenbauen würden gegen Norm und Note. Und wieder schifterten die elefantenrückigen Müllautos der Stadtreinigung über die Straßen, hinterließen Ascheschlangen neben den Spurrillen.»Milchreis und Zimt«, sagten die Dresdner, froh, daß die Wagen mit den wortgroben, auf den Trittbrettern unter der Kippvorrichtung stehenden Müllmännern fuhren, die so zuvorkommend waren, die verbeulten Mülltonnen aus den gefälligst beräumten und gestreuten Grundstücken zu kegeln; es hieß, daß sie die bestverdienenden Arbeiter seien, angeblich bekamen sie mehr als Professoren der Technischen Hochschule. Schiffsarzt Lange, im Qualm seiner Knasterzigarren, brummte Unverständnis über den in diesen Gerüchten mitschwingenden Neid, sann laut nach über Lohn für fleißiger Hände Arbeit, bevor er im Haus Zu den Meerkatzen anrief, ob er noch ein» propres Fläschchen «mitbringen solle zum Rommé-Abend bei Witwe Fiebig.
Am Mittwoch nach Richards Geburtstag beschloß Meno, Madame Eglantine darum zu bitten, ihn am Donnerstag daran zu erinnern, daß er am Freitag schließlich und verdrießlich mit der Winterwäsche beginnen wollte. Winterwäsche! Ihn graute vor dem Anblick des Wäschepuffs voll gebrauchter Laken, Bettund Kissenbezüge, den er im Sommer Anne und manchmal, wenn die Waschmaschine nicht defekt war, Libussa anvertrauen durfte — jetzt im Winter war das nicht möglich, die Frauen hatten mit Weihnachtsgeschenkeergattern, Plätzchenbacken, Silvesterknaller- und Wunderkerzenbesorgen genug zu schaffen. Madame Eglantine grinste beim Erinnern, und Meno fuhr am Freitag mit dem unguten Gefühl nach Hause, eine schier nicht zu bewältigende Bergbesteigung vor sich zu haben. Pech, daß die Dampfwaschanstalt in diesem Jahr keine Aufträge mehr annahm! Der Wäschepuff, ein aus Weide geflochtenes, ringbandverstärktes Wölb-Volumen, brütete in einer Ecke des Schlafzimmers, schien ihm hämisch aufzulauern. Meno wuchtete den Puff vor, versuchte ihn auszuschütten, die Wäsche steckte fest wie ein tiefsitzender Furunkel. Nachdem es ihm gelungen war, die obersten Laken herauszuzerren, platzte der Rest der Wäsche auf den Boden, blähte sich, atmete auf. Meno ging in die Waschküche, noch als er die Tür aufschloß, hüpfte ein Restchen Hoffnung in ihm, daß Libussas Waschmaschine inzwischen zur Reparatur gewesen war, aber der Platz war leer, das VEB Dienstleistungskombinat tüftelte seit den Sommerwaschtagen an dieser Aufgabe. Meno sah sich um. Wie haßte er diese subterrane Kammer! Er haßte sie mit dem Haß der Junggesellen, die lesen und ein Pfeifchen auf dem Balkon rauchen wollen, bevor sie in ihre warme Stube schlendern, licht und gelassen und voll Klarheit über Welt und Dinge, den Duft nach frischer Wäsche in der Nase, der traumseligen Schlaf verspricht. Wie hatte Barbara gesagt? Die Wäsche würde weißer werden, wenn man sie über Nacht einweichte. Spee und einige Löffel Schneeberger Blau, und hinein, ihr Kindergespenster, in die Lauge!
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