«Durch die Sächsische Schweiz, so wie früher«, sagte Meno,»Enöff tischt Klatschgeschichten auf, ärgert sich, daß sie keine Pilze findet, hat die falschen Schuhe an, weil sie dachte, wir gehen zum Tanzvergnügen, und Helmut schlittert heiter in eine Felsspalte? Und Enöff sagt, wenn wir ihn rausgehievt haben: ›Aber wir sind keine Piepse, aber keine Piepse sinn’ wer’ nich?‹«
«Plätze in der falschen Gaststätte bestellt, Niklas schmettert Opernarien, Gudrun redet über Bachblütentherapie, Umkehr nach Schandau …«
«… wo wir alle bei Lene einkehren«, vollendete Meno den Satz in Annes Lachen hinein.»Die gute alte Schmidken. — Warst du mal wieder draußen?«
«Uli wollte fahren. Aber jetzt, so kurz vor Weihnachten, sitzt ihnen die Plankommission im Nacken. — Ihren Oldtimer zeigen sie ja niemandem. Du bist doch Stahls Nachbar.«
«Ich glaube nicht, daß er in die Grauleite gehört«, antwortete Meno.»Aber was heißt schon ›glauben‹ und ›ich kann mir nicht vorstellen‹. Jedenfalls haben die Stahls Schwierigkeiten mit den Neuen. «Die» Neuen«: Honichs wohnten nun schon fast ein Jahr im Tausendaugenhaus; aber so war es hier oben: kaum Zu- und Wegzug, viele Bewohner lebten seit dreißig, vierzig Jahren in den Häusern mit den seltsamen Namen, da konnte leicht jemand» der Neue «sein, der es erst auf ein stilles, kaum zum Akklimatisieren genügendes Jahrzehnt gebracht hatte.
«Hanebüchne Leute müssen das sein. Lassen sie dich inzwischen einigermaßen in Ruhe?«
«Soso«, erwiderte Meno schmunzelnd — färbte die Atmosphäre so auf Anne ab, daß der Kindheitsmund ausgetauscht wurde gegen den wählerischeren derer hier oben? Sie benutzten, hatte Meno beobachtet, im alltäglichen Umgang Worte, die manche Autoren selbst in ihrem Schriftlichen mieden, Kunigundenworte gewissermaßen,»hanebüchen«(»ohne h!«hätte Sperber bei Gelegenheit eines Urania-Abends geschulmeistert), wo» derb «oder» ungehobelt «nicht genau genug zu treffen schienen; sie gingen» vor den Kadi «und nicht» vor Gericht«, sie nannten ein Fensterbrett gern» Sohlbank «und einen Süßhahn» Süßhahn«(mit h).
«Vielleicht meinen sie es nicht einmal aufdringlich, vielleicht denken sie, daß ihre Kleingärtnerfreuden für alle das Glück bedeuten müßten — und sind ganz verblüfft, daß es Menschen gibt, die das anders sehen. «Meno zog den Leiterwagen an der Warteschlange vorbei, die von der Dampfwäscherei bis zum vermorschten Grundstückszaun reichte. Schleppende Gespräche, scheele Blicke, die sich erst lösten, als Meno die Tür mit der Frakturbuchstaben-Aufschrift» Mangel «ansteuerte. Sie hatten einen Termin für 7.30 Uhr bekommen.
«Naja, vielleicht bin ich zu anspruchsvoll Richard gegenüber. Er ist ziemlich überarbeitet, das macht mir Sorgen. Weißt du, ich hab’ mich so gefreut, wie er neulich nach diesem schrecklichen Dienst aus der Akademie kam. Robert dabei! Der hätte doch in der Schule sein müssen! Packt er den Jungen bei den Schultern, schiebt ihn lachend in die Wohnung. Ich hab’ ihn noch nie so stolz auf Robert gesehen. Auf Christian — ja. Das aber auch mehr still, er zeigt es nicht so, jedenfalls nicht mir oder den Jungen. — Wir müssen vielleicht die Wäsche noch bißchen vorbereiten. Das Plättweib ist ein Drachen. Wir dürfen nicht überziehen, sie fängt gleich an Krawall zu schlagen.«
«Morgen, Herr Rohde!«knarrte die rostige Stimme Else Alkes vom Eingang der Wäscherei herüber. Dampf wölkte zur Tür hinaus, kleingequetschte Kofferradio-Musik.»Die Weste vom Herrn Baron hierhin«, befahl sie einem Gehilfen.»Und noch einmal die Knöpfe zählen!«Das Rot der Weste, die blinkenden Stahlknöpfe erfrischten den Blick.
«Herr Baron wird Ihnen eine Einladung zukommen lassen«, knarrte die Alke, bevor sie mit einem hochmütigen Nicken dem Gehilfen den Arbogastschen Leiterwagen überließ.
Das Plättweib, eine hochbusige Schweinchenäugin mit rötlichem Haarflaum auf Fingerrücken und Oberlippe, wies barsch in die Handhabung des Apparats ein, nachdem sie in einer Kladde den Termin kontrolliert und mit einem scharfen Bleistifthaken gestrichen hatte. Weder Anne noch Meno waren zum ersten Mal hier, das Plättweib mochte sie auch wiedererkennen; aber die neuerliche Einweisung war Vorschrift, wie der aufmerksame Besucher dem ausrufezeichenhaltigen Teil der hinter Glas gehängten, mit Schreibmaschine geschriebenen Papiere neben der Tür ablesen konnte, die den Mangelraum mit der Dampfwäsche verband, in der das Plättweib als Büglerin und Verwalterin der Ersatzknopfabteilung (vorwiegend litzenumsponnene Bettwäscheknöpfe) wirkte. Der andere Teil der Papiere, unvergilbt und in Fraktur gedruckt, bot Sinnsprüche aus der Waschhistorie und war von den längst enteigneten und gen Westen verschwundenen Vorbesitzern der Dampfwaschanstalt hinterlassen worden:»Die Seife ist ein schönes Stück / Sauberkeits- und Menschenglück«;»Auf weißem Linnen / dein End’ und dein Beginnen«;»Was glättet die Falten / macht jung das Gesicht / das Bügeln und Mangeln / mit schwerem Gewicht«. Meno, gefesselt von diesen Beobachtungen, hätte am liebsten sofort darüber nachzudenken begonnen, vor allem reizte es ihn, den Wahrheitsgehalt dieser als Volksweisheiten (und damit unfehlbar) ausgegebenen Sprüche zu prüfen: auf weißem Linnen … Ulrich und er waren in einer Moskauer Klinik zur Welt gekommen, hatte es da weiße Laken gegeben? Und für die im Krieg Geborenen? Anne zeigte auf die an zwei Streben von der Decke über dem Legetisch hängende Uhr, ein achteckiges Modell mit Herzzeigern, geschweiften Ziffern auf ergrautem Blatt; Anne lächelte nicht wie sonst oft, wenn sie ihren Bruder aus seinen Abwesenheiten zurückbat (eine Berührung, ein andauernder Blick), sie wirkte nervös — Meno wußte, daß sie sich vor dem Ungetüm in diesem Raum fürchtete. Selbst im nüchternen 100-Watt-Licht aus einer im Lampenteller nackten Glühbirne wirkte die Mangel wie eine auf den Rücken gezwungene und geknebelte Tarantel; eines der wolfshaarigen Giganten-Exemplare, die in den Dioramen naturwissenschaftlicher Museen, aus Kunststoff nachgebildet, an tertiären Insekten saugten (die Stielaugen im wolligen Fleischfressergesicht wie ein Scherenfernrohr ausgefahren) und auf Spinnenforscherkongressen in Form von gleichzeitig belächelten wie für handwerkliche Meisterschaft bewunderten Kupferstichen zirkulierten, wie sie für» Brehms Thierleben «gefertigt worden waren. Meno dachte an das» Freundin Arachne «Arbogasts, als er das Absperrgitter öffnete, um die drei Buchenholzrollen vom Gleittisch vor dem zurückgefahrenen Mangelkasten zu nehmen — er angelte sich zuerst die entfernteste, darauf gefaßt, daß der mit Wackersteinen gefüllte tonnenschwere Mangelkasten wie ein bösartiges Fanginstrument, ein Kieferhaken, nach vorn schnellen würde, um ihn in den Schlund zu reißen (zwar gab es keinen, hinter der Mechanik war eine schwarzgelb gestreifte Mauer zu sehen, aber ihn plagte die Vorstellung, daß Verdauungsorgane hinter der Kastenverschalung verborgen seien); Meno griff übertrieben schnell die anderen beiden Rollen heraus und reichte sie Anne, die sie ihm stumm und ebenso übertrieben schnell abnahm und erleichtert, wie ihm schien, mit den Rollen zum Legetisch ging. Sie spannte die Wäsche auf: die trocken sein mußte für diese Maschine. Jetzt kam der schwierigere Part der Vorbereitung: Meno verteilte die drei mit Laken und Bettbezügen umwickelten Rollen auf dem Gleittisch, wie das Plättweib es ihnen demonstriert hatte (in maulenden, kaum zu verstehenden Worten und ohne die Mangel einzuschalten); Rollen und Bahnachse in exakt rechtem Winkel zueinander, nur so war freie Rotation in beide Richtungen möglich, nur so verkantete sich nichts — die Hölzer rollten frei unter dem Kasten —, wurde die Wäsche nicht zerrieben, sollte durch falschen Winkel der Gleitprozeß gestört werden. Die Schwierigkeit lag in dieser Genauigkeit, mit der die Zylinderhölzer ausgerichtet werden mußten; der geknebelten Tarantel volle Rollen anzubieten machte Meno weniger angst als die Entnahme der leeren vorhin — er trat zurück, ließ das Schutzgitter herunter, blickte bang auf den Kasten, der an einer gezähnten Schiene auf Annes Knopfdruck heransurrte und sich langsam, wie ein Schott, über die Rollen schob, die die Bewegung glatt aufnahmen. Anne nickte, drückte auf den zweiten Knopf, und jetzt schien eine Peinigung zu beginnen, Qual und Schmerz über das solide, in Gebrauchsjahrzehnten abgegriffene Buchenholz der Mangel zu fliegen, hin- und herwebend, schütternd und rasselnd die Steine im Kasten, ein konvulsivischer Tremor unter Transmissionsriemen, die über Treibräder an der Seite der Maschine liefen und den blinden, empfindungslosen Voltbefehlen eines Motors gehorchten. Für Augenblicke gab es nichts zu tun. Durch das Fensterchen in der Tür sah Meno in die Wäscherei: Dampf stieg aus großen, autoklavenähnlichen Kesseln mit eingeschobenen Stab-Thermometern, auf die ein graubekittelter Gehilfe sein Auge hatte (das andere war, deutlich zu erkennen, aus Glas); hin und wieder zog der Einäugige eine Art Messingschalmei, die in einen endoskopisch beweglichen, in die Wand führenden Schlauch mündete, zu sich heran und grunzte etwas hinein, wahrscheinlich galt es einem im Keller verborgenen Heizer, der den Dampfdruck der Waschkessel regulieren sollte. — Das Plättweib erschien pünktlich.
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