Schokolade und Holz: Das war der Geruch der Bücher, und Meno kannte kein Haus, in dem er so gebietend und so einladend lebte wie im Haus Londoner.
«Chanukka!«rief Irmtraud beim Öffnen, faßte Meno bei den Schultern und berührte ihn» Wange-an-Wange«, eine Begrüßung, die er liebte, ihrer zarten, unaufdringlichen Intimität wegen,»Da hast du dem armen Kerl ja einen schönen Schreck eingejagt. Ich mußte es ihm erklären! Der wird jetzt telefonieren. — Aber du weißt, daß Jochen solche Scherze nicht mag, sag ihm nichts; er meint, das geht niemanden an, was und wie wir leben. — Sei zu Hause.«
Sei zu Hause, nicht» fühle dich «oder» fühle dich wie «zu Hause; dies einfache Willkommen hatte Meno immer gerührt; er schämte sich etwas, die Rosen so unfeierlich aus dem Mantel wickeln zu müssen, da er vergessen hatte, sie vor der Klingel aus dem Papier zu nehmen — und da er seine Rührung verbergen wollte, drückte er die aufknospenden» Maréchal Niel «Irmtraud, die seinen Hut und Handschuhe in den Händen hielt, mit einer schiefen Entschiedenheit entgegen, die nichts anderes war als Verlegenheit, welche er bei den Londoners nie ganz abzustreifen vermochte. Jochen wußte das. Meno polkte ausgiebig an den Schnürsenkeln herum, Tropfnässe oder Straßenschmutz auf den Teppichen brachten Irmtraud in Rage. Bei seinem ersten Besuch, dem Vorstellungsbesuch als Hannas» Freund«, vor dem Meno in Ermangelung anderer Mutmacher drei Fläschchen Magenbitter aus Schiffsarzt Langes Vorrat getrunken hatte, konnte der» alte Daseinskenner«(so Herr Professor, der Jochen Londoner für Meno damals gewesen war, mit verständnisvollem Nicken und ironisch einwärtsgekehrtem Daumen) sie ihm durch nichts zerstreuen: nicht durch eine Führung durch die Hausbibliothek, aus der er Kant-Erstausgaben und Brecht-Autographen zog und verschwenderisch ausblätterte, nicht durch den mit Leckereien bespickten Tisch, an den sich der Gelehrte demonstrativ hausväterlich in Strickjacke und schottisch gemusterten Pantoffeln setzte, durch keine der liebenswürdig eingehenden und weitgreifende Interessen anbietenden Fragen. Im Gegenteil hatte der Reichtum des Londoner-Haushalts (der ideelle sowohl wie der tatsächlich materielle auch) Meno noch mehr eingeschüchtert, und Londoner mochte das gespürt haben, denn danach änderte er seine» Taktik«, wie er sagte, den» Empfangsbahnhof«: Irmtraud begrüßte Meno seitdem,»sei zu Hause«, und nannte ihn» Menodear «oder» my dear«, was er lange für ein merkwürdiges, saxonisch geweichtes Kosewort hielt, bis er es in der Anrede eines ihrer Briefe las und begriff, daß sie Englisch sprach.
Aber diese Fledermausmütze auf dem Kleiderständer kannte er, lauschte ins Wohnzimmer statt auf Irmtrauds Lob- und Preisworte, und da er es hören wollte, ließ es auch nicht lange auf sich warten, Judith Schevolas sandiges Lachen. Philipp renommierte, auch das hörte Meno, den Irmtraud nun allein ließ, stumm und verschwörerisch auf die Treppe zur Küche weisend, die sich im Souterrain befand. Kurze, herzliche Begrüßung, eine anheimstellende Geste, dann konnte der Gast, wenn er ein Freund des Hauses war, bis zum offiziellen Teil der Einladung (deren Beginn ein Essensgong oder ein Glöckchen vorschlug, wie es im Fernseh-»Professorenkollegium«, in dem Londoner Mitglied war, der Vorsitzende schwang) noch eine Weile tun und lassen, was er wollte: sich in den Ohrensessel im Wohnzimmer setzen und in einer der ausliegenden Zeitschriften schmökern (»Literaturnaja gaseta «und» Times Literary Supplement «waren darunter), in den Büchern blättern oder, war man zu zweit, eine Partie Eishockey am Automaten spielen, der in einer Souterrainnische stand; eine Packung dafür notwendiger Zehnpfennigstücke lag immer bereit; warf man einen Groschen ein, konnte man über ein Rad die roten oder blauen Bleifiguren mit ihren von der Stahlkugel verzogenen Schlägern drehen. Man konnte auch wieder gehen, so wie es Eschschloraque einmal getan hatte: Tief in einer Bücherwand auf der Stiege nach oben, zum Londonerschen Heiligtum (»the haunted chamber «stand am Arbeitszimmer in Schreibschrift auf getöpfertem Oval), hatte den Dramatiker eine Szene gepackt, er war mit glasigem Blick, armerudernd (Meno hatte ihm rasch einen Stift in die Hand gedrückt) zum Telefontischchen gedriftet, wo er ohne Erfolg und in zunehmender Verzweiflung nach einem Stück Papier fahndete (er fand keins, bedruckte Seiten gab es im Haus Londoner zu Millionen; leere verwahrte der Alte in» haunted chamber «und wachte streng über die Verteilung: Nichts Handschriftliches im Hause herumliegen lassen, keine Adressen, keine mißverständlichen Notizen!: verinnerlichte Maxime aus der Zeit im Untergrund), bis Meno, der sich Zettel einsteckte, wenn er zu Londoner ging, Eschschloraque einen gab — geistesabwesend hatte der Marschall des Maßes den Telefonhörer abgenommen, Jamben gerollt und mit dem Hörer ein imaginäres Publikum traktiert; in diesem Moment war Londoner die Treppe hinuntergestiegen, auch er glasigen und inspirierten Blicks, auch er in handgreiflichen Ballungen von Wort, Gedanke, Schlußfolgerung, war zum Telefon getappt, wo er von Eschschloraque den Stift statt des Hörers bekam, den er nickend, mit heftigem Blick, fixierte und in erhobener Hand schüttelnd weitertrug, während Eschschloraque verständnislos den Telefonhörer anstarrte, bevor er grußlos und in geliehenen Pantoffeln das Haus verließ.
Man sprach, worüber man im Haus Londoner oft sprach: über die Geschichte der Arbeiterklasse, Ökonomie, aus gegebenem Anlaß über die Geschichte des Weihnachtsbratens, über Daten und Ereignisse in der Geschichte der Kommunistischen Partei. Judith Schevola saß amüsiert neben Jochen Londoner, der im Schaukelstuhl so in Erzählerfahrt geraten war, daß er immer wieder einen seiner Schottenpantoffeln verlor, den Philipp dann wieder an den Fuß paßte, wobei Philipp seinen Vater mit dem auch von Hanna gebrauchten Spitznamen» Seppel «ansprach (Irmtraud wurde von Mann und Kindern» Traudel «genannt). Jochen Londoner hätte es sicherlich vorgezogen, nicht wiederholt an die Sterblichkeit der Euphorie erinnert zu werden (mochte der Pantoffel doch segeln, wohin er wollte!); an Judith Schevola gab es unbekannte Ohren, in denen noch nie der Londoner-Trichter, jedenfalls nicht der weltenfreudige des Alten, gesteckt hatte. Ein Glas Portwein, schaukelnd mitten in einer ausgiebigen Bohrkernanalyse der» Hauptaufgabe «abgefüllt und ebenso kommentarlos wie ohne Blickkontakt zugereicht, hatte zu Menos Begrüßung genügt; Meno hatte vor Verblüffung über Schevolas Anwesenheit, aus still ansteigendem Mißmut, wie vergnügt und elegant Philipp sich im Glanz des Hauses sonnte, dabei aufgeregt umhersprang wie ein Schuljunge, das Glas schon in sich hineingegossen und hockte nun wie ein Waldkauz, geleimt an die schweren Kreise des Weins, im Ohrensessel, dem alten Historiker gegenüber. Jetzt flog das» Londoner-Sondoner«-Sprech über drei Punkte durch den Raum und gab Meno die Vorstellung, am Rand blitzender Elektrizität zu sitzen; Irmtraud fragte, wann aufgetragen werden solle:»When känn I servier the Haeschen, my dear?«, und» Seppel«, stark in der Schilderung der Hunger- und Raubtierzustände in Manchesters Baumwollfabriken begriffen, breitete fragend die Arme, um Demokratie anzudeuten — die Philipp anstelle der prustenden Judith Schevola und Menos aufgriff, der ihm schlechtes Gewissen unterstellte und vergnatzt schwieg:»We love you dermaßen, Traudel, you are ä Heldin, denn I sink, there’s not matsch fun in de Kittschen?«»You really don’t have tomatoes on your eyes«, bestätigte Irmtraud,»bleib sitzen, my dear«, (das galt Judith Schevola),»de potätohs are alle geschält bei now, änd I sink, de Rosenkohl is quite färdsch.«
«Okäh«, entschied der pater familias,»thänn I sink, we take sammsink to Knabbern in de Zwischentime.«
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