«Was hab’ ich falsch gemacht?«flüsterte Schevola Meno im Flur zu.
«In alte Wunden gestoßen«, flüsterte er zurück.
«Wie dumm von mir, wie taktlos«, sagte sie.
«Kindchen«, Irmtraud Londoner zupfte sie am Arm,»das konnten Sie nicht wissen. Lassen Sie sich mal keine schwarzen Haare wachsen. Wenn Sie mal zur Familie gehören wollen, gewöhnen Sie sich besser rechtzeitig an solche Umschwünge. We are all very labil. Isn’t it so, my son?«
«It is so, my Sonne«, bestätigte Philipp, half seiner Mutter in den Mantel.
Draußen versuchte Jochen Londoner von der Szene abzulenken; er ging auf das Buch ein, lobte die atmosphärische Dichte und die Gestalt des Vaters, wobei er das» you don’t have to sülz, if you want to say sammsink ernsthaftly«, das bei ihm über dem Schreibtisch hing, auf Schevolas Roman anwendete — Meno erinnerte sich an Besprechungen, die Londoner für die» Neue Deutsche Literatur«, für das» Neue Deutschland «verfaßte, und wo er sich in rauschenden Floskeln und grandiosen Windmüllereien erging, ohne an den Büchern mehr als nur genippt zu haben; Schevola schien zu spüren, daß sein Lob aufrichtig gemeint war, denn sie wehrte es mit einer Reaktion ab, die Meno von manchen Autoren kannte (es waren nicht die schlechtesten): Sie machte auf Mängel aufmerksam, wiegelte ab, indem sie Handlungsverläufe, die ihr nicht gelungen schienen, eher ans Licht (in Ostrom funktionierte die Straßenbeleuchtung) zerrte als nur ansprach, um jeden Anschein von Unbescheidenheit zu vermeiden. Was Meno denn als Lektor zu diesem Buch sage, erkundigte sich Londoner vorsichtig. — Er könne im Grunde nichts dazu sagen, da er das Buch, zumindest in gedruckter Form, nicht kenne: Meno tat, als wäre es überaus schwierig, Feuer an den festgestopften Tabak seiner Pfeife zu legen. — Ob er es denn nicht erhalten habe? Schevola war erschrocken. Sie habe doch veranlaßt, daß ihm ein Exemplar zugeschickt werde!
«Gute Bücher«, Londoner schwenkte ein Einkaufsnetz und lieh Meno Streichhölzer,»lesen wir mit Sicherheit. «Er bedauere, daß es hierzulande nicht habe erscheinen können. Wenn es ihr ein Trost, eine Aufmunterung sei: Auch er wisse, wie Schweigepflaster schmeckten, sechs Jahre habe er auf die Druckgenehmigung seines wohl populärsten Werks, der» Kleinen Kritik der Seife«, warten müssen. Ob Meno (»by the way«) wisse, daß Ulrich Rohde ihm einen Karton dieses Waschguts habe zukommen lassen nach Erscheinen? Nach einem Vortrag bei Meister Arbogast, über die Sternwissenschaft im Alten Orient.»Wissen Sie«, und Londoner hieb sich fröhlich mit der freien Linken gegen beide Brustseiten,»hier die Orden — und hier die Parteistrafen, so ist das nun mal; glauben Sie nicht, daß Leute wie Barsano oder selbst unsere Friedel Sinner-Priest ohne solche Watschen aus Liebe ihre Arbeit tun können.«
Meno wunderte sich über Londoners Rede. Einige Aussagen, die er aus Schevolas Buch im Gedächtnis behalten hatte, waren stark parteikritisch, manche sogar offen aggressiv gewesen … Da war sie wieder, die Schizophrenie, die er auch von Kurt kannte; wenn sie denn überhaupt über derlei Angelegenheiten sprachen: Die Partei strafte, aber die Bestraften fielen auf die Knie und ließen auf die Große Mutter nichts kommen. Noch angesichts der Erschießungskommandos hatten Verurteilte» Es lebe Stalin, es lebe die Partei der Bolschewiki, es lebe die Revolution!«gerufen. Meno erinnerte sich, was für ein Schock es für ihn gewesen war, als Irmtraud, die längst nicht mehr arbeitete, in einer beiläufigen Unterhaltung von ihrer früheren Arbeitsstelle gesprochen hatte: Sie war Zensorin für» Bücher philosophischen Inhalts «gewesen; selbst Philipps Dissertation hatte sie wegen» Lesart-Abweichungen «zurückgewiesen. Es gab, so nannte es Philipp,»die kalte Neugier «bei den beiden, ob ihre Kinder» es schaffen «würden, und gleichzeitig gab es Wohlwollen gegenüber ihren Träumen:»Wir helfen, aber kämpfen müßt ihr allein. «Und nun lobten sie beide ein Buch, das Irmtraud abgelehnt und Jochen Londoner, hätte er offiziell sprechen müssen, als» ideologisch unklar«, vielleicht sogar» schädlich «eingestuft haben würde.
«Gerüchte aber schwirren, / Die Wahrheit wird verschwiegen. / Die Herzen sich verwirren — / So hoch sind wir gestiegen!«Judith Schevola brach ab; einen Augenblick, so schien es Meno, setzte Londoner an, eine weitere Strophe zu zitieren, schwieg aber. Philipp und Irmtraud gingen vor ihnen, Philipp gestikulierend.
«Darf ich Sie etwas fragen? — Ernsthaftly.«
«Nur zu, meine Liebe, wenn ich’s beantworten kann.«
«Philipp wirft mir oft vor, ich würde mich für die Probleme in diesem Land nicht interessieren — ich meine die ökonomischen. Das stimmt nicht. Ich halte ja auch meine Augen offen. Glauben Sie — «
«Lennin«, unterbrach Londoner mit einer weiten Geste seiner Rechten; er schien ein Stück von Schevola abzurücken,»Lennin hat, sobald die Kriege zu Ende waren, eine kapitalistische Wirtschaft in Sowjetrußland eingeführt; er hat immer davon gesprochen: Der Kapitalismus ist unser Feind, aber er ist auch unser Lehrmeister. «Er beobachtete sie mißtrauisch, vielleicht glaubte er, sich zu weit vorgewagt zu haben:»Und das sagt Lennin — unser aller Lehrmeister!«
Meno mußte über dieses» Lennin «schmunzeln; es klang wie Lennon mit i; Jochen Londoner war ein bekennender Fan der Beatles.
«Nur soviel noch, meine Liebe, heut’ ist Weihnachten: Die Lenninschen Lehren von der Notwendigkeit der Basisdemokratie. Lennin, an der Spitze der Oktoberrevolution, zehn Tage, die die Welt veränderten — und wir sind ein Teil der Sowjetunion, allein wären wir überhaupt nicht lebensfähig. Die Schlußfolgerungen, auch in Hinsicht auf aktuelle Politik, überlasse ich Ihnen.«
Man gruppierte sich um; Irmtraud und Jochen Londoner fielen zurück. Sie hielten einander bei den Händen, sahen auf die Straße und schwiegen. Philipp hätte seinem Vater eine solche Frage wahrscheinlich gar nicht stellen dürfen; Probleme dieser Art wurden in der Nomenklatura nach Menos Erfahrung nicht besprochen, zumindest nicht zwischen den Generationen. Keine Adressen im Haus außerhalb des Panzerschranks, keine Zweifel, die substantiell zu werden drohten, in den eigenen vier Wänden, kein Abweichlertum, unbedingte Treue zur Partei. Meno erinnerte sich an Londoners subtile Tücke, den Alten vom Berge von Philipp einladen zu lassen; welche Demütigung — und was für eine sonderbare Reaktion des Alten: Er war wütend gewesen, daß die Londoners ihn einluden; er war der Meinung, sie hätten auf diese Weise seine Einsamkeit bloßgestellt, um so mehr, als sie so groß sein mußte,»daß ich diese Einladung noch nicht einmal freundlich abzulehnen in der Lage war!«»Ei-gent-lich eine Stellvertreter-Einladung«, so hatte er es bezeichnet:»Wie man früher Lakaien oder die Kinder der Hofbediensteten freundlich ins Schloß zum Gabentisch geladen hat, von dem sie ein paar Brosamen mitnehmen durften«.
«Wollen Sie denn etwa mitgehen?«fragte Meno Judith Schevola leise. Philipp war in voller Fahrt, Meno kannte das schon, auch Hanna hatte diese ekstatischen Zustände gehabt; etwas, das ihm fremd war, das er aber bewundert und wofür er Hanna geliebt hatte. Aus Philipps Mund klangen Worte wie» Weltrevolution«,»eine Gemeinschaft, in der es allen Menschen gutgeht, in der niemand mehr Hunger leiden muß und niemand unterdrückt wird«, nicht wie Phrasen, wie so oft bei den Vertretern der Betonfraktion. Philipp glaubte an die Zukunft. Sie gehörte dem Sozialismus — und sie gehörte ihnen, den» Heldenkindern«, den Kindern von Menschen, die für die Verwirklichung ihrer Ideale Unvorstellbares durchlitten hatten. Wenn Philipps Augen wie jetzt leuchteten, wenn die Begeisterung, daß er dabeisein durfte in den Kämpfen dieser Zeit, die gesetzmäßig in ein Morgen ohne Ausbeutung und Not führen würden, seine Wangen färbte, wurde er schön, ein wenig ähnelte er dann, mit langem Haar und allerdings Hut statt sternbesetzter Baskenmütze, seinem Vorbild Che Guevara. An diesem Punkt brachen für gewöhnlich die anderen Töne durch, denn er, Philipp, und andere vergleichbarer Herkunft, seien die Kinder von Siegern der Geschichte, von echten Revolutionären eben, die nicht nur Theorie, sondern, vor allem, Praxis getrieben hätten —»während sich die Kleinbürger und Schißhasen und viel Pöbel, für den Leute wie meine Eltern ihr Leben in die Schanze geschlagen haben, hinterm warmen Ofen verkrochen und alles, wofür sie angetreten waren, verrieten«. Die Frage, ob der von Philipp mit abfälligen Handstrichen bedachte» Pöbel «nicht auch zur Arbeiterklasse, zum Volk gehörte, für das er und seine Genossen doch einstehen wollten, verkniff sich Meno; Philipp schien in solchen» Zuständen «kritischen Argumenten nicht mehr zugänglich zu sein.
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