«Na, junger Mann, frisch von der Uni?«Erstes Bett rechts, ein Professor für Slawische Linguistik, Emigrant vor den Nazis aus den Sudeten, Emigrant vor den Tschechen aus den Sudeten, unter der weißen, aus dem Fell von Rosettenmeerschweinchen gearbeiteten Rheumadecke mühten sich zerhackte Arme vor; Säbelhiebverletzungen (alte Eifersucht, alter, hiebwaffensammelnder Rivale).
«Mein Sohn! Er ist einfach so von der Schule in Waldbrunn zu uns auf Station gekommen, wollte sehen, was ich so mache.«
«Mächtig stolz, unser Dokter! Na, früh übt sich der Zeisig«, rief der Binnenschiff-Maschinist im vierten Bett rechts, schlug einen Toupet-Katalog zu, winkte mit zwei zertrümmerten Fingern; er war zweiundzwanzig Jahre alt und trug sein Haar immer noch lang, obwohl ein beträchtlicher Teil davon in den Rotor seiner Maschine geraten war und ein handtellergroßes Stück Kopfhaut abgerissen hatte. Das Licht ging aus.
«Gute Nacht. «Drittes Bett links, ein Gabelstaplerfahrer aus der» Kofa«, der Dresdner Konservenfabrik; Schädel-Hirn-Trauma nach Sturz in Trunkenheit von der Staumauer des Waldbrunner Kaltwassers. Im Stationszimmer saß der Spätdienst im Dunkeln, eine Schwester zündete Kerzen an; im Flammenlicht wirkte ihr Gesicht ruhig; die Gegenstände im Helligkeitskreis bekamen etwas weihnachtlich Unwirkliches, Entrücktes. Schwester Lieselotte war mit nach vorn geeilt, schloß den Apothekenschrank auf, wo sie einige Taschenlampen nebst Ersatzbatterien verwahrte. Richard dachte: die ITS, dann kam schon Kohler durch die Stationstür gerannt, hinter ihm Dreyssiger, Lichtbündel tasteten über die Wände der Nord I. Dreyssiger rief:»Der OP, sie stehen unten, nichts geht mehr. Die Herz-Lungen-Maschine ist ausgefallen.«
Das Telefon funktionierte noch. Richard rief die Intensivstation an, niemand nahm ab.»Was ist mit den Anästhesisten, können sie beatmen?«fragte er Dreyssiger über die Schulter.
«Nein. «Einfach nur» nein«; trocken, tonlos hatte es Kohler vorgebracht.»Wenn das Notstromaggregat nicht anspringt«
«— springt es an«
«— müssen sie per Beutel beatmen«
«— wieso springt es nicht an«
«Wie im Krieg«, sagte eine der Schwestern angstvoll, die fast siebzig Jahre alte Gerda.
«Afrika.«
«Und wie sieht’s im OP aus?«
«Afrika, sag’ ich doch.«
«— es springt eben nicht an«
«Bananen, Dschungel«
Im Stationszimmer roch es nach Eukalyptusöl, Kohler hatte den Apothekenkorb vom Tisch gestoßen.
«— eher Rußland. Rußland, also«
«Afrika.«
«Halten Sie doch mal die Klappe!«
«— oder hören Sie was? Es springt nicht an.«
«Es tritt der Notfallplan in Kraft.«
«Komisch, daß das Telefon noch geht.«
«Läuft über Relaisstationen, Niedervoltage. Da kann rings alles tot sein, und Sie kriegen immer noch ein Freizeichen«, sagte Dreyssiger.
«Afrika. Zentraler Kongo.«
«Wir müssen auf die ITS«, sagte Richard.»Schwester Lieselotte, rufen Sie bitte alle verfügbaren Kräfte rein. Robert, du kommst mit uns, wir können jetzt jede Hand gebrauchen.«
Sie rannten zur ITS. Lichtzylinder blendeten auf, stanzten Essenwagen, Schwesternbeine, verstörte Gesichter aus dem Tiefseedunkel der Klinik, irgendwo fiel eine Bettpfanne scheppernd zu Boden. Jemand wummerte gegen eine Aufzugtür. Schritte hallten gespenstisch durch das Treppenhaus. Die Medizinische Akademie war eine Ballung aus schwarzem Gestein; in der Nuklearmedizin brannte noch Licht, ebenso drüben in der Verwaltung. Schemenhaft waren hin- und hereilende Menschen zu sehen. Auf der Intensivstation hingen Taschenlampen an einer Schnur über den Beatmungsbetten, Kerzen waren angezündet worden. Der diensthabende Anästhesist stellte gerade die Beatmung auf Druck-Sauerstoff um; der Kompressor für die Raumluftbeatmung, die aus den Wänden kam, war ausgefallen, ebenso die Monitore über den Köpfen der Patienten.»Ein instabiler Patient, Oberarzt.«
«Immer noch kein Saft auf den Notstrom-Steckdosen«, eine der Schwestern steckte Kabel um.»Schöne Schweinerei.«
Richard sah zum Noradrenalin-Tropf. Der Patient darunter wirkte friedlich, eine Figur wie auf einem Gemälde der Alten Meister; Höhlenszenerie. Eine Schwester maß ständig den Puls, eine andere den Blutdruck. Geringstes Zuviel oder Zuwenig Noradrenalin ließen ihn wie auf einer Achterbahn schwanken, man mußte gegensteuern, das band Personal.
«ZVD?«fragte der Anästhesist, drückte einen Fingernagel des Kranken, bestimmte die Rekapillarisierungszeit. Eine Schwester beugte sich zum Venotonometer, der den zentralen Venendruck maß.
«Einen Mann könnten wir brauchen«, sagte der Anästhesist.»Bis unsere Leute hier sind, das kann dauern. Die meisten haben kein Telefon.«
«Wie sieht’s im OP aus, wissen Sie was?«fragte Richard.
«Ihr Chef hat abgebrochen. Die Beatmung fährt manuell weiter. Ein Patient im Aufwachraum, bombiger Überhang, kann der Kollege auch nicht weg. Und da wollten die Neurochirurgen noch an ’nen Tumor ran. Ha-ha.«
Kohler blieb auf der Intensivstation; Richard, Dreyssiger und Robert liefen in die Notfallambulanz. Die Gänge, ebenfalls von Taschenlampen an Bindfäden erhellt, waren von Tragen mit klagenden Patienten verstopft; Krankenwagensirenen schwollen auf und ab. Niemand schien zu koordinieren, Ärzte und Schwestern hasteten hin und her. Krankenträger brachten immer neue Patienten; Türen schlugen auf und zu, aus den Behandlungszimmern riefen gereizte Stimmen nach Verbandmaterial, Schwestern, Medikamenten. Der Wartebereich vor der Kanzel, in der Pfleger Wolfgang mit stoischem Gesichtsausdruck Beschwerden und Forderungen entgegennahm, glich einem Lazarett. Vom Kerzenschimmer aus der Kanzel schwach beleuchtet, saßen Verletzte auf dem Boden, wiegten die Oberkörper; auf eine Decke hatte man ein junges Mädchen gelegt, bleich und stumm ertrug sie das Gejammer zweier älterer Frauen. Dreyssiger bahnte robust und vertröstend den Weg in die Kanzel. In den Rollstühlen der Notfallambulanz warteten schweigende oder mit den Armen fuchtelnde Leidende, die meisten wahrscheinlich mit Sprunggelenksverletzungen, Richard musterte im Vorübergehen die geschwollenen Knöchel, versuchte die aufflutenden Bilder zurückzudrängen, Erinnerungen an seine Verletzung während des Angriffs am 13. Februar, die schreienden, wimmernden Verwundeten, die mit ihm unter Bombeneinschlägen, MG-Geknatter einer versprengten Wehrmachtseinheit, Hitze von der brennenden Chirurgischen und der Kinderklinik gewartet hatten; damals hatte die Akademie noch nach einem Reichsärzteführer Gerhard-Wagner-Krankenhaus geheißen.
«Haben Sie einen von diesen Technikfritzen gesehen?«rief Pfleger Wolfgang Dreyssiger zu.»Die könnten mal ein Kabel legen lassen!«
«Röntgen möglich?«
«Nein. Auch kein CT.«
«Dann sperren«, sagte Richard.»Das bewältigen wir nicht. Wir können nicht operieren.«
«Hab’ die Leitstelle schon angerufen, Herr Oberarzt. Die sagen, alle Dresdner Krankenhäuser wollen sperren.«
«Aber es haben doch wohl nicht alle Stromausfall.«
«Sie bringen uns keine Polytraumen, das ist alles, was ich machen konnte.«
«Wer koordiniert?«
«Grefe. Aber der kommt nicht aus ’m Gipsraum raus.«
«Haben wir überhaupt noch Betten?«
«Nee.«
Dreyssiger ging in einen Behandlungsraum. Richard griff zum Telefon.»Der Chef wird sicher auch bald aufkreuzen. Bis dahin koordiniere ich für die chirurgischen Kliniken. — Besetzt.«
«Eddi!«schrie Wolfgang, winkte heftig einem bulligen Mann im blauen Kittel des Technischen Diensts. Eddi war dessen» Scheff«, ein ehemaliger Boxer, in seinem Büro hing ein Sandsack, an den Wänden, zwischen Trauben von Boxhandschuhen, Fotos von Welter- und Schwergewichtsgrößen. Eddi keuchte:»Der Diesel! Jemand hat den Diesel aus ’m Notstromaggregat abgezapft!«
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