«Mein Onkel ist Lektor, vielleicht kann er dir helfen.«
«Aber ich hab’ nichts anderes. «Burre knipste die Taschenlampe aus, als draußen Stiefelschritte zu hören waren. Dann war es still, Costa mochte eine Runde drehen.»Ich wär’ gern mit dir befreundet.«
Christian, nur im dünnen Schlafanzug, begann zu frösteln.»Dieser Pfannkuchen … vielleicht könnte man sich irgendwo beschweren?«
«Vielleicht schlag’ ich ihn tot, eines Tages«, sann Burre,»als sein ›Sklave‹ lerne ich ihn besser kennen als er mich, und irgendwann, vielleicht, wenn er schläft … Ist mir egal. Ich hab’ die Schnauze voll, ich hab’s so satt manchmal …«Burre sprach hastig und gepreßt, voller Haß.»Und im Betrieb schuften sie sich die Knochen kaputt, alles für die Planerfüllung, und wenn meine Mutter nach Hause kommt, ist sie so fertig, daß sie vorm Fernseher einschläft …«
«Jan, ich verpfeif ’ dich bestimmt nicht — sei vorsichtig.«
«Ja. Dachte ich mir, daß du das nicht machst. — Jetzt geh, ich möchte noch ein bißchen für mich sein. — Danke.«
Christian fragte nicht, wofür. An einem der nächsten Tage, es stand die» VNP «an — Vorbereitung auf die neue Nutzungsperiode: Panzerketten lagen vor den Hangars wie vertrocknete Häute einer Drachenkolonie —, sah er Burre vor dem Stabsgebäude des Regiments stehen. Er blickte sich hastig um, schien Christian nicht zu entdecken, betrat das Gebäude.
51. Im Tal der Ahnungslosen
November; stärker als sonst an den Abenden, nach den Diensten, den OPs, begann Richard seinen Körper zu spüren. Arm und Hand schmerzten, auch die Stelle am Oberschenkel, wo man ihm die Hauttransplantate entnommen hatte. Etwas in seinem Innern schien zu verrutschen an diesen kurzen, wächsernen Tagen, die ohne Elan und in flacher Bahn vorüberdrehten, nicht richtig geboren und für ein frühes, regenblasses Sterben bestimmt; er mochte sie nicht, diese Grauhimmel- Epoche (denn waren auch die Tage kurz, die Zeit, zu der sie sich verbanden, war es nicht, und das Jahr schien aus zwei Uhren zu bestehen: einer kleinen für Blüte, Frühling, Sommer — und einer großen mit den langsamen, traumklammen Novemberziffern); er wurde trübselig in dieser Atmosphäre aus Mißgelauntheit und Kopfeinziehen (würden sie je verschwinden, diese braunen und grauen Mäntel mit aufstellbarem Kragen und Taschen, in denen die Arme bis zu den Ellbogen verschwanden, so daß er sich unhöflich vorkam, wenn er einen Bekannten traf und ihm die Hand zum Gruß reichte); und im Gegensatz zu Meno, der Spaziergänge jetzt besonders gern unternahm (Hut, Pfeife, Schal, Schnupfen und Erinnerungen), konnte er auch der Stadt in dieser Zeit nichts abgewinnen, den schlierigen Straßen, katarrhgedämpften Häusern. Ihn bedrückten die Ruinen, Frauenkirche, Schloß, Taschenbergpalais, die verfallende Rampische Gasse, die jedem, der vorüberkam, zu verstehen gaben, daß Dresden nur noch ein Schatten war, zerstört, krank. Auf den riesigen, windüberpfiffenen Brachen der Stadt wucherte Unkraut, in den Neubaugebieten wurden die Wege unkenntlich unter Morast und Schlamm. Regen … In der Neustadt lagen die Häuser wie verfaulende Schiffe in der sickernden, feinste Poren tränkenden, von Dächern geseihten und zu Tropfmetronomen gemästeten Nässe. Vorwinterschweißausbruch der Fassaden, der kalte Schweiß eines Moribunden, behördlich nicht genehmigt … In der Gemäldegalerie haftete er als fettiger Film an den Wänden, entrückte Giorgiones Venus in unerreichbare Ferne, überzog die fleischfreudigen Rubensszenerien mit Melancholie, gab der Brombeerpastete de Heems etwas Verwelktes, sogar den posaunenbäckigen Schlingelgesichtern der Engel unter der Sixtinischen Madonna. Über den Elbwiesen hingen Nebel. Die Seitenwege in der Akademie waren aufgeweicht, die Springbrunnen abgestellt. Wenn Richard von einer Konsultation kam, sah er zu den Akademiegebäuden an der Fetscherstraße, überlegte, woran ihn die Sandsteinschnecken an den Dächern erinnerten (die Perückenlocken englischer Richter — immer wieder vergaß er es, auch das war ein Ärgernis!), sah zu den Lichtern, die nun auch tagsüber brannten und wie stoffwechselnde Leukozyten in den glasig-dürren, kriechenden Blutgefäßen der Parkbäume auf- oder abtauchten.
Wernstein war an der Charité, kein Ersatz für ihn gekommen.
«Sie fordern immer nur Personal, Personal!«Rektor Scheffler hob die Hände nach Müllers Ausführungen. Freundlich, unretuschiert und in Farbe blickte Gorbatschows rundliches Bauerngesicht von der Stelle, wo vorher Andropow und Tschernenko gehangen hatten, auf die Konferenz. Josta brachte Unterlagen; sechster oder siebter Monat, schätzte Richard nach einem Blick auf ihren Bauch.
«Wir haben keins! Das wissen Sie so gut wie ich. Die Bedarfsplanung — «
Rykenthal fiel ein, der Chef der Kinderklinik, und wiederholte höhnisch das Wort Bedarfsplanung. Die Kinderklinik war baufällig, das Dach undicht; im Obergeschoß hatten die Wasserflecken einander inzwischen bei den amöbenhaften Fingerfortsätzen gefaßt; der Schwarze Schimmel sproß wie Bartwuchs in den baupolizeilich gesperrten Zimmern. Natürlich verlangte Rykenthal, der stämmige Mann mit der Aura eines Nilpferds, mit Zauberkünstlerfliege und schmetterlingsblauen Pädiateraugen, daß diese Mißstände (»ich weiß nicht, Kollegen, zum wievielten Mal ich das vorbringen muß«) endlich abgestellt würden, worauf Reucker unruhig wurde und auf die seiner Meinung nach dringlicheren Probleme in der Nephrologie hinwies; Verwaltungschef Heinsloe war gefragt, und wie so oft blieb ihm nur, bedauernd die Arme zu breiten:»Die Mittel, liebe Kollegen, die fehlenden Mittel! Und woher Baukapazitäten nehmen!«Material, er könne nicht hexen!
«Seit über fünf Jahren steht der Antrag auf einen Hand-OP«, unterbrach ihn Richard wütend, als er bemerkte, daß Josta wohlgefällige Blicke folgten.»Es ist doch nicht möglich, daß es in ganz Dresden keine Mittel gibt, um diese kleine Sache zu bewerkstelligen!«
«Kollege Hoffmann, Ihre privaten Ambitionen in Ehren, aber ich darf doch daran erinnern, daß die Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde seit dreizehn Jahren den Antrag auf einen neuen OP — «»Private Ambitionen nennen Sie das?«
«Die Hand-OPs können Sie doch wie bisher in der Ambulanz machen, Herr Hoffmann; aber es ist doch ein Unding, daß meine Patienten ihre Dialyse auf dem Stationsgang bekommen müssen, weil der längst versprochene Anbau — «
«Ich bitte, meine Herren! Unsere Mittel sind begrenzt. Überlegen wir, wie wir sie am sinnvollsten einsetzen. Am dringlichsten erscheint mir die Sanierung der Kinderklinik. Mein Enkel hat neulich dort gelegen, im Obergeschoß tropft es von der Decke, die Schwestern stellen Schüsseln unter …«
Clarens saß bescheiden in einer Ecke, strich sich den Bart, sagte nichts und wurde auch nichts gefragt; ein schmächtiger Mann, dem man, dachte Richard, unwillkürlich etwas Gutes tun wollte, eine Apfelsine schenken beispielsweise: weniger aus Freundlichkeit oder Aufmerksamkeit als aus einer Art höherer Scham, und um von ihm geachtet zu werden — Clarens saß, als würde er die Sünden zählen, konnte nicht kämpfen, verschwand beinahe neben den breitschultrigen, von ihrer Bedeutung und derjenigen ihrer Anliegen unzweifelhaft überzeugten Vertretern der operierenden Fachgebiete. Bei Leusers Urologenwitzen schien Clarens körperlich zu leiden, Hände und Ohren nahmen ein entrüstetes Himmelgrau an, das in Kunsthonigblässe überging, wenn der hauptamtliche Parteisekretär der Medizinischen Akademie sprach, ein humoristisch-hemdsärmeliger, am Machen mehr als am Reden interessierter, skrupulösen Alltag gern in die Perspektive eines pionierlagerhaften festlichen Morgen einschwenkender Arbeits-Bulldozer, dessen Schto djelatch?: Was tun? Und Kak tebja sowut?: Wie heißt du (Schwierigkeit oder Feind) von einer sibirischen Staudamm-Großbaustelle übriggeblieben waren, auf der er in» herzerfrischenden! herzerfrischenden!«FDJ-Funktionärszeiten Hand an den Kommunismus gelegt hatte.
Читать дальше