Abraham arbeitete ehrenamtlich bei einem Sozialprojekt in Brooklyn mit. Seine Arbeit bestehe darin, schwarze Jugendliche zu coachen, damit sie vor Gericht nicht in die Fallen tappen, die ihnen der Richter stellt. Er habe sich inzwischen an den Gedanken gewöhnt, daß er wohl keine feste Bindung mehr eingehen werde.»Ich habe mich zu einem fanatischen Verlierer entwickelt, zu einem Verehrer der Niederlage sozusagen. Und damit bin ich modern. Moderner, als ich aussehe jedenfalls. Besteht die Tragödie unseres Jahrhunderts nicht gerade darin, daß die Menschen einfach nicht einsehen wollen, daß man nicht leben kann wie Jeanne d’Arc oder Garibaldi oder Ivanhoe, daß man nicht wie General Queipo de Llano herumrennen und rufen kann: Es lebe der Tod? Unser gemeinsamer Freund — ›And were I any thing but what I am, I would wish me only he‹ — hat mir damals arge schmerzhafte Sorgen bereitet. Jake hat sich einem dazzled devil angeschlossen. Der hieß Bob Le Bon, stammte aus Louisiana, hatte eine prächtige Plantagenfamilie im Hintergrund und war der Mercutio von Greenwich Village. Aber Jake war nicht stark genug für diesen blendenden Teufel, der sich aufführte, als wäre Giacomo Leopardi in einen Roman von Walter Scott geraten, ich konnte ihn nicht ausstehen, er wollte immer und überall tanzen, chorea hysterica rhythmica , und mir trampelte er auf den Füßen herum, und in jedem Thema vertrat er die führende Meinung, nur Phrasen. Wie ich diesen Kerl noch immer hasse! Nachdem ich Jake fast zwei Monate lang nicht mehr gesehen hatte, saß er eines Tages wieder in meiner Küche, ziemlich blaß, ziemlich dünn, ausgetanzt und realistisch, und mir blieb nichts anders übrig, als ihm zu geben, was ich selbst mein Leben lang gehofft hatte und immer noch ein wenig hoffe, daß es mir einer gibt, nämlich Trost. Am nächsten Tag ist er auf und davon. Schaute erst fünf Jahre später wieder vorbei, um amerikanischer Staatsbürger zu werden. Und erst nach weiteren fünf Jahren sahen wir uns wieder in Nürnberg.«
Ich bin nur eine Woche in New York geblieben. An meine Dissertation hatte ich keinen Gedanken mehr verschwendet. Ich hatte mir ein in Leder gebundenes Notizbuch aus Österreich mitgenommen, aber alles, was ich mir aufgeschrieben hatte, waren ein paar Telefonnummern und Adressen. Auch die von Maybelle Houston, die mir Abe bei einer Streetworker-Party in Brooklyn vorgestellt hatte. Als ich sechs Jahre später wieder nach New York kam — diesmal mit der felsenfesten Absicht, in Amerika zu bleiben —, lebte Abraham Fields nicht mehr. Da rief ich bei Maybelle an. Die Geschichte ist zu groß, um sie an dieser Stelle zu erzählen. Maybelle Houston benötigt ein eigenes Kapitel, und wohl mehr als das …
Abraham brachte mich zum Kennedy Airport. Bevor ich durch die Paßkontrolle ging, überreichte er mir eine Plastiktüte. Darin waren, in einen Kopfkissenüberzug gewickelt, die drei Schallplatten mit der Aufnahme von Norma , aus denen wir an jedem Abend Ausschnitte gehört hatten.
8
Frau Mungenast, die Kapuze ihres Mantels über dem Kopf, wartete auf dem Weg vor dem Haus. Sie hatte uns durch den Wald vom See heraufkommen sehen. Erst fragte sie nach meinem Befinden, dann nach Carls. Sie zog den Rollstuhl über die Stufen zum Haus hinauf, im Flur half sie Carl aus den Kleidern und hob ihn in den Zimmerstuhl.
«Wie war’s denn?«fragte sie.
«Er hat sich leider ziemlich ungeschickt angestellt«, sagte Carl.
Frau Mungenast erschrak, sie warf mir einen Blick zu, in dem war Empörung, und ich fühlte mich verpflichtet, ebenfalls empört zu sein. Ich sagte:»Weißt du was!«und dachte: Leck mich am Arsch! knallte die Flurtür zu und lief nach draußen und über die Treppe zum Weg und den Weg hinunter zur Lanserbahn, und weil die gerade daherkam, stieg ich ein und stieg erst mitten in Innsbruck bei der Endstation in der Maria-Theresien-Straße wieder aus.
Während der Fahrt hatte mein Handy geklingelt. Ohne hinzusehen, wer es war, hatte ich es abgeschaltet. Ich ging zum Hotel Central, nahm ein Bad und legte mich ins Bett. Ich hatte C.J.C. 4 bei mir, das Heft hatte ich auf unseren Spaziergang mitgenommen, ich hatte mir ja Stichworte notieren wollen, die krokantartige Affäre betreffend. Jetzt schrieb ich meine Wut nieder.
Irgendwann, es war bald Mitternacht, rief der junge Mann von der Rezeption an und sagte, eine Frau Mungenast wolle mich in der Halle sprechen. Ich zog mich an und fuhr mit dem Lift hinunter.
«Er ist der feinste Mensch, den ich je kennengelernt habe«, sagte sie,»für keinen anderen Patienten würde ich so etwas tun. «Carl habe mit ihr gewettet, daß ich im Central abgestiegen sei; und er hatte sie gebeten, mich zu holen. Ihre Haare standen ihr als ein rötlichbrauner Schein um ihr Gesicht. Sie wirkte sehr fröhlich, und diese Fröhlichkeit war mädchenhaft und ansteckend. Ich dürfe seine Unverschämtheit nicht ernst nehmen, sagte sie.»Es sind die Schmerzen. Jetzt ist er zahm und auch ein bißchen blöd. Ich habe ihm ein neues Pflaster aufgelegt.«
«Ich kann jetzt nicht einfach einen Rückzieher machen«, sagte ich.»Wie stehe ich da!«
«Vor wem?«fragte sie.
«Aber ich will ihn wenigstens eine Stunde warten lassen.«
«Und ich? Ich soll gemeinsam mit dir warten?«
«Ja. Es wäre schön, wenn ich eine Stunde mit dir allein sein könnte.«
«In deinem Hotelzimmer?«
«Warum nicht? Nicht nur er ist berechnend. Ich bin es auch. Ich habe mir alles so gedacht, wie es geschehen ist: Ich fahre ab, gehe ins Central, er wird sich denken, ich sei im Central, und wird dich schicken. Und nun bist du hier.«
«Eine Stunde für uns zwei?«
«Ich habe mich danach gesehnt.«
«Nach mir?«
«Nach deiner Umarmung.«
«Er hat mir einen Brief für Sie mitgegeben«, sagte sie.»Ich kenne den Inhalt. Er hat mich gebeten, ihn zu lesen. Er meinte, in seinem Zustand kann er nicht beurteilen, ob der Brief Sie beleidigen könnte. Ich sagte, der beleidigt ihn sicher nicht. Also blamieren Sie mich nicht.«
Sie reichte mir ein Kuvert. Es war nicht zugeklebt.
Lieber Sebastian!
Mein Vorschlag zur Versöhnung: Morgen bist Du dran. Morgen und übermorgen. Ich wünsche es mir. Deine Jahre in Amerika zum Beispiel. Hast mir zum Beispiel nie von deinem Unfall erzählt. Morgen und übermorgen.
C.J.C.
Mit den Kürzeln zu unterschreiben, dachte ich, war ein Risiko für ihn. Hätte ja sein können, daß ich im Augenblick für Ironie keinen Nerv hätte.
«Sie haben recht«, sagte ich,»ich führe ja keinen Wettkampf gegen ihn. Ich bin kindisch. Sie müssen mir das nachsehen.«
Carl hatte darauf bestanden, auf mich zu warten. Er hatte sich vor dem Kamin auf das Kanapee betten lassen. Frau Mungenast sprach ihn laut an. Er erwachte. Er brauchte eine Weile, um sich zurechtzufinden. Er streckte die Hand nach mir aus, deutete mir, näher zu kommen. Und strich mir über die Wangen. Die Lider hingen halb über die Augen, die Mundwinkel glänzten von Speichel, seine Gesten waren wie in Zeitlupe.
«Verzeih mir, Sebastian«, sagte er. Seine Lippen bewegten sich, als hätte er einen Gummiball zwischen Gaumen und Zunge, und genauso hörte sich seine Stimme an.»Es hat dreimal auf meinem Handy geklingelt. Warst du das? Hast du mich anrufen wollen? Habe ich die Wette gewonnen? Warst du im Central? Staunst du über das, was ich dir erzähle? Sag es mir! Niemand hat gewußt, daß sie einen Hirntumor hatte. Ich bin nicht zu ihrer Beerdigung gefahren. Sie hat den Tumor schon in ihrem Kopf gehabt, als wir in Kinnelon waren. Und damals hat sie es bereits gewußt. Ich dachte nämlich, der Russe ist bei der Beerdigung. Du hast einen Sohn, Sebastian. Vergiß ihn nicht und sag seiner Mutter einen schönen Gruß von mir, vergiß das nicht. Etwas Wichtiges habe ich vergessen, dir zu erzählen. Ich war oft im Kunsthistorischen Museum gewesen und hatte versucht, die unheimlich-drolligen Bauerngesichter vom Breughel nachzuzeichnen. Und Bachs Matthäus-Passion hatte ich studiert, auf Schallplatte und in der Partitur, und auch seine Kunst der Fuge. Die Matthäus-Passion wollte ich eines Tages dirigieren. Der romantische Mendelssohn hat das Stück instrumentiert und den Chor so breit gewalzt, aber das ist falsch, das Stück ist eigentlich Kammermusik. Verstehst du? Ein jähes Staunen, das wünsche ich mir. Das gibt es in meinem Alter nicht mehr. Aber nichts wünsche ich mir mehr. Das kannst du doch verstehen, oder? Darüber haben Frau Mungenast und ich uns unterhalten, Sebastian. Hab’ ich recht? Ich habe gesagt, das jähe Staunen gehört zum Handwerkzeug eines Schriftstellers. Das ist seine Harmonielehre. Und heute habe ich ihn zum Staunen gebracht. Das habe ich doch, oder? Über das Staunen, über das jähe, haben Frau Mungenast und ich uns unterhalten. Frau Mungenast hat interessante Ideen …«
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