Keine fünfzig Meter nördlich des Parks setzte die Queensboro Bridge zum Sprung über den East River an. Der Anblick der Eisenkonstruktion, die sich streng und verspielt zugleich, halb Tortenverzierung, halb Kathedrale, über dem Ufer erhob und im Licht des späten Nachmittags all ihre grazilen Einzelheiten preisgab, überwältigte mich, und Abraham bemerkte es:»Hat es diese wunderschöne Brücke verdient, daß Ihre Erinnerungen an sie von diesen Nazigeschichten überschatten werden?«
«Nein«, sagte ich.
«Hat es die Stadt verdient?«
«Nein«, sagte ich.
«Also reden wir nicht weiter darüber! Alles, was Sie für Ihre verdammte Doktorarbeit brauchen, finden Sie in Amsterdam. Was geht Sie eigentlich das Leben dieses Mannes an?«
Statt dessen erzählten wir uns gegenseitig aus unserem Leben. Wir schlenderten durch den Central Park, und ich erzählte von meinem Vater. Daß ich so ein schlechtes Gewissen hätte, weil ich nie aufmerksam gewesen sei, wenn er mir seine Musik erklären wollte; weil ich immer ungeduldig gewesen war und die Augen verrollt hatte; daß ich immer gewußt hatte, daß ihm kein Lob mehr bedeutete als meines, und trotzdem hatte ich es nicht über mich gebracht.
Abraham lud mich in seine Wohnung ein, hörte mir zu, kochte für mich, legte eine Schallplatte auf. Er habe zu seiner eigenen Überraschung die Oper für sich entdeckt, sagte er. Er sei es gewesen, der Jake von der Oper und der Klassik abgebracht habe, und nun habe er Oper und Klassik für sich entdeckt. Zur Zeit höre er ununterbrochen Elektra von Richard Strauss, allerdings müsse er dabei allein sein, später einmal könne er sich diese Musik vielleicht zusammen mit jemand anderem anhören, zur Zeit sei er noch nicht soweit, noch habe er die physische Seite von Begeisterung und Erschütterung nicht im Griff und wolle niemandem zumuten, ihm dabei zuzuschauen. Er schaltete alle Lichter aus bis auf eine Stehlampe, und dann erzählte er mir von dem Abend, als er Carl verführt hatte. Ebendiese Stehlampe habe er aus seinem Schlafzimmer in die Küche getragen, wo Carl auf dem Sofa gelegen habe. Sie gebe ein weiches, facettenreich mit den Schatten spielendes Licht. Er habe sich auf die Kante des Sofas gesetzt und versucht, seinen Körper in Position zu bringen, so daß Carl vor allem sein Profil zu sehen bekäme. Er habe einen beeindruckenden Römerkopf, das wisse er, das sei ihm Dutzende Male bescheinigt worden, der allerdings in einem — wie er sich nüchtern eingestehen müsse — unschönen Kontrast zu der beinahe mädchenhaften Zartheit seines Körpers stehe; was andererseits, und auch das sei ihm von verschiedenen Seiten versichert worden, Charakter mache. Interessant sei doch nur das Antagonistische: treu, lauter, aufrichtig und all das auf eine bedingungslos grausame Art: ein Mann zur Freundschaft geschaffen, auch über die Liebe hinaus, wo Treue sich zu einer barbarischen Tugend wandeln könne. Er habe zu Carl gesagt: Nennt dich irgend jemand Jake? Ist es dir recht, wenn ich Jake zu dir sage? Ich denke, es ist gut, wenn ich Jake zu dir sage. Vielleicht schämst du dich ja hinterher. Dann ist es gut, wenn du so tun kannst, als wärst du ein anderer gewesen.
«Ein paar Jahre später, Anfang der fünfziger Jahre, kurz bevor Eisenhower zum erstenmal zum Präsidenten gewählt wurde, besuchte er mich in New York. ›Ich habe ein Geschenk für dich‹, sagte er. Wir mieteten ein Auto und fuhren nach Princeton, und dort stellten wir uns am Nachmittag gegen fünf in der Wiese vor dem Institute for Advanced Study hinter ein Gebüsch und warteten, bis zwei Männer, der eine im schwarzen Mantel mit dunklem Borsalino, der andere in hellem Mantel mit Wollmütze, das Gebäude verließen und über den Wiesenpfad spazierten. ›Das sind Kurt Gödel und Albert Einstein‹, flüsterte er mir zu. ›Schau, wie sie gehen und denken!‹ Es war, als hätte er mich ins Museum eingeladen oder in die Oper. Hat Jake Ihnen von unserer gemeinsamen Elektra erzählt?«
«Ich weiß jetzt nicht genau, was Sie meinen. Ich glaube aber, nein.«
«1964 in Salzburg. Bei den Festspielen. Er hat mich eingeladen. Hat angerufen und gesagt: ›Abe, mein Lieber, es ist an mir, mich zu revanchieren, ohne dich hätte ich nie Billie Holiday erlebt.‹ Er hat gesagt: ›Abe, mein Lieber.‹ Genau so hat er sich ausgedrückt. Und ich bin ins Flugzeug gestiegen und habe nichts anderes denken können, als daß wir beide auf unsere alten Tage vielleicht doch noch zusammenfinden. Geglaubt habe ich es nicht. Aber gehofft habe ich es. Alles, was auf der Bühne und im Orchestergraben geschah, habe ich auf mich bezogen. Wer dran leidet und nicht das Mittel findet, sich zu heilen, ist nur ein Narr. Ich finde mir heraus, was bluten muß, damit ich wieder schlafe. — Und als Elektra in ihren Jubel ausbricht, weil Aegisth und Klytämnestra gemordet sind — Ich trag’ die Last des Glückes, und ich tanze vor euch her —, hätte ich am liebsten mit eingestimmt. Jake saß zwischen Margarida und mir, und ich schob meinen Arm unter seinen und drückte ihn gegen meine Seite, und er ließ mich gewähren. Stellen Sie sich das vor, nach so vielen Jahren! Richard Strauss, der Soundtrack für mein Glück! Und was für Ausschweifungen hat er sich einfallen lassen! ›E-Dur und D-Dur in Schmerzen vereint!‹ Daß Elektra am Ende vor lauter Jubel verrückt wird und sich vor lauter Verrücktheit zu Tode tanzt, kam mir allerdings etwas überdreht vor. Aber schließlich war ich im Land Sigmund Freuds, der dem Todestrieb mehr Macht zugestanden hat als dem Sexualtrieb. Aber anstatt mich selbst zu vergessen und mich der Musik hinzugeben, habe ich mich von Jakes Rasierwasser ablenken lassen. Wie ich mich heute dafür hasse! Astrid Varnay als Elektra! Herbert von Karajan am Pult! Die Wiener Philharmoniker im Graben! Was haben Sie im Sommer 1964 gemacht, Sebastian?«
«Da waren wir noch in Wien.«
«Oh, wir hätten uns auf der Straße begegnen können.«
«Meine Mutter und ich haben auf meinen Vater gewartet. Daß er aus Amerika zurückkommt, um uns zur Auswanderung abzuholen.«
«Ich habe etwas, das wird Ihnen gefallen«, sagte er und nahm eine Platte aus dem Regal.
Und so saß ich bereits an meinem zweiten Tag in New York bis spät in die Nacht hinein in Abraham Fields’ living room auf der Chaiselongue mit den handtellergroßen Phantasieblumen und hörte Maria Callas als Norma in der — wie mir Abraham versicherte — legendären Aufnahme aus dem Mailänder Cinema Metropol von 1954. Diese Musik sollte jeden meiner weiteren Abende in New York ausklingen lassen; denn entgegen den Plänen, die ich mir zurechtgelegt hatte, verbrachte ich die meiste Zeit gemeinsam mit meinem Mentor.
«Leider wird die Norma an den großen Opernhäuser kaum mehr gespielt«, klagte er.»Wer soll sie singen nach der Callas? Zum Glück wird sie nicht gespielt! Und mit Donizetti ist es nicht anders. Würden Sie Lucia di Lammermoor nach Maria Callas von einer anderen Sängerin hören wollen?«
«Ich habe diesbezüglich leider keinen wirklichen Überblick«, sagte ich.
Spät in der Nacht begleitete mich Abraham Fields zurück in mein Hotel in die 42. Straße im Osten von Manhattan und machte sich Vorwürfe, daß er so fahrlässig mit dem tiefsten Geheimnis seines besten Freundes umgehe, und mit wie zum Gebet gefalteten Händen flehte er mich an, nie, nie, nie Carl davon auch nur ein Wort zu verraten.
Jeden Morgen frühstückten wir gemeinsam — in meinem Hotel oder in einer der Cafeterias um den Washington Square oder in einem Coffeeshop an der Upper Westside, oder wir spazierten bis zur Mitte der Brooklyn Bridge, wo wir uns auf eine Bank setzten und Bagles aßen und Kaffee aus der Thermosflasche tranken. Anschließend führte er mich durch das Museum of Modern Art, durch die Public Library — im Schatten der steinernen Löwen saßen wir auf der Treppe und rauchten seine Zigaretten mit den goldenen Filtern. Er fuhr mit mir —»weil sich das so gehört«— mit dem schnellsten Lift der Welt zur Aussichtsplattform des Empire State Building hinauf und in einem Touristenschiff um Manhattan herum. Die meisten Abende aber verbrachten wir in seiner klimatisierten Wohnung 55th Street Ecke Sutton Place South. Er zeigte mir voll Stolz seine Bibliothek, die wohl an die zehntausend Bände umfaßte. Am liebsten lese er in der Küche, sagte er. Auf dem Eßtisch stapelten sich drei Bände Standard Edition of the Complete Psychological Works von Sigmund Freud, Doctrines and Covenants des Mormonenpropheten Josef Smith, ein Band mit Essays von Montaigne, ein Buch auf deutsch über den heiligen Paulus, die Bibel auf englisch in der Übersetzung von William Tyndale, die Äneis von Vergil, Rot und Schwarz von Stendhal, ein Buch über Helden und Heldenverehrung von Thomas Carlyle und eine prachtvolle, in Ziegenleder gebundene Ausgabe von The Paradise Lost .»Als Milton dieses Wunderwerk schrieb«, sagte Abraham und ließ mich den Band in meinen Händen wiegen,»war sein Sohn tot, war er mit seinen Töchtern zerstritten, waren ihm zwei Ehen zerbrochen, hatte er das Augenlicht verloren, war sein öffentliches Ansehen entehrt und waren seine Freunde von einer ungerechten Justiz ermordet oder ins Exil vertrieben worden.«
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