Die Sitzungsunterbrechung dauerte nicht länger als eine Viertelstunde. Richter, Ankläger und Verteidiger kamen in den Saal zurück, die Verhandlung wurde fortgesetzt. Aber sie wurde nicht an dem Punkt fortgesetzt, an dem sie unterbrochen worden war.
«Hoher Gerichtshof!«sagte Mr. Alderman.»Wir sollten nun logischerweise mit der Geschichte der Tschechoslowakei fortfahren. Aber wir müssen unsere Pläne ändern und von der streng logischen Reihenfolge abweichen. Jetzt ist vorgesehen, Ihnen einen Film zu zeigen.«
Mr. Dodd, einer der beiden amerikanischen Hauptankläger, meldete sich zu Wort.»Hoher Gerichtshof! Die Anklagebehörde für die Vereinigten Staaten wird nun mit der Erlaubnis des Gerichtshofs einen Originalfilm über die Konzentrationslager vorführen.«
Carl wußte, daß die Nazis Konzentrationslager errichtet hatten; er wußte nicht, wie viele es waren, und er wußte auch nicht, was dort wirklich geschehen war. Abe wußte mehr; er hatte zum Beispiel Statistiken gelesen, die dem Massenmord die Form von Zahlen gaben. Über nichts wurde in den Cafeterias, den Pressezentren und in den Gängen des Gerichtspalastes heftiger diskutiert und spekuliert als über die Tötungsfabriken der Nazis; wer das Äußerste vermutete und gar noch seine Vorstellungen davon ausbreitete, galt als Zyniker. Nach dieser Vorführung nicht mehr. Der Film war zusammengeschnitten aus Material, das amerikanische Soldaten bei der Befreiung verschiedener Konzentrationslager gedreht hatten; die schrecklichsten Teile aber stammten aus dem Privatbesitz hoher Nazifunktionäre, die treue Untergebene gefunden hatten, die für ihre Herrn die Kamera bedienten. Carl blickte von der Leinwand zu den Gesichtern der Angeklagten, zu der weißen Fläche seines Schreibblocks. Ribbentrop habe die Augen zugedrückt und sich von der Leinwand weggedreht, als die Halden von Schuhen, Kleidern, Prothesen, Brillen, Kinderpuppen und Haaren gezeigt wurden; Hans Frank, ehemals Hitlers Anwalt, später Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete, im Gefängnis fromm geworden, habe die Schultern hängenlassen, wie wenn ihm der Herr Lehrer eine Schwindelei nachgewiesen hätte; Julius Streicher, der Hauptschriftleiter des Stürmer , blickte gelangweilt zur Decke, als auf der Leinwand die Türen zu den Gaskammern geöffnet wurden und man die Toten sehen konnte, die wie Basaltsäulen aufrecht aneinandergepreßt standen; Göring nahm den Kopfhörer ab, gähnte bei geschlossenem Mund, die Caterpillars, an deren Steuer vermummte amerikanische Soldaten saßen, schoben gerade Hunderte Leichen zusammen; Alfred Rosenberg zappelte auf seinem Sitz herum und sah immer wieder nach den anderen, um seine Miene auf die ihren einzustellen. Arthur Seyß-Inquart blickte geradeaus, an der Leinwand vorbei. Seine Augen hinter den starken Gläsern waren ohne Ausdruck.
Nach dem Film war der Gerichtstag beendet.
Am Abend besuchten Abe und Carl den Gefangenentrakt. Ihn interessiere nur Seyß-Inquart, sagte Carl.
«Ich muß aber mit jedem sprechen, das ist meine Aufgabe. Kapierst du das nicht?«zischte Abe auf deutsch.»Besonders nach so einem Tag muß ich das tun. Und du bist mein Assistent, verdammt noch mal! Du mußt mitschreiben.«
Sie wurden von vier Soldaten begleitet, einem Amerikaner, einem Briten, einem Franzosen und einem Russen. Jeder Posten hier schien vierfach besetzt zu sein. Dementsprechend viele Soldaten standen in den Gängen herum.
«Geh du zu den anderen und laß mich allein mit ihm!«flüsterte Carl zurück. Abe hatte ihn gewarnt, von ihrem französischen Begleiter wisse er, daß er leidlich Deutsch verstehe.
Abe war sehr aufgeregt.»Seyß-Inquart wird es nicht zulassen.«
«Fragen wir ihn, ob er etwas dagegen hat.«
Seyß-Inquart hatte nichts dagegen.
Als er, erzählte Carl, den britischen und den russischen Soldaten im Rücken, in der schmalen Zelle dem Gefangenen gegenübersaß, sei ihm aber nicht eine Frage eingefallen, von der er sich eine Antwort von Belang erwartete. Seyß-Inquart habe nach einer Weile gesagt, er werte es als kein gutes Zeichen, daß am Ende dieses Tages keine Frage an ihn gestellt werde. Nun sei ihm, sagte Carl, erst recht nichts eingefallen, und er habe es sogar aufgegeben, über eine Frage nachzudenken. Er sei einfach dagesessen und habe gewartet. Seyß-Inquart sagte, so etwas wie am Nachmittag gehe an die Nieren, aber er halte durch, es wäre allerdings ein gewisser Trost, wenn Fragen gestellt würden. Aber Carl fiel eben keine Frage ein. In der Zelle roch es nach Mottenkugeln und nach Süßigkeiten. Der Mann, der für den Tod von Edith Stein verantwortlich war, saß ihm gegenüber, die Handflächen auf dem Tisch, als wäre ihm das befohlen worden. Er trug amerikanische Zivilkleidung, grauer Anzug mit feinen Streifen. Gürtel und Krawatte wurden ihm abgenommen, wenn er aus dem Gerichtssaal in seine Zelle zurückgeführt wurde. Es wäre ihm freigestanden, in seiner Uniform vor Gericht zu erscheinen, das hatte er abgelehnt. Die Augen hinter den dicken Gläsern wirkten basedowsch. Die Haare hatte er sich an Schläfen und Hinterkopf scheren lassen. Der Angeklagte mit dem höchsten IQ.
Als die Zellentür in Carls Rücken aufgesperrt wurde, weil Dr. Abraham Fields seinen Assistenten abholen wollte, sagte der Gefangene doch noch etwas. Der Assistent schrieb mit:
«Ein Sonderfall also. Ein Präzedenzfall also. Etwas, das es vorher nicht gegeben hat. Something that has not existed before. Das nun meinen Namen trägt. Morgen kann einer sagen: Ich bin so, wie Dr. Arthur Seyß-Inquart einer gewesen ist.«
In der Nacht spazierten Abe und Carl wieder in die Felder hinaus. Sie hatten sich aus dem Häuschen geschlichen, ihr Wachsoldat sollte es nicht merken, sie wollten allein sein. Abe fragte Carl, wo er sich in den vergangenen Jahren herumgetrieben habe. Statt ihm zu antworten, erzählte Carl seinem Freund, daß er erst vor wenigen Wochen erfahren habe, daß seine Mutter bei einem amerikanischen Bombenangriff auf Wien gestorben sei.
«Ich kann mich nicht erinnern, wann und bei welcher Gelegenheit ich sie zum letztenmal gesehen habe.«
«Erzähl mir von ihr«, sagte Abe.
«Ich war ihm kein guter Freund gewesen«, keuchte Carl. Frau Mungenast hatte mir erklärt, daß die Schmerzen vom Rückgrat ausgingen und sich über den Rücken ausbreiteten und schließlich in die Beine und die Arme führen, so daß sich der Patient fühlte, als bestehe er nur aus Schmerz.»1952 bin ich nach New York gefahren, um mich mit Abe zu versöhnen, das heißt, ihn um Verzeihung zu bitten. Er hatte furchtbar viel zu tun, arbeitete in einem Wahlkomitee für die Demokraten, hatte eigentlich gar keine Zeit für mich, nahm sich aber alle Zeit. Hat er dir erzählt, daß wir nach Princeton gefahren sind? Und weiter nach Pennsylvania? Ich wollte in Bryn Mawr das Grab von Frau Professor Noether besuchen. Aber es gibt dort kein Grab. Sie hat sich einäschern lassen. Ihre Urne steht im Library Cloister des Colleges. Das wollte ich nicht — mich mit verschränkten Händen vor ein Regal stellen. Sind wir eben gleich wieder umgekehrt. Ein vergnüglicher Ausflug ist daraus geworden. Abe war auf seine Weise ein Genie. Er war ein Genie auf dem gleichen Gebiet, auf dem auch das Fräulein Stein eines war. In ihrem Fall sagt man nicht Genie, sondern Heilige. Genie und Heilige des Trostes.«
Auf dem unteren Weg durch den Wald war es, genau wie ich gedacht hatte, um so viel leichter, den Rollstuhl zu schieben. Der Weg war nur wenig verschneit, weil sich über ihm die Äste zu einem Dach vereinigten. Der Weg war hart, nicht ein Mal mußte ich den Rollstuhl kippen, und der Weg war glatt, so daß Carl nicht zusätzlich von Erschütterungen gequält wurde.
«Jetzt könnte ich beide brauchen«, wimmerte er,»die Heilige und das Genie.«
6
Im April 1976 hatte sich mein Vater das Leben genommen. Carl sah, daß ich des Trostes bedurfte, und da erinnerte er sich an den Meister des Trostes.
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