Noch während er sprach, begann ich mitzuschreiben. Das war brutal und war meine Rache; sollte aber auch als ein Zeichen meiner Dienerschaft verstanden werden. — Ich war nicht nachsichtig, nicht barmherzig. Leute in meinem Alter, David, haben schon zu viel schlechtes Gewissen gehabt, um jemals angemessen und glaubwürdig um Nachlaß der Schuld bitten zu dürfen. Ab dem vierzigsten Jahr ist es, denke ich, zu spät dafür. Und wenn wir es doch versuchen, setzen wir uns dem Verdacht aus, lediglich ein bißchen pathetisch sein zu wollen, weil’s halt manchmal guttut. Aber niemand soll sich Pathos als die Fähigkeit zu mehr Leben schönreden, niemand soll von sich behaupten, er verkörpere die Idee vom schönen Leben; also können wir nur schwer erwarten, daß unser Leben mit Bedeutung vollgepackt ist.
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Samstag, 14. April, 2001. — Vormittags.
Ich hatte in der Bibliothek geschlafen, erst im Fauteuil, anschließend auf dem Teppich. Mehrmals bin ich aufgewacht, habe mich über die Wendeltreppe nach oben geschlichen, den Kopf durch die Bodenluke in mein Arbeitszimmer gesteckt. Nichts als die Spanne vom Mund zur Nase war unter der Zudecke zu sehen. Ich lauschte auf seinen Atem. Und lauschte auf die Lokomotive der» postoperativen Euphorie«, die auf mich zudonnerte: Mein Sohn David ist bei mir! Um sieben stellte ich mich unter die Dusche — die war noch immer ein Provisorium, weil ich es in meiner» postoperativen Depression «nicht über mich gebracht hatte, mit dem Installateur einen neuen Termin zu vereinbaren.
Dies waren meine ersten Vorsätze: Ich werde vor ihm so tun, als ob ich mich selbst darüber wunderte, daß ich ihn gleich bei seiner Ankunft in mein Herz geschlossen habe. Ich werde so tun, als ob ich mir nicht gleich nach seiner Ankunft von seiner Mutter Anweisungen eingeholt hätte. Ich werde so tun, als ob ich nichts von seinem Selbstmordversuch wüßte. Ich werde nicht so tun, als ob ich mich zwanzig Jahre lang auf diesen Tag gefreut hätte, weil er, ein Minimum an Menschenkenntnis und Welterfahrung vorausgesetzt, das nicht glauben würde; sondern ich werde so tun, als ob ich zwar immer, aber eher untergründig an ihn gedacht hätte, indem ich mich als Vater fühlte , daß bisweilen aber eine Sehnsucht in mir aufgestiegen sei und ich mir, sozusagen in einem längeren Gedankenspiel, erlaubt hätte, mir vorzustellen, er und ich fänden irgendwie irgendwann zusammen, und sei es auch nur — hier wollte ich eine ironische Brechung einfügen, damit ich nicht als sentimentaler Lügner dastehe —, um vor ihm, meinem Sohn, damit angeben zu können, was aus mir geworden sei, nämlich einer, der zweiundzwanzig Bücher geschrieben hat. Auf alle Fälle werde ich so tun, als ob ich nicht vorhätte, ihn gegen seine Interessen in Wien zu halten.
Daß ich David, Dagmar und mich an diesem Morgen unter der Dusche so selbstverständlich zueinanderrechnete — ohne die geringsten biographischen Kenntnisse aus Davids und Dagmars vergangenen zwanzig Jahren —, daß ich uns drei in ein Familienartiges zusammenfaßte, ließ mich die Melodramatik des Plots, der sich in mir zu spinnen begann, mitsamt ihrem süßen Vokabular annehmen wie den Erlösungssegen aus dem österlichen Kreuzzeichen. (Es war Karsamstag!) Und ich wies mir auch gleich eine Rolle in dem Film zu — die des Padrone , der keine andere Moral kennt, als die Trinität von Vater, Mutter, Kind zu erhalten und zu verteidigen, selbst auf Kosten jedes einzelnen der Zehn Gebote. Ich drehte das Wasser heißer, bis die Haut am Rücken juckte. Ich glühte in meiner Sendung, und daß ich zugleich über dieselbe grinste — und, wie ich, wenn ich den Duschvorhang etwas beiseite schob, schemenhaft in dem sich beschlagenden Spiegel sah, grimmig optimistisch grinste —, ließ mich darauf vertrauen, daß ich von einem Schicksal getragen wurde, das großräumig genug war, um auch seine eigene Verspottung in sich einzuschließen.»Welche Rolle der Mensch auch spielen mag«, versichert uns der über jedes Fragezeichen erhabene Montaigne,»stets spielt er die seine mit.« Ich werde so tun, als ob ich ein Vater wäre.
Und dann die Sensation: Durch Schütteln, Kraulen, Kneten, Reiben war es mir gelungen, so viel Blut in meinen Penis zu pumpen, daß er sich in eine Schräge von fünfundvierzig Grad erhob und eine halbe Minute lang so blieb, während das Wasser auf ihn niederrauschte. Das war durch rein mechanische Einwirkung geschehen, ohne Hilfe der Einbildungskraft. Mein Penis, bildete ich mir ein, war seit der Operation länger und in seiner Mitte schmaler geworden, auch blasser, unterhalb der Eichel eingefallen wie ein altes Gesicht, seine Haut zog vertikale Fältchen, eine Ader trat hervor. Dem Rat des Arztes folgend, hatte ich ihn in den ersten Wochen mehrmals täglich stimuliert, aber wenn ich die Hand von ihm nahm, schmiegte er sich sofort wieder an den Hodensack, als würde er seine Befehle nicht von derselben Zentrale wie meine anderen Organe erhalten. Dr. Strelka hatte mir eine Schachtel Viagra mitgegeben. Acht Stück waren in der Packung. Drei hatte ich noch in Lans genommen, sie hatten tatsächlich gewirkt: Mein Penis war angeschwollen und hatte sich ein wenig aus seinem Bett zwischen den Hoden gestemmt. Was immerhin bewies, daß die Nerven — Professor Strelka:»die an der Prostata entlangführen wie Hosenträger am Bauch«— nicht durchtrennt oder irreversibel geschädigt waren. Für eine Erektion oder gar einen Orgasmus reichte die chemische Hilfe nicht aus. Zwei weitere Tabletten nahm ich, als ich wieder zu Hause in Wien war. Ich bekam einen roten Kopf und Ohrensausen und konnte nicht schlafen. In der Packungsbeilage las ich, das Präparat wirke nur bei bereits vorhandener Erregung, es ersetze nicht ein Aphrodisiakum. Die restlichen drei Tabletten spülte ich in stoischer Verzweiflung die Toilette hinunter. Dabei hatte ich in den letzten Tagen in Lans schließlich doch recht schöne Erfolge erzielt — ohne die blauen Pillen, allein mit der Unterstützung von Phantasien bis dahin unbekannter Art, die nicht um den Geschlechtsakt oder andere auf den Orgasmus zielende Praktiken kreisten, sondern bloße Zärtlichkeiten enthielten — was mich neben der Freude über den Erfolg allerdings auch etwas beunruhigte, weil ich hier eine Vorschau auf ein Geschlechtsleben ohne virile Leidenschaften argwöhnte. Schöne Erfolge — damit meine ich, ich hatte Erektionen zustande gebracht, die mich durchaus in die Lage versetzt hätten, den Geschlechtsakt zu vollziehen; zum Orgasmus habe ich es freilich nicht geschafft — aber das verstimmte mich nicht, ich vermied ihn sogar in halber Absicht, fürchtete ich doch, die alten Empfindungen, die er ohne Zweifel in mir rekrutiert hätte, würden meine neue bescheidene Zufriedenheit stören. In diesem zärtlichen Phantasieren hielt mich Frau Mungenast in ihren Armen, und sie streichelte meinen Penis, wie Margarida den meines Vaters gestreichelt hatte, als der in seiner größten Not auf dem Sofa unserer Wohnung in der Penzingerstraße gelegen war, und mir wurde klar, warum meine Mutter ihr ohne Empörung dabei zugesehen hatte: nämlich, weil sie wußte , daß es Margarida aus Barmherzigkeit tat. Als ich Lans und Carl und Frau Mungenast verließ, büßte die Vision jede Mächtigkeit ein. Was mir Trost und Zuversicht gegeben hatte, erschien mir in Wien infantil und pervers. Also versuchte ich es mit rohem aneidetischem Wichsen. Aus einem Diskussionsforum im Internet, an dem sich Betroffene mit ähnlichem Schicksal beteiligten, erfuhr ich von Fällen, in denen schon bald nach der Ektomie der Prostata die Potenz für kurze Zeit einigermaßen hergestellt, aber von einem Tag auf den anderen erloschen war, und zwar für immer. Ich begann, mich damit abzufinden, daß ich so ein Fall sei. Die morgendlichen Übungen unter der Dusche führte ich zwar noch fort, aber ohne Hoffnung, bald auch ohne Verzagtheit, einfach nur, weil es sich für einen anständigen Menschen gehörte, sich auf diesem heiligen Feld nicht geschlagen zu geben — ein Don Quixote der sexuellen Zuversicht, von jeglicher Lust so weit entfernt wie das Schneewittchen hinter den sieben Bergen. Den Erfolg an diesem Karsamstag morgen, davon war ich überzeugt, verdankte ich meinen Gedanken an Dagmar — die Geliebte, die Frau, die Mutter meines Sohnes … so ungefähr … alles Elemente des Plots, den ich mir unter der Dusche ins Herz diktierte; und mich gleichzeitig dabei verfluchte, weil ich offensichtlich nichts, aber auch gar nichts mehr ohne Ironie wahrzunehmen vermochte, auch die Liebe nicht — nichts, ohne mich irgendeiner Überlegenheit zu versichern. Dennoch hätte ich jauchzen wollen!
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