Der dritte im Bunde war ein junger Mann namens Jossif Aszaturow. Er studierte Ingenieurwissenschaften und hatte es als Mitglied eines studentischen Schachclubs an der Universität zu einer bescheidenen Berühmtheit gebracht — vor allem aber durch sein Aussehen. Er war von einer ins Romantische ragenden Häßlichkeit — Carls Schilderung erinnerte mich in der Tat an das Geschöpf aus Mary Shelleys Frankenstein —, ein Riese mit einem in die Länge gezogenen Gesicht, maskenhaft, blaß und wachsglatt. Seine Nase war flach und in sich verkrümmt, die Augen punktklein und rosarot gerändert. Nach jedem Wort, das er von sich gab — er habe in einer abgehackten Art gesprochen, die an einen Wahnsinnigen denken ließ —, bewegten sich die Lippen mümmelnd weiter, als formulierten sie stumm, was eigentlich gemeint, aber nicht ausgesprochen worden war. Er sprach befriedigend Deutsch, besserte manchmal mit ein paar Brocken Französisch nach. Wenn sich das Stammeln aber erst gelegt hatte, wurde einem die Freude zuteil, sich mit einem brillant denkenden Mann zu unterhalten, der die komplexesten Zusammenhänge in einer Klarheit darzustellen vermochte, als wären sie mit dem» Tau des Paradieses gewaschen«— sagte Ksenia Sixarulize.
Carl erzählte, Emmy Noether sei bestürzt gewesen über Aszaturows Häßlichkeit. Aber nicht, weil sie an seinem Schicksal besonderen Anteil nahm, sondern weil ihr drückend bewußt wurde, daß ihre eigene Häßlichkeit in Gegenwart dieser anderen nicht etwa relativiert — wie die Schönen und Normalen die Wirkung von Häßlichkeit falsch einschätzen —, sondern verstärkt wurde; daß ihr unförmiger Körper neben Aszaturows extremförmigem Körper sein Unschönes noch rücksichtsloser preisgab. Ein häßlicher Mensch neben einem schönen Menschen wird vielleicht zum Kontrast degradiert, aber weil sich durch ihn die Schönheit des anderen in gewisser Weise erst manifestiert, ja definiert, fällt ein Widerschein des Glanzes auch auf ihn. Mag sein, daß Schönheit in Schönheit untergeht, ein Häßliches jedoch macht auf ein anderes Häßliches erst aufmerksam, und am Ende erscheinen beide häßlicher als zuvor, als sie noch einzeln vor das Auge traten. — Ebendies war der Inhalt des einzigen Gesprächs zwischen Frau Professor Noether und ihrem Studenten Candoris, in dem es, über das Alltägliche hinaus, nicht um ihre geliebte Mathematik ging, sondern eben um» Persönliches«; nämlich um» die Wunden, die sie sich selbst schlage, wenn sie die Deduktionen an ihrer eigenen Person exemplifiziere«— andere Worte, um ihr Weh zu beschreiben, hatte die Doktorvaterin nicht zur Verfügung.
Dieses Gespräch hatte eine Vorgeschichte.
4
Etwa zwanzig Leute hatten sich an diesem Abend nach Emmy Noethers Vorlesung in Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagins Büro versammelt. Frau Dr. Sixarulize erzählte von ihrer Arbeit. Seit über dreißig Jahren sammelte und kommentierte sie Märchen aus ihrer Heimat Georgien, aber auch aus den angrenzenden Ländern des Kaukasus, aus Armenien, Aserbaidschan, Märchen der Mingrelier, der Lazen, der Swanen, Azeri, Tscherkessen, Tschetschenen, der kaukasischen Kurden ebenso wie der mongolischen Kalmücken, der Tadschiken, Usbeken, Turkmenen, Inguschen, Osseten, Abchasen, dazu Märchen aus der Türkei und aus Persien. In unzähligen Artikeln und einem Dutzend Büchern hatte sie sich immer wieder auch theoretisch mit dem Märchen auseinandergesetzt. Und dies sei, so legte sie dar, die Quintessenz ihrer Forschung: daß es im Märchen einzig um Gewinn und Verlust gehe und daß demzufolge nur zwei Typen von Figuren auftreten — der Sieger und der Verlierer. Als wäre sie selbst einem Märchen entstiegen — gekrümmt, plötzlich, nie zu allen Anwesenden zugleich sprechend, sondern immer nur zu einem —, dozierte sie:»Alle Typen im Märchen sind dieser Dichotomie untergeordnet: die Klugen sind die Sieger, die Dummen die Verlierer, die Schönen sind die Sieger, die Häßlichen die Verlierer, die Bösen sind die Verlierer, die Guten sind die Sieger. «Das Märchen erzähle nicht von der Entwicklung einer Person — schon aus diesem Grund tauge es nicht zu didaktischen Zwecken —, sondern es liefere die Begründung für einen Zustand.»Warum ist dieser Mensch schön? Weil er ein Sieger ist. Warum ist er häßlich? Weil er ein Verlierer ist. Das Märchen kennt keine Moral. «Dem aufgeklärten Geist des frühen neunzehnten Jahrhunderts sei diese Tatsache freilich unerträglich gewesen, und so seien aus Märchen Kindergeschichten mit erhobenem Zeigefinger geworden. — Frau Sixarulize war, während sie sprach, durch den Raum gegangen, und als sie geendet hatte, sah sie sich um, und der einzige freie Sessel war hinten am Fenster, wo Emmy Noether neben Jossif Aszaturow saß. Also setzte sie sich zu ihnen.
Nun ergriff Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin das Wort. Er knüpfte an die Gedanken der Volkskundlerin an und kam auf die Philosophie des deutschen Idealismus und den Begriff des Schönen bei Hegel zu sprechen; nämlich, daß das Schöne nichts anderes sei als die Idee des Schönen und daß man dies so zu verstehen habe, daß das Schöne selbst als Idee, und zwar als Idee einer bestimmten Form, nämlich als Ideal, gefaßt werden müsse.»Das Häßliche ist keine bloße Abwesenheit des Schönen, sondern eine positive Negation desselben. Was seinem Begriff nach nicht unter die Kategorie des Schönen fällt, das kann auch nicht unter die des Häßlichen subsumiert werden. Ein Rechenexempel ist nicht schön, aber auch nicht häßlich — Sie werden mir sicher recht geben, Frau Dr. Noether —, ein mathematischer Punkt, der gar keine Länge und Breite hat, ist nicht schön, aber auch nicht häßlich.«
Die meisten der Anwesenden verstanden die deutsche Sprache sehr gut, doch es war wenig wahrscheinlich, daß sie den Ausführungen Lawrentij Sergejewitschs folgen konnten. Und weil auch Carl selbst Schwierigkeiten hatte, die abstrakten Gedanken in einem halbwegs vernünftigen Sinn zusammenzuhalten, fragte er sich, an wen sich die Worte des Dozenten eigentlich richteten.
«Das Schöne«, fuhr Pontrjagin fort,»bestimmt sich als das sinnliche Scheinen der Idee. Und das Häßliche? Sehen wir es uns an! Es existiert. Es existiert einfach. Aber hinter dem Häßlichen gibt es keine Idee. Es gibt kein Krebsgeschwür ohne den Menschen. Aber es gibt Menschen ohne Krebs.«
Der kleine Mann saß auf seinem Schreibtisch, die Schenkel kräftig und breit gespreizt, die graue Hose prall sitzend, mit beiden Händen klammerte er sich an die Tischplatte zwischen seinen Beinen fest, als reite er auf ihr. Den Kopf hielt er leicht schräg nach oben gerichtet. Er blickte beim Sprechen niemanden an. Es war vielleicht nicht klar, zu wem er sprach; aber es war doch jedem klar, was hier geschah: Mit den verrenkten Worten eines deutschen Philosophen des vorangegangenen Jahrhunderts wurde definiert, was Schönheit ist. Und gerade weil die Argumente und Ableitungen in ihren dialektischen Verzahnungen nicht mehr bis an ihr Ende nachvollziehbar waren für den, der diesen Jargon nicht beherrschte, erschien der eigentliche Gegenstand des Diskurses so unerbittlich deutlich, und die Verve, in der Pontrjagin sprach, veredelte Ästhetik obendrein zum Argument eines moralischen Edikts; und somit ging es nicht mehr nur um abstrakte Schönheit und ihr abstraktes Gegenteil, sondern: um schöne Menschen und häßliche Menschen.
Und da fiel es auf. Plötzlich waren die Blicke der anderen auf die drei Häßlichen hinten bei den Fenstern gerichtet: den armenischen Riesen, die georgische Hexe, die deutsche Dicke. Und es wurde still im Büro von Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin. Carl meinte, der einzige Zuhörer zu sein, der nicht nach hinten blickte.
«Das Häßliche«, führte der Dozent seine Rede nach einer Weile weiter und sah weiter nirgendwoanders hin als hinauf zur Decke,»erinnert das Schöne in jedem Augenblick daran, daß es eine Kategorie des Sinnlichen ist. Ohne das Häßliche würde sich das Schöne von seiner Erdenschwere lösen, und es wäre — göttlich! Oh, ich danke Frau Professor Sixarulize, daß sie zwei so wunderbar altmodische Worte wie Sieger und Verlierer gebrauchte. Ich verstehe nichts von Märchen und kann daher nicht beurteilen, ob Märchen Moral haben oder nicht. Ich möchte aber doch darauf hinweisen, daß Sieger und Verlierer, dem üblichen Sprachgebrauch folgend, moralische Begriffe sind, und zwar nicht nur, wenn Sieg oder Niederlage sich als gerecht oder ungerecht herausstellen. Ich bin Mathematiker wie die meisten von Ihnen, meine Damen und Herren, und ich denke, ebenso wie die scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten, die einige mathematische Probleme seit vielen Jahren darstellen, der Tatsache geschuldet sind, daß die notwendigen Axiome noch nicht gefunden wurden, kann es doch sein, daß die Probleme bei der Bestimmung von ›Was ist schön?‹ und ›Was ist häßlich?‹ daher rühren, daß es uns bisher nicht gelungen ist — oder daß wir es noch gar nicht versucht haben —, die Ästhetik auf Axiome zurückzuführen und ihre Urteile damit einer wissenschaftlichen Prüfung auszusetzen. Ich gebe zu, die Ästhetik unterscheidet sich von der Logik wesentlich auch darin, daß letztere nie, erstere aber so gut wie immer durch Versuch am lebenden Objekt verifiziert werden muß. Wenn ich mich einmal derb ausdrücken darf: Man braucht den, der behauptet, daß eins und eins nicht zwei sei, nicht zu erschlagen, um zu beweisen, daß eins und eins doch zwei ist. Wenn ich logische Fehler eliminiere, eliminiere ich logische Fehler und mehr nicht. Deshalb ist die Logik — und nun verwende ich zum zweitenmal bereits diesen altmodischen Ausdruck — göttlich. Denn die Logik ist an keine Sinnlichkeit, keine Weltlichkeit, keine Körperlichkeit gebunden. Sie ist Idee. Reine Idee. Die Ästhetik dagegen, die Idee des Schönen muß, um sichtbar zu werden in der Welt, sich in sinnlich wahrnehmbare Gestalt verwandeln. Und nach dieser Metamorphose begegnet sie dem Häßlichen. In der blutvollen Wirklichkeit hat das Wort eliminieren allerdings andere Konsequenzen als in der Mathematik …«
Читать дальше