Emmy Noether betreute Carls Arbeit; ihre Erwartungen waren hoch, seine Ambitionen waren es ebenfalls. Er habe für seine» Doktorvaterin«(sie selbst schlug vor, daß er sie so nenne) die größtmögliche Anzahl von positiven Gefühlen empfunden. Diese Gefühle standen in seinem Herzen wie Soldaten in der Kaserne, Uniform und Haut makellos, weil sie noch niemand ins Feld geschickt hatte. Das heißt, Gespräche, die üblicherweise» persönliche «genannt werden, führten sie (bis auf eine erschütternde Ausnahme) nicht. Konflikte waren also so gut wie ausgeschlossen. Bei aller Kameradschaftlichkeit im Umgang legte Emmy Noether nämlich großen Wert darauf, daß stets eine letzte Distanz gewahrt blieb — daß zum Beispiel brüllendes Gelächter mit Schenkelklopfen ihrerseits nicht als Aufforderung an ihre Studenten gesehen werden wollte, es ihr gleichzutun. Sie war ein Kamerad, kein Kumpan. Die meisten trafen die Grenze nicht, schossen darüber hinaus oder verhielten sich aus Angst davor zu still; beides strengte auf die Dauer an, sowohl die Frau Professor als auch ihre Studenten. Carl dagegen, weil er einen ähnlichen Umgang mit seinen Mitmenschen schätzte, fühlte sich in ihrer Gegenwart rundweg frei (wenngleich manchmal Situationen eintraten, in denen er sich nicht wohl fühlte).»Ein bißchen etwas von dem, was die Norddeutschen einen Schnösel nennen, hatte ich an mir, das muß ich zugeben. Ich war zweiundzwanzig, benahm mich wie ein welterfahrener Vierzigjähriger und hielt fünfundneunzig Prozent der Menschheit für dümmer und höchstens ein Prozent für gescheiter. Und ich konnte ein Gefühl einfach nicht loswerden, nämlich, daß geistige Unterlegenheit nach oben ansteckend wirke, und zwar über autobiographisches Erzählen. Deshalb hielt ich bei fünfundneunzig Prozent der Leute die Luft an, wenn sie vor mir über sich selbst zu reden begannen. «Das ist gewiß übertrieben — sollte es wohl auch sein, nicht zuletzt, um zu verdecken, daß er eben doch so dachte und in abgemilderter Form sein Leben hindurch auch dabei geblieben war. Daß Emmy Noether ähnlich wie er niemanden auf Herzensnähe an sich heranließ, hatte andere, gewiß nicht dandyhafte Gründe; im Gegenteil: Arroganz war ihrem Wesen völlig fremd. Sie hatte Angst, am Ende ausgelacht zu werden. Das hätte Carl damals nicht für möglich gehalten; bald aber wußte er es.
Sie verbrachten täglich Zeit miteinander, entweder standen sie im Seminarraum vor der Tafel, beide eine Kreide in der Hand, oder sie suchten sich gemeinsam aus der Präsenzbibliothek im Mathematischen Lesezimmer Literatur zusammen, oder sie spazierten zum Bismarckturm hinauf oder an der Leine entlang, an warmen Tagen im Sommersemester manchmal bis weit ins Land hinaus. Sie» redeten Mathematik«, wie Emmy Noether sich ausdrückte.»Ihr luzider Geist«, erinnerte sich Carl,»war für ihren Zuhörer auch eine permanente Prüfung der eigenen Integrität. Sie entwickelte aus dem Handgelenk Ideen, die ein anderer zu Höhepunkten seines Denkens erklärt hätte. Einen Tag später hatte sie vergessen, daß sie es gewesen war, die so brillante Ableitungen und Querverbindungen hergestellt hatte. Die Versuchung für ihren Zuhörer, ihre Gedanken als seine eigenen auszugeben, war entsprechend groß.«
2
Carl freundete sich mit einem Physikstudenten an. Der hieß Eberhard Hametner, war zwei Jahre älter als Carl und stammte ebenfalls aus Wien. Sie boxten im selben Club. Hametner hatte ihn nach einem kurzen, gut gepolsterten Kampf angesprochen, er sei doch am Hegelgymnasium gewesen, er selbst habe das Akademische Gymnasium besucht; er erinnere sich noch sehr gut, Carl habe als Sechzehnjähriger die Erlaubnis der Schulbehörde bekommen, an dem ehrwürdigen Redewettbewerb der Wiener Gymnasien teilzunehmen, zu dem eigentlich nur angehende Maturanten zugelassen waren; eine Woche lang sei in ihrer Klasse über nichts anderes gesprochen worden als über dieses frühreife Rhetorikgenie der Hegelianer.»›Darwin und die möglichen Folgen‹, wenn ich mich nicht täusche?«Carl bat ihn, mit niemandem über die Sache zu sprechen.
«Hametner«, so charakterisierte Carl seinen Freund,»war ein patenter Bursche, wenngleich ein wenig oberflächlich. Was sich nicht mit Optimismus und guter Laune behandeln ließ, das schob er beiseite. Darin war er mir nicht unähnlich. Und das ist wohl auch der Grund, warum wir bei allem Gleichklang der Interessen, trotz der gemeinsamen Erinnerungen an unser Wien und trotzdem wir beide den Boxsport liebten, doch im Innersten nicht allzuviel miteinander anzufangen wußten. Es fehlte die Spannung. Ich ging ihn, er ging mich eigentlich nichts an. Der Kontrapunkt fehlte, und ich meinte, ich würde nie auf ihn und er würde nie auf mich Einfluß ausüben können. Aber das stimmte nun ganz und gar nicht. Ob und inwieweit ich in seinen Lebensweg eingegriffen habe, kann ich nicht beurteilen, aber er — darüber wurde ich mir erst viel später klar —, er hatte großen Einfluß auf mein Leben — keinen Einfluß auf meine Person, das nicht, aber auf mein Leben.«
Hametner war — wie fast alle seine Kommilitonen — davon überzeugt, daß er dereinst in die Annalen der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts aufgenommen würde. Die Physiker bewunderten die Mathematiker, weil sie diese im Besitz der Wunderwaffe wähnten, mit deren Hilfe die Schlösser zu den letzten Welträtseln aufgesprengt werden konnten; gleichzeitig belächelten sie sie auch.»Ihr seid euch gar nicht bewußt, wie wertvoll euer Gehirn ist«, sagte Hametner einmal zu Carl.»Und deshalb werden wir Physiker das Rennen machen. In eurem Elfenbeinturm ist zuwenig Platz für ein Stadion mit Aschenbahn, Tribüne und Presse. «Ein durchtrainiertes Mannsbild, nur wenige Zentimeter kleiner als Carl, der sich im Faustkampf mit der Rechten zurückhielt.
«Zu jener Zeit«, erklärte mir Carl mit einem resignierten Lächeln,»war Göttingen tatsächlich die Welthauptstadt des exakten Geistes, und es gehörte zur Tagesroutine, in den Cafés oder der Mensa oder in der Bibliothek neben einem oder manchmal sogar mehreren Nobelpreisträgern zu sitzen, solchen, die ihn bereits bekommen hatten, und solchen, auf die er noch wartete. Etliche waren darunter, die ihn nur deshalb nicht bekamen, weil er nicht häufiger als einmal im Jahr vergeben wird und die schwedische Akademie ja nicht ausschließlich aus dem Göttinger Reservoir schöpfen konnte.«— Unter anderem studierten und lehrten damals in Göttingen: Richard Courant, Paul Dirac, Georg Gamow, Enrico Fermi, Edward Condon, James Franck, Wolfgang Pauli, Max Born, Werner Heisenberg und auch der russische Mathematiker Lev Schnirelmann, dem man zu jeder Zeit des Tages und der Nacht in abgerissenem Zustand in den Gassen der Stadt begegnen konnte und der, gerade ein Jahr älter als Carl, in dem nach niemand anderem als nach ihm benannten» Schnirelmannschen Satz «dem Beweis der Riemannschen Vermutung einen gewaltigen Schritt näher gekommen war.
Und dann war da noch Geoffrey Brown, ein manchmal gefährlich spaßiger Schnelldenker mit einem Fuchsgesicht. Er hatte in seiner Heimat England bei Ernest Rutherford studiert und als Assistent in dessen Cavendish-Laboratorium mitgearbeitet. Brown war ein guter Freund von Hametner, und er war der festen Überzeugung, daß der Fortschritt der Physik vor allem dadurch gebremst würde, daß die Physiker keine allzu großartigen Mathematiker seien. Das war auch der Grund, warum er um Carl warb, damit er ihrem Zwei-Mann-Club beiträte. Von nun an ging Carl fremd — so bezeichnete er es vor sich selbst —; er» betrog «seine Doktorvaterin, das heißt: es kam nicht selten vor, daß er, nachdem er zusammen mit Emmy Noether einen langen Spaziergang unternommen hatte, den gleichen Weg noch einmal zusammen mit Hametner und Brown ging. Er konnte sich denken, was sie zu seinen Physikerkontakten gesagt hätte, und etwas Ähnliches sagte sie auch, als er irgendwann das Gespräch auf die Kernphysik brachte, nämlich:»Die betreiben angewandte Mathematik, und das ist Kinderkram.«
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