Geoffrey Brown war mit einer Studentin aus Manchester zusammen, die nach Göttingen gekommen war, um deutsche Literatur zu studieren. Sie hieß Helen Abelson und hatte, wie Carl sich ausdrückte,»eine tyrannische Art, sich nicht wohl zu fühlen«. Sie begleitete die drei Freunde manchmal auf ihren Spaziergängen. Sie wußte, daß Hametner in sie verliebt war, er hatte es ihr nämlich gestanden, und sie machte ihm ständig Hoffnungen, und das nur, weil sie verrückt danach war, von ihm zu hören, daß er sich zwischen der Loyalität zu seinem Freund und seiner Liebe für die Liebe entscheiden würde. Carl sah, wie Hametner litt, und einmal paßte er sie vor dem Germanistischen Institut ab und stellte sie zur Rede. Carl:»Sie sagte, ich verstehe das völlig falsch, sie sei in Wahrheit nur in mich verliebt. Ich sagte, sie solle den Mund halten oder etwas Ähnliches.«
Eberhard Hametner war Kommunist. Seine Eltern gehörten zwar zum Wiener Bürgertum, und sein Vater war als Besitzer einer Möbelfabrik gar ein Kapitalist. Bereits als Zwölfjähriger hatte er sich für Politik zu interessieren begonnen — Auslöser sei das Attentat des Arbeiterführers Friedrich Adler auf den Ministerpräsidenten Stürgkh gewesen —, und als nach dem Zusammenbruch der Monarchie die Kommunistische Partei Deutschösterreichs gegründet wurde, trat er als einer der Jüngsten bei. Er stritt sich gern mit Geoffrey Brown, der, nur um besser Kontra zu geben, Das Kapital von Marx, Die Dialektik der Natur von Engels und Der Linksradikalismus als Kinderkrankheit des Kommunismus von Lenin las. Carl bezeichnete Hametners Freund einen» komfortablen, insularen angelsächsischen Antikommunisten«, der von sich behauptete, keines seiner Argumente gegen die Linke aus der bürgerlichen oder gar rechten Presse, sondern ausschließlich aus sozialistischen und kommunistischen Schriften zu beziehen.
Wie in etlichen anderen deutschen Universitätsstädten gab es seit Beginn der zwanziger Jahre auch in Göttingen eine Gesellschaft, die, ihren Statuten gemäß, die deutsch-russische Freundschaft pflegte und sich unter anderem zur Aufgabe stellte, sowjetische Wissenschaftler zu Vorträgen einzuladen. In der Villa des Tuchfabrikanten Levin in der Merkelstraße fand so ein Vortrag statt. Vor handverlesenen Gästen unter einer opulenten Stuckdecke sprach Professor Abraham Joffé aus Leningrad. Hametner war Mitglied der Gesellschaft, und es gelang ihm, für Carl eine Einladung zu besorgen. Der Gast erzählte Wunderdinge über die Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens im Sozialismus, ehe er zu seinem eigentlichen Thema kam, nämlich dem Atomkern und den neuesten Versuchen, in denselben einzudringen. Anschließend wurde diskutiert. Emmy Noether saß in der ersten Reihe zwischen David Hilbert und James Franck, sie trug ein schwarzes Taftkleid mit Rüschen am Saum und hatte sich eine Goldbrosche an den Ausschnitt gesteckt. Carl hatte ihr noch am Nachmittag erzählt, daß er zum Vortrag von Professor Joffé eingeladen sei; sie hatte nicht erwähnt, daß auch sie dasein werde. Ihm fiel auf, daß Joffé — der deutsch sprach — die meiste Zeit seines Vortrags mit ihr Blickkontakt hielt, als spräche er nur zu ihr; und das, obwohl sich hinter ihrem Rücken ein Saal voll mit Physikern reihte, die seinen Ausführungen wahrscheinlich leichter, sicher aber mit beträchtlich größerer Gier folgten als sie.
Zwei Personen im Auditorium fesselten Carls Aufmerksamkeit: Zunächst ein Mann mit verwirbeltem weißem Haar, der bei den Fenstern stand und weniger den Vortragenden als das Publikum beobachtete — es war Wickliff Rose, der aus den Vereinigten Staaten von Amerika nach Deutschland gekommen war, um Stipendiaten anzuwerben, die an einer der feinen Universitäten drüben, ausgestattet mit Geld aus der Rockefeller-Stiftung, ihre Studien fortsetzen und vielleicht für immer dort bleiben sollten. Der Mann hatte ihn zwei Tage zuvor in seiner Bude aufgesucht; auf wessen Empfehlung hin, hatte er nicht verraten wollen.
Besonders aber war Carl fasziniert von einem jungen Amerikaner, der zusammen mit Mr. Rose gekommen war; fasziniert heißt in diesem Fall: er war sowohl angezogen als auch abgestoßen von ihm — ein spindeldürrer Mann Anfang der Zwanzig, der sogar während des Vortrags eine Zigarette an der anderen ansteckte, mit Augen von einer Bläue, daß man hätte meinen können, es handle sich dabei um das Ergebnis eines chemischen Experiments. Er beteiligte sich lebhaft an der Diskussion, sprach dabei abwechselnd deutsch, englisch und französisch, je nachdem, an wen er sich gerade wandte, mied weitgehend den üblichen Fachjargon, zitierte Shakespeare und John Donne, warf bisweilen den Kopf in den Nacken und verdrehte die Augen, als überkomme es ihn, und war am Ende der Mittelpunkt der Versammlung. — Am nächsten Tag brachte Brown den jungen Amerikaner mit zum Spaziergang. Sein Name war Julius Robert Oppenheimer.
Sie wanderten zu viert weit ins Land hinaus. Bald sprach nur noch Oppenheimer, und Carl, Brown und Hametner lauschten seinen Analysen und Assoziationen, flickten höchstens ergänzend oder bestätigend Stücke aus dem eigenen Fundus an. Zusätzlich zu den Fakten brachte Oppenheimer einen philosophisch-erkenntnistheoretischen Aspekt in die Überlegungen zur Quantenphysik ein, der bis dahin, zumindest in den Göttinger Kreisen, nicht vorhanden gewesen war. Legten die Entdeckungen der Atomphysik nahe, die Unanzweifelbarkeit der Zweiheit zwischen dem Subjekt des Beobachters und dem Objekt des Beobachteten aufzugeben? Wie konnte man intellektuell redlich weiterleben, nachdem sich herausgestellt hatte, daß zwei sich gegenseitig ausschließende Aussagen über die gleiche Sache beide als wahr bezeichnet werden mußten? Was, wenn der Begriff der Komplementarität nicht allein auf das Elektron beschränkt war, das manchmal als Welle mit stetiger Fortpflanzung und charakteristischer Interferenz, manchmal als endliches und individuelles Partikel mit einer zu jeder Zeit bestimmten Lage erschien, sondern wenn diese zwei einander logisch ausschließenden Seinsformen in allem wirksam waren, also auch in uns, und zwar gleichzeitig, so daß wir uns, je nachdem, unter welchem Gesichtspunkt wir unser Leben betrachteten, sowohl als Sterbliche als auch als Unsterbliche fühlen durften? Was, wenn die Erkenntnisse der Physik uns eines Tages zwingen, die Verknüpfung von Ursache und Wirkung als Grundlage jeder Weltbetrachtung und Weltanalyse nicht mehr als zwingend anzusehen? Waren die Naturgesetze nur eine Illusion?
«In Oppenheimers Gegenwart«, so schilderte Carl die Wirkung dieses Mannes auf ihn und seine beiden Freunde,»geriet alles in einen Ausnahmezustand, jedes Wort, jede Geste, jede Frage, jedes Schweigen. Wenn die Wirklichkeit nichts ist, dann gibt es nichts Verläßliches auf der Welt außer den Illusionen. Dann ist, was ist, das, was einer bestimmt, daß es sei. Eine größere Freiheit war nicht denkbar. An ihr mußte von nun an der Grad der eigenen Freiheit gemessen werden. Glaub mir, wir schwankten zwischen Entsetzen und Euphorie.«
Wickliff Rose besuchte Carl ein zweites Mal in der Jüdenstraße. Mr. Oppenheimer sei begeistert von ihm, sagte er. Herr Candoris, so habe Oppenheimer geschwärmt, sei der einzige Mathematiker, den er bisher kennengelernt habe, dem die Mathematik für sich nicht genüge, der sie als ein reines Instrument der Physik zur Verfügung stellen wolle — das heißt: dem Leben. Carl konnte sich nicht vorstellen, welche seiner Äußerungen Oppenheimer zu diesem Urteil veranlaßt haben könnte. Aber er fühlte sich geschmeichelt, wie sollte es anders sein, und durch die Einladung in die Vereinigten Staaten von Amerika fühlte er sich natürlich auch geschmeichelt, besonders, weil sie nun bereits zum zweitenmal vorgetragen wurde.
«Ich besprach mich mit Hametner. Ich wußte, er hätte sich liebend gern von Mr. Rose anwerben lassen, er wäre sofort aufgebrochen. Nur, auf ihn hatte es der Keiler der Rockefeller Foundation nicht abgesehen. Aber Hametner war nicht neidisch. Im Gegenteil. Er drängte mich, das Angebot anzunehmen. ›In Amerika‹, rief er aus, ›in America, in Amerika wird der Schauplatz aller zukünftigen Wissenschaft sein!‹ Wobei er das zweite America amerikanisch aussprach. ›Das sagen Sie als Kommunist?‹ entgegnete ich ihm. ›Ja, das sage ich als Kommunist! Was glauben Sie denn? Daß es zwischen New York und Los Angeles keine Genossen gibt?‹ Er stampfte auf seinen Herkulesbeinen durch mein schiefes Zimmer und redete bis zum frühen Morgen auf mich ein. Eigentlich hatte ich meinen Entschluß längst gefaßt: Ja, ich wollte das Angebot von Mr. Rose annehmen. Und Eberhard ahnte es natürlich, und er war glücklich, glücklich, daß es einer von uns schaffen würde. ›Candoris, seien wir ehrlich, Sie haben gar keine andere Wahl.‹ — Dieser Satz war es. O ja, manchmal weiß man so etwas. Manchmal kann man rückblickend sehr genau einen Punkt markieren. An dieser Stelle war eine Weggabelung. Ich wußte ja, wie er es meinte. Er wollte sagen, ich sei meinem guten Schicksal erlegen, ich solle mich einlassen auf das Gute, solle nicht hadern mit dem Guten, es sei ja doch höheren Ortes beschlossen, daß ich ein Erwählter sei, ein Bevorzugter. Daß es doch etwas Wunderbares sei, die Verantwortung für sein Leben in den guten Händen des Schicksals zu wissen. Hingabe, Hingabe! Daß die Entscheidung ja gar nicht bei mir liege, daß die guten Kräfte längst für mich entschieden hätten. Ich aber vervollständigte seinen Satz in mir: Sie haben gar keine andere Wahl, Candoris, als sich in den immerwährenden Ausnahmezustand dieses irisierenden Herrn Oppenheimer und seiner Welt zu begeben. Und entgegen meiner Absicht, die noch eine halbe Minute vorher so fest gestanden hatte, und ohne jede weitere Überlegung antwortete ich: ›Nein, es ist definitiv, und ich bitte Sie, Hametner, nie wieder davon anzufangen. Ich gehe nicht nach Amerika!‹«
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