Für das Wintersemester 1928/ 29 und das anschließende Sommersemester wurde Emmy Noether als Gastprofessorin nach Moskau eingeladen. Auf Empfehlung von Professor Abraham Joffé. Er war in Wahrheit aus dem gleichen Grund wie Wickliff Rose nach Göttingen gekommen, und auch er hatte es in erster Linie auf die Mathematiker abgesehen. Einer spontanen Eingebung folgend, bat Carl, sie begleiten zu dürfen — als ihr Assistent, unentgeltlich selbstverständlich; den Aufenthalt und die Reise werde er aus eigener Tasche bezahlen. Emmy Noether war einverstanden, die Gastgeber waren es ebenfalls.
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Emmy Noether war gern in Moskau. Gegen Ende ihres Lebens in Princeton — so hätten ihre Kollegen berichtet — sei sie immer wieder ins Schwärmen geraten.»In Göttingen«, habe sie gesagt,»waren Mathematiker unter Mathematikern, und hier in Princeton ist es das gleiche. In Moskau aber brauchst du nur den Finger zu heben und zu rufen: Hallo, ich will etwas über Maximalbereiche aus ganzzahligen Funktionen erzählen! und schon rennen dir alle möglichen Leute das Haus ein.«
Die Sowjetunion hatte in der Mitte der zwanziger Jahre begonnen, sich von der Welt abzukapseln. Die Wissenschaftler kamen immer schwerer an ausländische Literatur heran, über die Forschungen in anderen Ländern trafen nur spärliche und schwer überprüfbare Nachrichten ein (deshalb schickten die Universitäten Leute wie Abraham Joffé aus, um Wissenschaftler ins Land zu holen, solange das noch möglich war). Zugleich aber stellten die sozialistischen Machthaber in ihren Reden und Mahnschriften außerordentliche Ansprüche — Wissenschaft und Sozialismus, hieß es, bedingten einander, der historische Materialismus sei die erste und einzige Weltanschauung auf wissenschaftlicher Basis, also objektiv; das Wort Weltanschauung sei von nun an, weil subjektiv, obsolet. Beklommenheit und Minderwertigkeitsgefühle drückten Professoren und Studenten nieder. Sie hielten sich einerseits als der hochbegabtesten Gesellschaft zugehörig, andererseits verunsicherte und verbitterte sie die offensichtliche Tatsache, daß sie am internationalen Diskurs nur marginal oder gar nicht mehr teilhatten. Wenn man in den warmen Monaten auf den Hof der Moskauer Universität herabsah, zeigte sich einem ein eigenartiges Bild: Studenten standen beieinander, nie mehr als fünf, nie weniger als drei, sie blickten aneinander vorbei, ihre Oberkörper wiegten sich in nickenden Bewegungen, was auf zufriedenste Zustimmung schließen ließ, ihre Lippen öffneten und schlossen sich, wie sich Lippen bei Gesprächen über Sterne oder Birnen oder antike Wasserleitungen öffnen und schließen mochten; aber wenn man das Ohr auf diese Menschen herabsenkte, hörte man nichts; und wenn man eine Sonde in die Herzen und Hirne dieser Menschen eingeführt hätte, hätte man erkannt, daß sich ihre Lippen auch nicht in stillen Selbstgesprächen bewegten, sondern allein, um die Person unauffällig zu halten, denn auffällig konnte schon jemand sein, der mit anderen zusammenstand und nichts sagte, weil der sich womöglich etwas dachte, was er sich laut nicht zu sagen traute. Als gegen Ende der zwanziger Jahre eine gewisse Liberalität zu keimen begann — zur Blüte brachte sie es freilich nicht —, wurde das kleinste Entgegenkommen als große Freiheit gefeiert — und ausländische Gastprofessoren, nur weil sie eben vom Ausland kamen, als Weltspitzenkapazitäten empfangen. — Haben die Gäste aus Deutschland diese Bedrücktheit nicht wahrgenommen?» Ich schon, sie nicht«, urteilte Carl.
Emmy Noether hielt ihre Vorlesungen auf deutsch, begleitet von einem Dolmetscher — der allerdings nur selten einsprang, die meisten Studenten hatten in der Schule hinreichend Deutsch gelernt. Der Hörsaal war zum Bersten voll. Auch viele Studenten aus anderen Fachbereichen waren gekommen, dazu Interessierte, die gar nicht an der Universität tätig waren — weil sie alle die Frau erleben wollten,»deren Ansehen in der Welt so einzigartig ist«(Vorlesungsverzeichnis WS 1928). Carl saß unter den Zuhörern, seine Assistententätigkeit beschränkte sich darauf, wie in Göttingen mit seiner Doktorvaterin spazierenzugehen und» Mathematik zu reden«. Emmy Noether wohnte in einem winzigen Zimmerchen im Erdgeschoß der Brodnikov-Straße, das entweder frostkalt oder überheizt war; Carl hatte Quartier in dem (relativ) vornehmen Hotel Leonjuk in der Rybnyi-Straße bezogen — was ihm peinlich war, schließlich stand er in der Rangordnung unter seiner Professorin; aber nicht peinlich genug, um auf die Annehmlichkeit beispielsweise einer Badewanne zu verzichten. Die Vorlesungen fanden am späten Nachmittag statt. Jeden Morgen holte Carl Emmy Noether ab, und sie spazierten über die Poljanka, wo sie sich süßes Brot kauften, das sie bei den buntgestrichenen Kiosken zu Limonade, die nach Rasierwasser roch, aßen. Weder der Lärm noch das Gedränge hielten sie ab, nach diesem Frühstück an der Moskwa entlangzugehen oder am Vodootvodnyi-Kanal — erst auf der einen Seite, dann über eine Brücke und weiter auf der anderen Seite und über die nächste Brücke und wieder auf der einen Seite weiter, bis sie sämtliche Brücken passiert hatten. Bald verwandelte der Winter alle Menschen in dicke und wenig schöne Geschöpfe.
Mit drei Personen unterhielten die beiden während ihrer Moskauer Monate engeren Kontakt. Der erste war der Dolmetscher Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin. Er sprach wortreich Deutsch mit Moskauer Akzent. Wo er es so gut gelernt hatte, wußte niemand. Er war ein immer angenehm riechender Mann, von kurzem, kompakt stämmigem Wuchs, dunkelhaarig, wohlgenährt, glattrasiert; er interessierte sich für Kunst, Musik, Literatur, Theater ebenso wie für Physik und die neueren Tendenzen in der Sprachwissenschaft und schien jeden zu kennen, von den akademischen Kapazitäten bis zu den Limonadenbudenbetreibern unten an der Moskwa.»Der kleine neue Mensch«, so wurde er genannt, sich selbst bezeichnete er als einen Epistemologen. Er verstand alles, lehnte nichts ab, interessierte sich für alles, fand nichts nicht der Rede wert, schien keinerlei Vorurteile zu haben, erlaubte sich allerdings auch nie ein Urteil und war der höflichste Mensch, der Carl je begegnet war. Er war Dozent am Mathematischen Institut, mehr war er nicht, verdiente sich damit gerade das Minimum für seine Existenz, wirkte dennoch immer elegant, trug Anzüge, die aussahen, als wären sie maßgeschneidert (und zwar in einem der deutschen Handwerksbetriebe, die sich seit Anfang der zwanziger Jahre in Moskau oder Leningrad niedergelassen hatten). Hatte er also noch andere Einnahmequellen? Es war nichts aus ihm herauszubekommen, und niemand schien Näheres über ihn zu wissen. Mit der Zeit kam Carl der Verdacht, daß sein größtes Geheimnis darin bestand, daß er keines hatte. Manchmal kam es vor, daß ihm jemand eine persönliche Frage stellte — wo er das Wochenende verbringe und mit wem oder ob seine Eltern auch in der Stadt lebten — dann blickte er dem Frager gerade in die Augen, als warte er auf die nächste Frage; Antwort gab er nicht.
Nach Emmy Noethers Vorlesungen traf sich regelmäßig ein Kreis von Wissenschaftlern, Studenten, Neugierigen und Interessierten in Pontrjagins Büro — das interessanterweise das größte am Institut war. Man brachte mit, was man hatte. Selten hatte jemand etwas anderes als einen Sessel aus Kirschholz — solche standen massenweise im Institut herum — und Schnaps. Also wurde auf Kirschholzsesseln gesessen und Schnaps getrunken. Und diskutiert.
Außerdem hatten sich Emmy Noether und Carl mit Ksenia Sixarulize angefreundet, die eine bekannte Volkskundlerin war. Sie stammte aus Georgien und war schon ein deutliches Stück über Fünfzig — ein körperlich aufs Wesentliche reduzierter Mensch, ausgedörrt wie eine Hungerhexe mit schwarzgefärbten offenen Haaren, überschminkten Fingern, nikotinbraunen Zähnen und einem breiigen Bronchienlachen, vor dem jeder zurückwich. Für ein paar Semester war sie aus Tiflis nach Moskau gekommen, um an der Universität über die Märchen der verschiedenen Völker der Sowjetunion zu sprechen. Sie war zu den Mathematikern geeilt, als sie erfuhr, daß eine Frau Vorlesungen halte, die aus Göttingen hierhergekommen sei. Das erste, was sie, den Zeigefinger vor Frau Professor Noethers Brust in die Luft hämmernd, rief, war:»Jacob Grimm, Wilhelm Grimm!«; und als diese erschrocken stammelte, sie wisse nicht, was sie damit sagen wolle, in akzentfreiem Hannoveraner Deutsch explizierte:»Was ihr eure Sprache nennt, das habt ihr nicht Goethe oder Lessing zu verdanken, sondern Luther und den Märchenbrüdern!«Sie beherrschte sogar umgangssprachliche Sonderheiten verschiedener deutscher Regionen, so daß sie, ohne nachfragen zu müssen, Emmy Noethers komplizierte Witze verstand. Sie selbst kannte ebenfalls unzählige Witze und konnte sie so gut erzählen, daß sie den hohen Ansprüchen des Gastes gerecht wurde — weswegen alle am Institut in den Genuß eines bis dahin nicht gehörten Lachens kamen. Die beiden konnten einander gut leiden, und mit einer kleinen Wehmut registrierte Carl, daß die Georgierin nach wenigen Tagen bereits eine Leichtigkeit im Ton anschlug, die er in den Gesprächen mit seiner Professorin wohl nie erreichen würde. Sie duzten einander. Carl hatte geglaubt, Frau Professor Noether erlaube das Duwort niemandem außerhalb ihrer Verwandtschaft. Ihn nannte Frau Sixarulize den» edlen Silbernagel«, weil er so groß und dünn war und hellblonde Haare hatte.
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