Entziehungskur, anschließend Kreta. Ich in Innsbruck und in Lissabon. Als ich nach einem Jahr zu meinen Eltern nach Wien zurückgebracht wurde, erwarteten sie mich am Westbahnhof als ein glückliches Paar. Margarida hatte mich im Zug begleitet. Erst hob mich meine Mutter zu ihrem Gesicht und küßte mich, dann mein Vater. Meine Mutter umarmte Margarida, und mein Vater umarmte Margarida. Ich dachte mir, vielleicht habe ich mir alles nur eingebildet in jener Nacht, was Margarida an meinem Vater angestellt hatte, was Carl im Bad zu meiner Mutter gesagt hatte. Meine Eltern sahen gut aus. Braungebrannt waren sie, verjüngt waren sie, zugenommen hatten sie, nicht mehr so ausgezehrt waren sie. Mein Vater ging vor mir in die Hocke und sagte:»Nicht einen Schluck habe ich getrunken. Bist du stolz auf mich?«»Ja, ich bin stolz auf dich«, sagte ich.»Hast du dich in Innsbruck in ein Mädchen verliebt?«fragte meine Mutter.»Ich war sogar in Lissabon«, sagte ich.»Und in Brasilien«, fügte Margarida bedeutungsvoll hinzu. Wir gingen zu Fuß zur Penzingerstraße. Meinen Rucksack trug ich selbst, meinen Koffer trug mein Vater. Meine Mutter legte ihren Arm um ihn und hielt im Rücken seinen Gürtel fest. Ich kannte sie nicht mehr wieder und mußte sie erst wieder kennenlernen.
Es folgten unsere schönen Jahre. Mein Vater trank nichts mehr, sogar Rasierwasser gestattete er sich nicht, und wenn wir in ein Gasthaus essen gingen, fragte er den Kellner, ob Wein in der Sauce sei, und sagte mit Noblesse in der Stimme:»Sie müssen nämlich wissen, ich bin Alkoholiker. «Meine Mutter erzählte mir: daß sie in Kreta in einem Dorf in den Bergen gewohnt hätten, das sei umgeben gewesen von Olivenhainen; jeden Tag hätten sie etwas zu essen in einem Korb mitgenommen und die Nylonsaitengitarre und eine Decke und seien gewandert, ohne Ziel, hätten sich in den Schatten eines Olivenbaums gelegt; Papa habe ihr Melodien vorgespielt, die ihm in der Nacht in den Träumen eingefallen seien, einige habe er sich notiert, die meisten habe er vergessen; sie seien auf der Decke gelegen und hätten in den Himmel geschaut.»Und das ein Jahr lang?«fragte ich.»Mir kam es viel kürzer vor«, sagte sie.
Mein Vater stellte eine neue Band zusammen — der kugelköpfige, lustige Adi Kochol am Baß, der mürrische Edwin Niedermeyer am Piano (er wurde ein paar Jahre später mit Wahnideen ins Irrenhaus am Steinhof gebracht, wo er mit einigen Unterbrechungen bis zu seinem Tod fast zwanzig Jahre lang blieb) und Philipp Mayer am Schlagzeug (er war mir der liebste, er hatte eine Freundin, die war umwerfend komisch, und er war das gar nicht, er war melancholisch und doch so stolz auf sie, wenn sie den Clown spielte). Sie reisten alle zusammen in einem alten Omnibus durch Deutschland, feierten in Hamburg und Köln Erfolge, spielten im Westdeutschen Rundfunk mit Albert und Emil Mangelsdorff eine Session ein (Attila Zoller saß im Regieplatz und schaute durch die Scheibe zu. Der Aufnahmeleiter wollte, daß Attila und mein Vater im Duett spielten, das lehnten aber beide, lange lachend, ab). Als mein Vater von dieser Tour zurückkam, ging er wieder vor mir in die Hocke und sagte:»Nicht ein Tropfen, Sebastian! Bist du stolz auf mich?«Und ich sagte:»Das bin ich, Papa, ja. «Er nahm seine erste Schallplatte auf. One Night in Vienna . Der Produzent begriff nicht einmal ansatzweise, mit was für einem Kaliber er es hier zu tun hatte. Er setzte auf Bewährtes, nur zwei eigene Kompositionen meines Vaters ließ er zu, die anderen Nummern waren Standards. (Bei Gershwins Summertime steuerte übrigens Art Farmer ein Solo auf der Trompete bei, er war damals bei der ORF-Bigband engagiert und saß manchmal bei uns in der Küche, still und traurig, der blasseste Schwarze, den ich je gesehen habe, als wäre Asche in die Poren gedrungen.)
Ein gewisser Maximilian Farebrother, der eigentlich zu anderen Aufnahmen in dem Studio war, spielte spontan bei zwei Nummern das Tenorsaxophon, und er erkannte, was in meinem Vater steckte. Er vermittelte ihn an ein Jazzlabel in London, und dort nahm mein Vater bereits ein halbes Jahr später seine zweite Platte auf. Und diese Platte war eine Sensation. Sie katapultierte ihn in Jazzkreisen an den Himmel. Sie war Agnes Lukasser gewidmet und hatte den Titel: George Lukassers Lassithi Dreams . Der Titel sollte sie an Kreta erinnern, wo sie sich fast zehn Wochen lang auf der Hochebene von Lassithi zwischen den Windmühlen herumgetrieben hatten und wo der Engel der Musik Nacht für Nacht die Träume meines Vaters heimgesucht und ihm aus dem goldenen Firmament Melodien mitgebracht hatte. Mein Vater war gemeinsam mit Adi Kochol und Philipp Mayer nach London geflogen, im Studio waren sie von dem Saxophonisten Lee Konitz und dem Pianisten Lennie Tristano erwartet worden, die damals bereits gute Namen hatten. Nur eigene Kompositionen meines Vaters wurden eingespielt, auch im Arrangement richtete man sich allein nach seinen Wünschen und Vorstellungen. — Miles Davis hat Anfang der achtziger Jahre in einem Zeitungsinterview an diese Aufnahmen erinnert, als er sagte:»Was heißt Avantgarde? Lennie Tristano, Lee Konitz und George Lukasser haben vor fünfzehn Jahren Ideen gebracht, die kühner als alle diese neuen Dinge waren. Aber als sie es taten, hatte es Sinn. «Ich habe mir das Interview unter Glas gerahmt und überallhin mitgenommen, es hängt heute in meinem Arbeitszimmer.
Studioaufnahmen in Berlin, wieder in Köln, in München und schließlich in New York folgten. Der Höhepunkt in der Karriere meines Vaters: eine Tournee durch die Vereinigten Staaten von Amerika, gemeinsam mit Chet Baker. — Fast ein Jahr waren meine Mutter und ich allein.
Eine solche Selbstverständlichkeit waren wir uns gegenseitig in dieser Zeit, daß wir ohne jedes äußere Zeichen einer Zuwendung auskamen; wir küßten uns nicht, wir umarmten uns nicht, ich legte meinen Kopf nicht an ihre Schulter; keine Neugierde empfanden wir füreinander; mit dem denkbar geringsten Aufwand an Worten kamen wir aus, als wäre der eine dem anderen ein externes Organ, telepathisch mit einem Zentrum verbunden, von dem sich nicht mit Bestimmtheit sagen ließ, wo es untergebracht war. Gestritten haben wir nicht (bis auf einmal). Gelacht haben wir aber auch nicht. Ich war gern zu Hause, und tagsüber hielt ich mich nicht hinten in meinem Zimmer auf, sondern bei ihr in der Küche. Sie arbeitete immer noch bei der Gewerkschaft, konnte ihre Zeit aber einteilen, wie sie es wollte. Ich wußte das nicht so genau. Vielleicht war sie ja auch nur auf Honorarbasis angestellt und wurde eingesetzt, wenn es nötig war. Manchmal war sie mehrere Tage hintereinander zu Hause, manchmal von morgens bis spät in die Nacht hinein im Büro unten im vierten Bezirk. Ich vermißte meinen Vater, aber das Leben ohne ihn war doch angenehmer, weil um so vieles leichter. Manchmal klingelte der Heinz Pachner an unserer Tür, der Lehrling unten beim Lammel, und sagte, der Herr Professor Candoris habe angerufen, ob wir ihn zurückrufen könnten. Wenn Carl und Margarida in Wien waren, besuchten sie uns und luden uns in die Innenstadt zum Essen ein. Meine Mutter blieb lieber zu Hause, nur einmal ging sie mit.
An den Nachmittagen breitete ich meine Schulsachen über den Küchentisch, spitzte meine Bleistifte und Buntstifte, schnitt Sportbilder aus Zeitschriften aus und klebte sie in verschiedene Hefte oder betrachtete Menschenhaare, Fliegenbeine und Schimmelkäse unter dem Mikroskop, während meine Mutter herumwerkelte. Oder wir hörten uns gemeinsam ein Hörspiel an. So sehe ich sie: die Brauen hochgezogen, mit den Lippen die Bewegungen ihrer Finger nachahmend, sich immer wieder mit einer überflinken Bewegung ins Haar fahrend. Ich wußte nicht, was das für eine Sache war, ob sie etwas für sich bastelte, oder eine Heimarbeit gegen Bezahlung. Manchmal erledigte sie Gewerkschaftspost, dann lagen vor ihr eine Liste und Kuverts, links die noch leeren, rechts die bereits bearbeiteten, darüber die Briefe, die, auf ein Drittel zusammengefaltet, versandt werden sollten, weiters ein Bogen mit Briefmarken und eine Plastikschale, in der ein Stück feuchter Schaumgummi lag. Sie schrieb die Adressen mit einem Füllhalter, den ich nicht einmal berühren durfte, über ihren rechten Daumen hatte sie eine Kappe aus rotem, durchlöchertem Gummi gestülpt.
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