Erst nach einigen Wochen wurde entdeckt, daß sich unter den Gefangenen ein Weißer befand, sein Name: Hanns Alverdes. Er wurde nach Deutschland gebracht und in Berlin vor Gericht gestellt.
Das war im Jahr 1907. Carls Großonkel war damals fünfunddreißig Jahre alt.
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«In einem spektakulären Verfahren«, hörte ich Carls inzwischen atemschwere Stimme neben mir sagen,»wurde mein Großonkel Hanns zum Tode verurteilt. Er war zunächst zweier Verbrechen, nämlich des Landesverrats und des Mordes an dem deutschen Polizisten Wipplinger, angeklagt. In letzterem Fall stützte sich die Staatsanwaltschaft auf die Aussage der Zeugin, wie sie von einem Angehörigen der Schutztruppe in Okahandja niedergeschrieben und mit drei Tintenkreuzen von ihr bestätigt worden war, nämlich einige Jahre, bevor sie während des Aufstands auf bestialische Weise ermordet wurde. Das Gericht folgte den Ausführungen von Dr. Zitschin und glaubte Hanns Alverdes, der nach wie vor behauptete, der Hereromann habe Wipplinger erschossen und daraufhin er den Hereromann; und glaubte nicht den Schilderungen der Frau, die in dem Protokoll ihrer Einvernahme als schwachsinnig bezeichnet wurde. Die Anklage wegen Landesverrats dagegen war nicht so leicht zu entkräften. Alverdes habe Seite an Seite mit Maherero am Waterberg und in der Wüste gekämpft; soundso viele deutsche Soldaten bezeugten dies — alle schriftlich übrigens, sie waren nämlich samt und sonders noch in Deutsch-Südwest stationiert, und der Generalstab dachte nicht daran, wegen so einer Veranstaltung den Männern die Fahrt von Windhoek nach Berlin und wieder zurück zu bezahlen. Sie bezeugten, sie hätten den Kaufmann Alverdes, den in Deutsch-Südwestafrika jeder kenne, in der Schlacht am Waterberg kämpfen sehen. Dr. Zitschin fragte, warum sie nicht auf der Stelle Meldung erstattet hätten. Der Staatsanwalt antwortete an ihrer Statt, die Männer hätten ihren Augen nicht getraut, weil sie einen solchen Verrat nicht für möglich hielten — womit er nicht nur Landesverrat, sondern vor allem Rassenverrat meinte, wie er unmißverständlich zum Ausdruck brachte. Eine Verurteilung schien zwingend, schon weil man ein Exempel statuieren wollte.
Und nun Achtung! Nun folgt, was den Prozeß zu einer Sensation werden ließ, über die noch viele Jahre gesprochen werden würde. Ohne daß sich mein Großonkel mit seinem Anwalt abgesprochen hätte, bat er den Richter, ihm das Wort zu erteilen. Er wolle dem Gericht und dem ganzen Land beweisen, daß er nicht nur kein Verräter, sondern im Gegenteil ein noch schärferer Rassist sei als der Staatsanwalt, ein grimmigerer Feind der Neger als selbst Generalleutnant Lothar von Trotha. Nein, er sei nicht ein Mitstreiter von Samuel Maherero gewesen, sagte er, sondern dessen Gefangener und Geisel. Und daß der Kapitän ihn beim Waterberg nicht zurückgelassen, sondern mit in die Omaheke geschleppt habe, sei, vom Standpunkt dieses Feindes des Deutschen Reiches aus betrachtet, durchaus folgerichtig gewesen, denn auch er habe, ähnlich wie es nun der Staatsanwalt von diesem Gericht verlange, an ihm, Hanns Alverdes — im Dienste des Deutschen Kaiserreiches Handelsmann in Afrika seit 1884 — ein Exempel statuieren wollen, habe er ihn doch als den erkannt, der er war: der Widersacher seines Volkes. Vor den fassungslosen Anwesenden breitete mein Großonkel nun seine Mordtaten aus, schilderte sie bis in die Einzelheiten, angefangen bei dem alten Herero an der Wasserstelle, weiter, daß er den Buben auf dem Weg zur Missionsstation in Otjimbingwe in den Rücken geschossen und versucht habe, seinen kleinen Finger abzubeißen, erzählte ohne Scham und Reue von den Männern und Frauen, die er gleichsam im Vorbeigehen erlegt habe; schilderte haarklein die bestialische Tat an der schwachsinnigen Frau; daß diese eine Deutsche gewesen war, bestritt er gar nicht, behauptete aber, daß sie sich den Negern als Hure verkauft habe — was aus der Luft gegriffen war. Was er bei seinen Taten empfunden hatte, nämlich nichts, daß er in Wahrheit in keinem der Fälle einen Grund für seine Tat gehabt hatte, außer dem letzten, als er die Frau vor der Scheune auf dem Boden gekreuzigt und lebendig verbrannt hatte, um sich dafür zu rächen, daß sie ihn angezeigt hatte, das trug er dem Gericht freilich nicht vor. Darüber sprach er erst viel später.
Aber: Mord ist Mord, und in Deutschland herrschen Recht und Ordnung. Jawohl, betonte der Richter, Mord ist Mord und bleibt Mord, und Mord an einem Neger werde von einem deutschen Gericht erst dann nicht als solcher gewertet, wenn ein Gesetz verabschiedet sei, das den Negern das Menschsein abspreche. Hanns Alverdes wurde vom Vorwurf des Landesverrats freigesprochen. Er wurde vom Vorwurf des Mordes an dem Polizisten Wipplinger freigesprochen. Er wurde schuldig gesprochen des Mordes an der deutschen Frau, und er wurde schuldig gesprochen des Mordes an acht Mitgliedern des Volkes der Herero. Und er wurde zum Tode verurteilt.
Aber das Urteil ist nicht vollstreckt worden. Die Strafe wurde in lebenslänglich abgemildert. Und weil die ersten Seelenexperten des Reiches meinen Großonkel für verrückt erklärten, und zwar so verrückt wie eine Scheißhausfliege, wurde aus lebenslangem Gefängnis lebenslanges Irrenhaus. Zuerst hat man ihn nach Plötzensee gebracht. Da hätte man ihn gleich an die Wand stellen können. Meine Großmutter und Tante Franzi drängten meinen Großvater, er solle alles, was in seiner Macht stehe, aufbieten, um ihren Bruder dort herauszuholen. Also, meinem Großvater war die Sache ekelhaft, er hätte am liebsten nie etwas davon erfahren, und er hatte absolut nichts dagegen, daß man so einen Kerl in eine Anstalt sperrte, es durfte sich dabei auch ruhig um die schlimmste ihrer Art handeln. Tante Kuni hat mir erzählt, es habe lange gedauert, bis er seine eigene Frau wieder so ansehen konnte wie vor dieser Geschichte. Mit den Göttingern wollte er von nun an nichts mehr zu tun haben, weder mit Tante Franzi noch mit Tante Kuni. Er wird sich gedacht haben, ein Dämon steckt in dieser Familie. Ich kann es ihm nicht verdenken. Ich habe mir das auch oft gedacht. Meine Großmutter und Tante Franzi ließen ihm aber keine Ruhe, und so hat er es gerichtet, wie er es eben richten konnte, nämlich mit Geld. Er hat seine Verbindungen spielen lassen und Bestechungsgelder bezahlt, daß man dafür eine Lokomotive gekriegt hätte, damit sein Schwager in die private Heilanstalt Stabenow in Berlin-Zehlendorf überführt wurde. Dort wurde er in ein Spezialzimmer gesperrt. Das mußte man erst bauen. Engvergitterte Fenster. Vor der Tür ein verschiebbares Stahlgitter. Man hatte den Anbau an den hinteren Teil des Hauptgebäudes gesetzt, damit man nicht gleich bei der Ankunft schon sähe: Halt, hier stimmt doch was nicht! Sogar im Versteckten hat man ihn noch versteckt.
Aber er hatte es gut dort. Er war ein Bevorzugter. Bestes Essen. Immer frische Wäsche. Tadellose medizinische Betreuung. Blick auf den Rosengarten. War natürlich teuer die Sache, sehr, sehr teuer. An jedem Monatsersten wurde das Geld überwiesen. Wie lange? So lange der Patient lebt natürlich. Er hat ja lebenslänglich bekommen. Also muß man auch lebenslänglich zahlen. Nicht einmal während der Wirtschaftskrise setzten die Zahlungen aus. Aber mein Großvater stellte eine Bedingung. Nie wieder, nie wieder, das ließ er sich von meiner Großmutter und von Tante Franzi schriftlich geben, nie wieder wird der Name Hanns Alverdes in der Familie erwähnt. Wenn er den Namen auch nur ein einziges Mal hört, läßt er den Dauerauftrag löschen und stellt automatisch die Überweisungen ein. Logischerweise der Sonderpatient nach Plötzensee zurückgebracht werde. Meine Großmutter und ihre Schwester gaben ihr Wort. Damit war der Fall für meinen Großvater erledigt.
Meine Großmutter hat ihr Wort gehalten, sie hat mit niemandem darüber gesprochen. Wenn die Rede auf ihre Familie kam, sagte sie, sie habe noch eine Schwester, die lebe in Göttingen, Franziska heiße sie, und sonst habe sie niemanden. Tante Franzi aber hat ihr Wort nicht gehalten, sie hat die Geschichte ihrer Tochter weitererzählt. Und Tante Kuni hat sie mir weitererzählt. Und ich erzähle sie dir. Und du schreibst sie auf. — Sebastian?«
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