Carl:»In den ersten Tagen des Jänners 1976 bekam ich einen Brief von einem gewissen Dr. Jens Lengerke, Psychiater und Leiter der Nervenheilanstalt Stabenow in Berlin-Zehlendorf. Er schrieb, er selbst, aber schon sein Vorgänger, Dr. Schwarz, und auch dessen Vorgänger, Dr. Bredekamp, hätten sich nach eventuellen Angehörigen des in ihrer Anstalt einsitzenden Patienten Hanns Alverdes erkundigt. Ich, Carl Jacob Candoris, sei der einzige, der sich habe finden lassen. Er wolle mir mitteilen, daß mein Anverwandter — in welcher Beziehung ich zu ihm stehe, hätten er und seine Vorgänger nicht herausfinden können — im Sterben liege. Vielleicht wolle ich ihn ja sehen. Er halte das zwar nicht für wahrscheinlich, denn wie er aus den Aufzeichnungen der Anstalt lese, habe Hanns Alverdes seit seiner Einlieferung vor — die folgende Zahl unterstrich er zweimal — 66 Jahren keinen Besuch eines Familienmitgliedes bekommen.
Er lebte also noch. Er war hundertundvier Jahre alt!
Als erstes erzählte ich Margarida die Geschichte. Das dauerte gut einen Tag. Ein Tag war also gewonnen. Ich hatte bis dahin mit niemandem darüber geredet. Ich habe mein Versprechen gehalten. Nun waren sie alle tot: mein Großvater, meine Großmutter, Tante Franzi, Tante Kuni. Alle, nur er nicht. Ihm hatte ich nie etwas versprochen. Margarida bat mich, nicht nach Berlin zu fahren, händeringend bat sie mich, flehte mich an. ›Er macht dich kaputt‹, prophezeite sie mir. ›Quatsch‹, sagte ich, ›er ist hundertundvier Jahre alt, was kann er mir tun? Den hau’ ich doch um mit links!‹ Wieder war ein Tag vergangen, ich habe die Entscheidung vor mir hergeschoben, von einem Tag auf den nächsten. Margarida sagte, wenn ich fahre, werde sie mich begleiten. ›Ich fahre doch nicht in den Urwald, mein Liebling‹, sagte ich, ›nur nach Berlin.‹ Und ich scherzte: ›Er wird mich nicht mehr hochheben und auf den Arm nehmen wollen.‹ Wir haben gelacht. Ein Hundertundvierjähriger hebt einen Siebzigjährigen hoch und nimmt ihn auf den Arm. Ist das nicht komisch? Und schon war wieder ein Tag vergangen. Ich habe noch ein paar Tage verstreichen lassen und noch ein paar Tage. Und als ich mich endlich aufraffte und mich in den Mercedes setzte und über die westdeutschen Autobahnen raste und durch die DDR tuckerte und in Westberlin ankam und ein Zimmer im Kempinski nahm und am nächsten Tag hinausfuhr nach Zehlendorf und dort das Sanatorium Stabenow suchte und es fand — da lebte er nicht mehr. Hanns Alverdes sei vor sieben Tagen gestorben, teilte mir Dr. Lengerke mit. Ohne Vorwurf. Ein noch junger Mann. In deinem Alter, ein, zwei Jahre älter vielleicht, lange lockige Haare. Ich fragte, ob ich mir das Zimmer meines Großonkels ansehen dürfe, ob es noch erhalten sei. ›In eine Gedenkstätte werden wir es nicht umwidmen‹, lachte er. Es sei noch alles so, wie es sechsundsechzig Jahre lang gewesen war. Genau so. Soweit er das mit Hilfe der Aufzeichnungen der Anstaltsleitung überblicken könne, sagte Dr. Lengerke, habe Herr Alverdes nichts in diesem Zimmer verändert. Er führte mich in den hinteren Teil des Gebäudes. Das Haus sei im Laufe der Jahre um die Zelle ihres Dauerpatienten herum umgebaut und renoviert worden, dabei faßte er mich am Ellbogen, das ist etwas, was ich nie leiden konnte. Vor der Tür blieb er stehen. Er werde eine der Schwestern bitten, mir Kaffee zu bringen, sagte er. Ob ich ein Stück Apfelkuchen dazu wünsche? Gern, sagte ich. Und drückte die Klinke zu dem ältesten Zimmer in dieser Anstalt nieder.«
Inzwischen machten ihm die Schmerzen so sehr zu schaffen, daß er seine Worte in knappen Portionen vorbrachte, ohne daß allerdings der Satzbau darunter gelitten hätte. Keine Kontaminierung des Geistes durch den Körper. Der da sprach, war nicht, der da saß. Als stemmte der, der er einmal gewesen war, den, der vor Schmerzen an sich selbst niedersank, ein letztes Mal und mit der Kraft all der Ichs, an die er sich erinnerte, vor die Schwelle zwischen Sein und Nichtsein. Tatsächlich hörte ich seine Stimme inzwischen nahe dem Fußboden; er war zur Seite gesunken.
«Wir wollen es gut sein lassen«, sagte ich,»bitte, Carl! Du kannst dich in meinem Bett ausruhen, bis Frau Mungenast kommt. Erzähl mir das Ende, wenn du geruht hast, wenn wir gefrühstückt haben. Erzähl’s mir unten am See oder beim Wald.«
«Nein, nein«, sagte er, aber ohne Ungeduld,»nein, nein, nein! Frau Mungenast wird kommen, sie wird nicht schimpfen, weil sie nämlich ein schlechtes Gewissen hat, ihr werdet mich gemeinsam nach unten bringen, ich werde lange schlafen, weil sie mir eine Spritze geben wird. Aber, Sebastian, wenn ich aufwache, möchte ich, daß du nicht mehr hier bist. Versteh’ mich nicht falsch, und laß’ es mich dir nicht erklären müssen.«
Er habe, erzählte Carl weiter, bei Apfelkuchen und Kaffee eine gute Stunde lang in dem Zimmerchen gesessen, in dem sein Großonkel durch einen geraumen Teil des Jahrhunderts aufbewahrt gewesen sei.»Aufbewahrt «nenne er es mit Absicht; nämlich, damit er kein Leid anrichte, aber auch, damit ihm kein Leid geschehe. In dem Raum habe ein Geruch geherrscht — scharf, nach altem Holz, das kam von der Vertäfelung an den Wänden und den unbehandelten Holzriemen und dem Mobiliar; vor allem aber nach Zeltplane, anders könne er den Geruch nicht bezeichnen, nach alter Zeltplane, muffig und zugleich hitzespröd, als wäre hier irgend etwas einem raschen Wechsel von Feuchtigkeit und Hitze ausgesetzt — er habe sich auch nach einer Stunde nicht an diesen Geruch gewöhnt, seine Kleider hätten sich damit angesoffen, was ihm tagelanges Unwohlsein bereitet habe. Die Einrichtung sei spärlich gewesen; kein Bild an den Wänden, nirgends auch nur eine Spur von Schmückung; kein Radioapparat, kein Fernseher. Nichts Eigenes — abgesehen davon, daß nach so langer Zeit die Einrichtungsgegenstände — Bett, der Polsterstuhl, auf dem er saß, ein quadratischer Holztisch, ein Nachtkästchen, ein schmaler Kleiderschrank — durch Berührung, vielleicht schon durch das viele Anschauen sich der Person des Einsitzenden angeglichen hätten und schließlich doch zu etwas unverwechselbar Eigenem geworden seien. Ein monströser Gedanke sei ihm gekommen:»So, wie ich hier sitze, dachte ich, so ist er gesessen durch sechsundsechzig Jahre, Tag für Tag. Als mir mein Großvater erzählte, daß Roald Amundsen als erster den Südpol erreicht habe, saß er hier. Als mir mein Großvater vom Untergang der Titanic erzählte, saß er hier. Als Kandinsky sein erstes abstraktes Bild malte, saß er hier und auch, als Freud in der Berggasse seine Wunder wirkte und Herr Carnap in der Boltzmanngasse über die Sinnlosigkeit der Metaphysik referierte. Als ich dem Fräulein Stein half, meine Tanten ins Leben zurückzuholen, saß er hier. Als Lenin in dem verplombten Zug von Zürich durch Deutschland und nach Finnland fuhr und weiter nach Petrograd, saß er hier. Als ein Dollar eine Billion Mark kostete und zehntausend Kronen gegen einen Schilling umgetauscht wurden und ein Erdbeben Tokio und Yokohama zerstörte und sich Hitler nach seinem gescheiterten Putsch das Leben nehmen wollte und die unglückselige Helene Hanfstaengl ihm die Waffe aus der Hand riß, saß er hier. Als mein Großvater sein Viertel jüdischen Blutes dreimal hintereinander verriet und kein Hahn krähte, saß er hier. Als seine beiden Schwestern starben, erst Franziska, dann Friederike, beide in Frieden, wie mir versichert wurde, saß er hier und blickte hinaus auf den Rosengarten. Als meine Mutter von dem Bombensplitter an der Schläfe getroffen wurde, saß er hier, und als Valerie vergewaltigt wurde, saß er hier. Als Bruder Kurabashi sich mit Maiskeksen vollstopfte, saß er hier, und als er sich die Arme aufschnitt und sie jauchzend in die Kamera reckte, saß er auch hier. Und er war hier gesessen, als der armenische Riese Aszaturow wie ein Schwein Kopf nach unten aufgehängt wurde, vielleicht nur deswegen, weil er zur unrechten Zeit den Namen Stalins ausgesprochen hatte. Als die Deutsche Wehrmacht in Polen einmarschierte, als die Konzentrationslager in Auschwitz, Bergen-Belsen, Mauthausen, Treblinka, Sobibor errichtet wurden, als die Atombomben fielen und die Bomben auf Korea und Vietnam, als Mao mordete, als In my Solitude und Them There Eyes und Sophisticated Lady und Round Midnight komponiert wurden, als Lumumba ermordet wurde und John F. Kennedy und Martin Luther King, als Neil Armstrong und Edwin Aldrin auf dem Mond spazierten, saß er hier, und auch als George Lukassers Lassithi Dreams aufgenommen wurde, die schönste Musik, die ich kenne — hat er in diesem Polsterstuhl gesessen. Und als Edith Stein heiliggesprochen wurde, hat er hier gesessen, wie er schon hier gesessen hatte, als Frau Professor Noether an jenem Abend in Moskau den Tee aus dem Schnabel der Kanne trank. Und jedesmal, wenn Einstein und Gödel miteinander in Princeton vom Institute for Advanced Study nach Hause spazierten, saß er hier. Ja, und als ich 1952 Abe in New York besuchte und ihm einen Tag und eine Nacht lang half, Wahlaufrufe für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Adlai Ewing Stevenson zu falten und er mir noch einmal, zum letztenmal, Avancen machte und ich mir ehrlich überlegte, ob ich darauf eingehen sollte, nicht weil ich Lust dazu verspürt hätte, nicht die geringste, sondern weil mich noch einmal, zum letztenmal, eine Gier auf ein abenteuerliches Leben erfaßte — da saß er hier. Und jedesmal, wenn sich Margarida mit ihrem Geliebten, den sie gar nicht liebte, traf, saß er hier, und als deine Mutter deinen Vater kennenlernte, war er auch hier gesessen. Und als du, Sebastian, geboren wurdest und dein Leben hattest bis zur Matura und dein Studium in Frankfurt aufgenommen hast und diese wirklich originelle Hausarbeit über Apuleius geschrieben hast, über den ich vorher so gut wie nichts gewußt hatte, saß er hier. Hat nichts getan, als hier zu sitzen, sechsundsechzig Jahre lang. Zum Mittagessen hat man ihn abgeholt, dann zum Spaziergang durch den Garten, dann zum Abendessen. Er habe, erzählte mir Dr. Lengerke, keine Zeitungen gelesen, er habe nicht Radio gehört, und Fernsehen habe ihn auch nicht interessiert. Er habe mit niemandem Kontakt gehabt und mit den Pflegern nur das Notwendigste gesprochen.
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