Von Hanns hörten meine Großeltern nichts. Lange nichts. Erst im Jahr 1909 hörten sie von ihm. Das heißt, sie lasen in der Zeitung über ihn. Tatsächlich waren in jenem Herbst die Zeitungen voll von ihm. Mein Großvater hatte drei deutsche Zeitungen abonniert, die Norddeutsche Allgemeine Zeitung , die Frankfurter Zeitung und die Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen , die spätere Vossische Zeitung . Außerdem las er jeden Tag im Kaffeehaus die großen Blätter der Monarchie. Und in allen, in allen wurde über den ›Fall Hanns Alverdes‹ berichtet.«
Carl ließ eine lange Pause, eine sehr lange Pause, bis er mit der Geschichte von Hanns Alverdes begann. Ich hörte sein Ausatmen — Geräusche der in sich selbst versunkenen Natur.
«Aber du schläfst doch nicht?«fragte er.
«Carl, nein!«rief ich aus.
3
Nach Carls Beerdigung, als wir uns am Bahnhof in Innsbruck voneinander verabschiedet hatten und David und Dagmar nach Frankfurt, meine Mutter nach Fouquières les Béthune zurückkehrten und ich nach Wien, nahm ich mir vor, unverzüglich mit der Arbeit an» seinem Buch «zu beginnen. Der Gedanke, alles, was verloren war — und es war ja alles verloren —, schreibend neu zu gewinnen; noch einmal, auch wenn es nur im Imaginären sein würde, zu erleben, was ich als schön in Erinnerung hatte — nicht unbedingt, weil es schön gewesen war, sondern weil es gewesen war —, dieser Gedanke versetzte mich in eine Hochstimmung, der ich mich nur allzugern überließ — sie fühlte sich so jugendlich an! — , die aber, wie ich aus frustrierenden Erfahrungen wußte, dem Schreiben nicht zuträglich war; im Gegenteil: Es ist nicht gut, sondern schlecht, sich in der Stimmung an den Schreibtisch zu setzen, die schreibend erst erzeugt werden soll. Als ich fünfzehn war und meine erste Geschichte geschrieben hatte, genauer: nicht die erste Geschichte, die ersten paar Sätze meiner ersten Geschichte, war ich von einer Fremdheit erfüllt gewesen, die war während des Schreibens in mir aufgestiegen, die ließ mich Dinge denken, die ich vorher nie gedacht hatte, die gab mir auf, wie ich ein Wort hinter das andere reihen sollte — nach einer Stunde hatte ich abgebrochen, ich war zu aufgewühlt gewesen, auch zu erschöpft. Bei jeder Geschichte, die ich später schrieb, am Beginn zu jedem neuen Buch, war die Sehnsucht nach dieser Fremdheit gewesen. Nun ging es mir wieder so. Ich fuhr mit dem Bus zum Albernen Hafen hinaus und spazierte vier Stunden an der Donau entlang und fühlte mich jung, fühlte mich wie jemand, dem — nachdem er zwanzig Bücher geschrieben hatte — klargeworden war, worin seine Berufung bestand, nämlich im Schreiben von Büchern. Zu Hause setzte ich mich an den Schreibtisch … nahm den Laptop und setzte mich auf die Terrasse … nahm den Laptop und setzte mich in die Küche … in die Bibliothek … wieder auf die Terrasse … Ich fand keinen Einstieg. Wenn ich das Wort» ich «tippte, wie unverfänglich der Satzzusammenhang auch war, sah ich eine Lüge vor mir; wenn ich den Namen» Carl Jacob Candoris «schrieb, war es wie Verrat und Tücke; als hätte ich ihm den Namen genommen und einem anderen untergeschoben. Mir dämmerte, daß ich zum erstenmal die Wahrheit schreiben wollte; nicht Fiktion, sondern Wahrheit —»Aderlaß des Herzens«—, und dafür gab es keine Worte — richtig war vielmehr: Ich hatte keine.
Ich erinnerte mich, als ich an Musicians geschrieben hatte, hatten sich bisweilen auftretende Schreibhemmungen dadurch überwinden lassen, daß ich recherchierte. Aber Achtung! Die Recherche ist ein Hund, das hatte ich bei dieser Gelegenheit gelernt. Für den Schriftsteller kann sie zu einem bissigen Hund werden. Der gibt sich zuerst spiellustig, tut, als ließe er sich abrichten, sorgt für Erfolgserlebnisse bei seinem Herrn, und zuletzt zerfetzt er seine Geschichte. Der Hausverstand sagt einem, man kann nicht genug wissen von dem Gegenstand, von dem man erzählen will. Falsch. Man kann zuviel wissen. Der zweite Irrtum besteht darin, daß man sich einredet, man habe gearbeitet, wenn man doch bloß nur Vorarbeit geleistet hat. Arbeit drückt sich in Seiten aus oder in Zeilen. Und in sonst gar nichts. Wieviel Zeilen hast du heute geschrieben? Wenn null, hilft es auch nicht, wenn du fünf Stunden in der Bibliothek oder am Internet gesessen hast. Gelernt habe ich: Es ist nicht gut, im voraus zu recherchieren. Such’ erst nach der Antwort, wenn sich die Frage stellt!
Nachdem ich mich eine Woche lang vergeblich an einer ersten Seite abgemüht hatte, beschloß ich, das oben formulierte Prinzip zu durchbrechen. Ich recherchierte den Hintergrund ausgerechnet zu jener Geschichte, die ich erst am Ende des Buches erzählen würde: die Geschichte von Hanns Alverdes.
Robert Lenobel gab mir den Tip, in Herwig Leopolds Deutsche Kriminalprozesse nachzuschlagen, einem Bestseller aus den frühen neunzehnsechziger Jahren, in dem der Autor — Volkskundler, Psychiater, Psychoanalytiker — spektakuläre Fälle der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg aufführt und analysiert. (Die beiden Kriege und den Nationalsozialismus läßt er aus; begründet es damit, daß in diesen Jahren das Kriminale zur gesellschaftlichen Norm erhoben worden sei, wo es doch eigentlich einen Bruch derselben darstelle.) Ich borgte mir das Buch in der Nationalbibliothek aus, es ist ein faktenreicher Wälzer voll mit hilfreichen Querverweisen; tatsächlich sind darin Carls Großonkel fünfundvierzig (!) Seiten gewidmet. Leopold bezeichnet dessen Fall als den merkwürdigsten, der ihm begegnet sei. Und zwar deshalb, weil sich für die Taten des Hanns Alverdes nicht das kleinste Motiv rekonstruieren lasse.»Es scheint«, schreibt er,»als hätte diese Morde nicht er, sondern als hätten sie sich selbst begangen. «Als Motto über dem Kapitel zitiert er Seneca: Ut homo hominem non iratus, non timens, tantum spectaturus occidat —»Weil der Mensch den Menschen ohne Zorn und ohne Furcht, nur zur Augenweide tötet.«
Die zeitgenössischen Kommentatoren des Prozesses überschlugen sich in ihren Spekulationen, das Motiv der Morde betreffend, wie ich in den diversen Zeitungen aus den Jahren 1909 und 1910 nachlesen konnte. In jeder großen deutschen und österreichischen Zeitung wurde über den Prozeß ausführlich berichtet, ebenso in der London Times und in Le Figaro (Evelyn hat mir den Artikel aus dem Stegreif übersetzt), in Kolumnen wurde spekuliert, die Meinungen von nicht am Prozeß beteiligten Fachleuten wurden abgedruckt, über Diskussionen in psychologischen Vereinigungen und okkulten Zirkeln wurde berichtet. Sogar im Deutschen Reichstag wurde darüber gesprochen; dort fand sich wenigstens einer, der meinte, genau benennen zu können, was hinter den Morden steckte, und zwar ein geheimer kaiserlicher Befehl an einen selbstlosen Helden. Kaiser Wilhelm II. persönlich, so führte der konservative Abgeordnete von Oldenburg-Januschau aus, habe in einem dem Normalbürger freilich unverständlichen Schachzug den tapferen Hanns Alverdes in die Schlacht geschickt; woraufhin ihm ein sozialdemokratischer Abgeordneter aus dem Plenum zurief:»In was für eine Schlacht denn?«; was der Redner parierte mit: nur die dumme Linke hätte noch nicht begriffen, daß längst schon ein Krieg tobe, ein Weltkrieg sogar (29.1.1910!).»Der deutsche Kaiser ist nicht nur jeden Moment imstande, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann, und schließen Sie den Reichstag, sondern er verfügt, wie wir nun sehen, auch über eine anonyme Staffel von Spezialisten, die er jederzeit und an jedem Ort der Welt zum Einsatz bringen kann.«
Besonders danken möchte ich an dieser Stelle Herrn Dr. Michael Haritz von der Justizverwaltung des Geheimen Staasarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin, der mir ein nachsichtiger Berater und ein kundiger Führer durch die Akten des Prozesses war.
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