Dr. Zitschin hat sich nämlich sehr bemüht. Ich war sein Trick. Ohne mich hätte der Gefängnisdirektor die Schwestern von Hanns Alverdes nicht eingelassen, damit sie sich von ihrem Bruder verabschieden. Dr. Zitschin hat vor dem Gefängnisdirektor mit erstickter Stimme den letzten Wunsch des Delinquenten vorgetragen: Er wolle noch einmal seinen kleinen Neffen sehen — den Stammhalter der Familie. Gelogen. Der letzte Wunsch gelogen, der Stammhalter gelogen. Aber der Trick hat funktioniert. Man unterschätze preußische Sentimentalität nicht. Gut, hatte der Direktor gesagt und war nobel gerührt gewesen, daß auch eine Bestie ein Herz hat, gut, er darf den Kleinen einmal auf den Arm nehmen, ausnahmsweise und gegen die Vorschriften. Und nun wollte der Kleine nicht.
So sieht meine erste Erinnerung aus. Schläfst du schon, Sebastian?«
«Was fragst du denn! Natürlich schlafe ich nicht, Carl!«
«Als Bub war mein Großvater mit seinen Eltern von Budapest nach Wien gekommen. Sein Vater — also mein Urgroßvater — war Jurist, er hatte im Justizministerium unter Ferenc Deák gearbeitet, den noch heute in Ungarn jedes Kind kennt, und war an der Ausarbeitung der ungarischen Verfassung beteiligt gewesen. Nach dem Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn sah er mehr berufliche Möglichkeiten in der westlichen Hauptstadt der Doppelmonarchie. Es war die Zeit der Weltausstellung, und Wien war eine einzige riesige Baustelle. Mein Großvater sagte immer, einen besseren Spielplatz habe es auf der Welt nicht gegeben als die Baugruben, wo heute die Ringstraße ist. Die halbe Sippschaft Bárány ist nach Wien umgesiedelt, unter anderem auch der spätere Vater des berühmten Robert, der 1914 den Nobelpreis für Medizin bekommen sollte. Mit diesem Zweig der Familie hatten wir nie etwas zu tun gehabt. Mein Großvater, der gewiß nicht eitel und auch nicht mißgünstig war, empfand es als ›unausgewogen‹, daß nach all den Jahren der Mühe um sein Geschäft nun einem anderen Bárány die Aufmerksamkeit der Welt zuteil wurde, und das nur, weil ein paar eingebildete schwedische Spinner es so wollten … — Aber soweit sind wir noch lange nicht.
Wir schreiben das Jahr 1885. In Europa war ein großes Interesse an Afrika erwacht, besonders in Deutschland, und mein Großvater wollte unbedingt ins Geschäft kommen. Also setzte er zuverlässige Geschäftsführer in Wien und in der Filiale in Prag ein, zog nach Hamburg und eröffnete ein Kontor. Von den Handelsniederlassungen in Deutsch-Südwestafrika wurde Sagenhaftes berichtet, daß ein neuer Umschlagplatz für Elfenbein, für alle Arten von exotischen Früchten und Gewürzen und exotischen Hölzern im Entstehen begriffen sei, daß bald Massen von Siedlern aus Deutschland sich dort niederlassen würden, die natürlich mit Lebensmitteln aus der alten Heimat beliefert werden wollten. Mein Großvater träumte von Schiffen, die mit Kisten beladen waren, auf die in schlichten, selbstbewußten Lettern der Qualitätsname Bárány gebrannt war. Er wollte eine eigene Handelsgesellschaft in Windhoek aufbauen, wollte Scouts ins Landesinnere schicken, die mit Eingeborenen Handelsbeziehungen knüpfen sollten. Daß dort unten hauptsächlich Wüste war, davon wurde nicht geredet. Daß unter der Wüste Gold lag, das hat damals noch niemand gewußt. Mein Großvater hat sich mitreißen lassen von der wilhelminischen Aufbruchstimmung. Aber es wurde nichts daraus. Seine zukünftige Frau hat er in Hamburg kennengelernt, und bei ihr war mit Sicherheit ein besseres Liegen als auf dem Sonnenplatz des unsäglichen Wilhelm Zwo, dessen aggressiver Ungeschicklichkeit mein Großvater die Schuld daran gab, daß der deutsche Kolonialismus zu einer Operette verkam, noch ehe er seine Kräfte gesammelt und seine Ziele erklärt hatte.
Meine zukünftige Großmutter, Friederike Alverdes, lebte allein mit ihrem Bruder Hanns in einem großen Bürgerhaus in der Nähe des Kontors meines Großvaters. Ihre Eltern waren gestorben, Mutter und Vater im selben Jahr. Woran und wie, weiß ich nicht. Das war ein Thema, über das nicht geredet wurde. Ihr Vater war Senator der Hansestadt Hamburg gewesen und Leiter der Deputation für Handel und Schiffahrt, ein sehr wohlhabender, angeblich sehr vornehmer, in seltenen Fällen sehr jähzorniger Mann. Von meiner Urgroßmutter weiß ich nichts. Es hatte Gerüchte gegeben. Die beiden seien verschwunden, seien auf und davon oder ein Unfall. Nein, behaupteten andere, sie ist an einer Infektion gestorben und er aus Gram. Diese Version halte ich für wahrscheinlich. Noch wahrscheinlicher scheint mir, daß er an der gleichen Infektion gestorben ist. Tante Franzi hat geheiratet, sie war gerade zwanzig, und meine Großmutter war vierzehn. Tante Franzi wohnte nun bei ihrem Mann, sie kam nur einmal am Tag vorbei und sah nach dem Rechten. Ansonsten waren meine Großmutter und Hanns allein. Und als Tante Kuni zur Welt kam, zog Tante Franzi nach Göttingen. Meine Großmutter hat nie auch nur ein Wort über diese Zeit verloren. Ich kenne die Geschichte von Tante Kuni. Als ich in Göttingen studierte, hat sie mir einmal Einführungsunterricht in unsere Familie gegeben. Ich mußte ihr schwören, daß ich es weder ihrer Mutter noch meiner Großmutter verrate.
Eines Tages jedenfalls sei das Fräulein Friederike mit ihrem Bruder Hanns, der gerade vierzehn war, im Kontor aufgetaucht, habe sich ohne Anmeldung in das Büro des Prinzipals begeben und diesen mit Charme und Nachdruck gebeten, den Jungen als Stift bei sich aufzunehmen, damit eines Tages ein Handelsmann aus ihm werde. So lernten sich mein Großvater und meine Großmutter kennen. Ein Jahr später heirateten sie. Sie wohnten zusammen mit Hanns in ihrem Elternhaus. Mein Großvater kaufte eine Hälfte des Hauses und legte das Geld auf ein Konto, das seinem Schwager bei Datum seiner Volljährigkeit zur Verfügung stehen würde.
Hanns war ihnen wie ein Sohn. Er liebte seine Schwester und verehrte seinen Schwager. Tatsächlich sah mein Großvater in ihm einen künftigen Partner. Hanns war der geborene Kaufmann. Egal, mit wem er sprach, jedem vermittelte er den Eindruck, hier werde eine gemeinsame Sache vertreten. Jeder schätzte ihn älter, als er war. Er verfügte über ein erstaunliches Talent für fremde Sprachen und Dialekte. Wenn der Schweizer Vertreter zu Besuch war, konnte er nach einem Tag dessen Sprachmelodie parodieren. Das typische ungarische Wienerisch meines Großvaters sprach er so, daß keiner glauben wollte, er sei noch nie in Österreich gewesen. Mit Achtzehn beherrschte er Englisch und Holländisch, konnte sich in Französisch unterhalten und nahm Privatunterricht für Spanisch. Dabei wirkte er nie angestrengt, alles ging ihm leicht von der Hand, im Gegenteil: er hatte etwas Müßiggängerisches an sich, etwas Träges, Müdes, Phlegmatisches, beinahe Somnambules.
Als meine Mutter zur Welt kam, war Hanns gerade sechzehn. Er ignorierte das Kind. Tat weiterhin so, als wäre er der einzige. Es muß ein Engelssturz für ihn gewesen sein. Bis zu seinem neunzehnten Jahr hielt er in der Familie aus, dann floh er auf und davon. Das hieß, er zog aus, arbeitete aber weiter im Kontor. Am Tag seiner Volljährigkeit räumte er das Geld von seinem Konto ab und verschwand.
Mein Großvater kehrte nach Wien zurück, zusammen mit seiner Familie, man beschloß, in Wien zu bleiben und ein Haus zu bauen — am Rudolfsplatz. An den Ausmaßen dieses Gebäudes kann man erkennen, daß mein Großvater überzeugt davon war, daß sein Geschäft über Generationen bestehen und weiter expandieren würde. Im Erdgeschoß sollte ein Lager sein, das Mezzanin war für Büroräume vorgesehen, darüber die bel étage , das waren rund um den Innenhof zwölf Räume in expensiver Ausstattung, wo die Herrschaft wohnte, darüber ein Stockwerk, das leer war, sozusagen zur Reserve, gedacht als späteres Domizil der Kinder und Kindeskinder, und im letzten Stock schließlich waren die Zimmer für das Personal. Mein Großvater kaufte zusätzlich ein Haus in der Wollzeile, dort eröffnete er sein Geschäft — ein Geschäft, vornehm und prächtig, wie es in der Stadt bis dahin keines gab.
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