Margarida hatte ebenfalls im ersten Stock geschlafen, sie: mit Blick nach Süden; ein freundlicher, heller Raum, den sie mit Hilfe mehrfarbiger, spinnwebfeiner Vorhänge noch freundlicher gestaltete. Ihr Bett war breit und üppig mit Kissen belegt und von ähnlichen hauchdünnen Vorhängen umschleiert wie die Fenster. Ein dreiteiliger Spiegelschrank stand hier, Kirschholz, ein Wäscheschrank und ein rundes Tischchen mit zwei weichen Stühlen — manchmal hatte Carl, der Frühaufsteher, sie mit Kaffee und frischen Semmeln geweckt, sie hatten in ihrem Schlafzimmer gefrühstückt. (In ihrem Schlafzimmer rauchte sie nicht; wenn sie in der Nacht aufwachte, weil ihr Körper nach Nikotin verlangte, begab sie sich in eines der beiden winzigen Turmzimmerchen an den Seiten der Westfront des Hauses, in denen gar nichts war außer ein randvoller Aschenbecher, und rauchte zu dem ovalen Fensterchen hinaus.) Ich hatte Carl gebeten, mir zu erlauben, mich in ihrem Zimmer aufzuhalten; und er hatte gesagt:»Das erlaube ich dir gern. Grüße sie von mir!«Noch immer war in ihrem Zimmer ihre erstaunliche Fähigkeit zu spüren, abrupt eine nahezu transzendente Wärme auszustrahlen, Weltliebe, Gottesliebe. Unzählige gerahmte Fotografien hingen an den Wänden; unsere Familie war zu Besuch in dutzendfacher Ausfertigung — zum Beispiel: Georg Lukasser, auf einem Barhocker sitzend, die Beine übergeschlagen, die Arme auf der Gibson verschränkt, den Kopf schief, Zigarette zwischen den Schneidezähnen; oder: Agnes Lukasser im Wiener Wurstelprater, ein Gewehr im Anschlag, ein Auge zugekniffen, eine Haarsträhne bis zu den gekräuselten Lippen, sehr ernst, zielt vielleicht auf einen Teddybären, den sie ihrem Sohn schenken wird; oder: Sebastian Lukasser, zwanzig und in Farbe, auf dem Sofa schlafend, ein aufgeschlagenes Buch über dem Bauch — ein Krimi von James Headly Chase —, die Haare schulterlang, lederbrauner Schnurrbart mit Frank-Zappa-Kanten. Erst als David bereits seit vier Tagen bei mir in Wien war, fiel mir ein, daß ich mit ziemlicher Sicherheit auch ein Bild von ihm in Margaridas Schlafzimmer gesehen hatte: Ein junger Bursche um die Fünfzehn oder Sechzehn, der an einem Laternenmast lehnte und verlegen grinste. Weil ich ihn ja nicht gekannt hatte, war mir das Bild nicht aufgefallen. Es hätte irgendwer sein können, ein Verwandter oder ein Nachbarskind. Und wieder dauerte es eine Weile, bis mir ein Widerspruch auffiel: Als Margarida starb, war David zwei Jahre alt gewesen — also hatte Carl dieses Foto in Margaridas Schlafzimmer an die Wand gehängt. Daß er ihre Sammlung weitergeführt hatte? Daß er, den Blick auf diesen Raum begrenzt, versucht hatte, die Welt zu sehen, wie seine Frau sie gesehen hatte; daß er ihren Aufenthalt darin nachgeahmt hatte, um seine Frau post mortem zu begreifen? Margarida hatte keinen Geschmack gehabt, keinen guten, keinen schlechten; ästhetische Überlegungen hatten weder bei der Möblierung noch bei der Gestaltung der Fotowände ihres Zimmers eine Rolle gespielt. Sie hängte die Fotos dorthin, wo Platz war und wo sie, wenn sie auf dem Bett lag, sie betrachten konnte, ohne sich verrenken zu müssen — die großen Fotos ferner, die kleinen näher beim Kopfende. Auch die Vorhänge — rosa, gelb, malvenfarben, lindgrün —, ich bin mir sicher, sie hat sie allein nach Überlegungen ausgesucht, welche Farben ihren empfindlichen Augen wohltaten und welche nicht. Carl plante, Margarida plante nie. Sie trat nie einen Schritt zurück, um Gesamtschau zu gewinnen; das Gesamte interessierte sie nicht, das Gesamte war für sie ein Begriff, für den es in der Wirklichkeit kein Äquivalent gab. All die Einteilungen und Zusammenfassungen waren ihr eigentlich fremd — ein Jahr, ein Monat, eine Stunde; sie sagte:»Jetzt!«, und sie dachte genauso. Als Antipode und Kontrapunkt: Carl. Tagtäglichkeiten empfand er als beklemmend banal.»Daß ein Augenblick etwas zu bieten hat, ist so wahrscheinlich, wie wenn ein blinder Schütze aus einem Ballon über dem Atlantik eine Briefmarke trifft, die auf dem Wasser treibt. «Dagegen die Vergangenheit: Die Vergangenheit zeigte ihm nicht, was war, sondern was er im Akt des Sicherinnerns gestaltete. Oder die Zukunft: was er antizipierte. Die Gegenwart war nur mühsam und dem Denken und Ausdenken hinderlich. Dennoch: Die ungenierte Gegenwärtigkeit seiner Frau, die den Zusammenhängen so brachial und rücksichtslos entgegentrat, entzückte ihn; und war ihm zugleich nicht geheuer. Weil er jedoch im Innersten immer der Meinung gewesen war, so und nur so, nämlich im Bad der Phänomene, spiele sich wirkliches Leben ab, glaubte er — und hier zitiere ich ihn (am Ende traue er sich, es zu bekennen),»daß ich die meiste Zeit irgendwie tot war«. Die Musik und die Mathematik hätten ihn, aber auch nur in den glücklichen Phasen, aus diesem Hypnoseschlaf geweckt.
Carls Geschmack zielte auf das Abgeschlossene, das Fertige, das Klassische, das er, wenn er es für sich gewonnen hatte, über Jahrzehnte nicht änderte. Er ritualisierte die Dinge und seinen Umgang mit ihnen. Dahinter wirkte die Idee, daß in einer säkularisierten Welt das Sakrale nur als das Ästhetische erscheinen könne. Exakt so drückte er sich mir gegenüber aus, als ich Makoto Kurabashi mit meinem Vater verglich, daß sie beide ihre Sache, mein Vater die Musik, Makoto die Mathematik, in einer nachgerade priesterlichen Art und Weise betrieben hätten.»Sie verwandeln Religion in Schönheit«, faßte er es in eine Formel. Ich widersprach ihm. Sagte: Sowohl mein Vater als auch Makoto Kurabashi — soweit meine Schlüsse, die ich aus den Erzählungen gezogen hatte, richtig seien — verwandelten, eben genau umgekehrt, das Ästhetische in das Sakrale, Kunst in Religion. Nicht für sie, für ihn, für Carl, lasse sich, sagte ich im Tonfall des Vorwurfs, das Heilige in das Schöne übersetzen, ohne daß dabei etwas verlorengehe — nicht für den Mathematiker und den Musikanten. Mein Vater hatte einmal nach einem besonders schönen Solo, vorgetragen im Stiegenhaus zu Nofels — Publikum: meine Mutter und ich —, zornig ausgerufen:»Ja, glaubt ihr denn, das kommt von mir? Ich könnte nicht einmal halb so schön spielen! Das kommt von Gott!«Makoto Kurabashi sah es wohl nicht anders, nur daß er seine Sache wesentlich zusammenkürzte, indem er sich selbst zu einem Gott erklärte. — Wenn Carl in einer Aufwallung von Verzweiflung oder Fremdheit am Morgen dieses Tages nach dem lieben Gott gerufen hatte, so denke ich, der Weg, den er ihn bat ihm zu zeigen, sollte ihn aus dem Reich der Ästhetik und der Logik in das Reich des Numinosen führen.
Sein Gesundheitszustand hatte es nahegelegt, daß er ins Parterre übersiedelte. Das Eßzimmer war ausgeräumt und nach pflegerischen Gesichtspunkten zu einem Schlafzimmer umgebaut worden. Carl:»Wozu brauche ich allein ein Eßzimmer?«Nun standen hier ein Bett, das auf Knopfdruck alle Stücke spielte, und eine fahrbare Toilette; an der Wand waren zwei Waschbecken angebracht worden, eines tiefer, damit sich der Patient Gesicht und Hände waschen konnte, ohne aus dem Rollstuhl aufzustehen, das andere für das Pflegepersonal. Ein Telefon baumelte an einem Kran über dem Bett, ein weiteres klemmte neben den Waschbecken an der Wand. Ein Arzneischrank, verglast und aus weißlackiertem Eisen, stand in einer Ecke; darin stapelten sich die Arzneischachteln, auch eine elektrisch betriebene Kühlbox war da. Von der Decke herab hing eine milchweiße Glaskugel, die Lampe konnte vom Bett aus geschaltet und gedimmt werden. Die Wände waren weiß, die Vorhänge ebenso. Ein deprimierender Anblick; fehlte nur noch, daß der Boden gekachelt wäre.
Er werde zurechtkommen, sagte er kurz angebunden; ich solle mich nicht um ihn kümmern, es genüge, wenn ich den Rollstuhl parallel zum Bett stelle.
«Wenn du mich brauchst«, fragte ich,»wie merke ich das? Kann ich dich oben unter dem Dach hören? Doch sicher nicht. Soll ich im Wohnzimmer auf der Couch schlafen?«
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