Anträge der demokratischen Parteien abgelehnt! Ein Bursche brüllte aus vollem Hals und winkte wild mit einer Zeitung, der Stapel drohte ihm aus dem Arm zu rutschen. Weiter lebe die Sturmabteilung der nationalsozialistischen Partei!
Olle Kamellen, höhnte ein anderer Zeitungsjunge und schrie nun seinerseits aus vollem Halse: Erdbeben! Auch er winkte wild, und Helene fragte sich, ob er sich die Nachricht gerade ausgedacht hatte, um besseren Absatz zu machen. Immerhin, die Menschen rissen ihm die Zeitungen aus der Hand. Großes Erdbeben in China!
Und jetzt zum letzten Mal! Erste Klasse, Würsich, Numero vierhundertsiebenunddreißig!
Hier, das sind wir, brüllte Helene jetzt so laut sie konnte und stürzte die wenigen Meter nach vorn zu dem Mann, der gerade ihren Schrankkoffer in Ermangelung eines Besitzers auf den großen Gepäckwagen für nicht abgeholte Stücke schieben wollte.
Rote Fahne! Rief ein dünnes Mädchen mit einem kleinen Handwagen voller Zeitungen. Rote Fahne!
Die Vossische!
Der Völkische Beobachter! Helene erkannte den jungen Zeitungsburschen von vorhin. Wie alt mochte er sein? Zehn? Zwölf? Besetzung im Ruhrgebiet dauert an! Keine Kohle für Frankreich! Erdbeben in China! Auch er rief jetzt das Erdbeben aus, obwohl zweifelhaft war, dass sich seine Zeitung schon damit befasste.
Kaufen Sie die Weltbühne, meine Damen und Herren, ganz druckfrisch, die Weltbühne! Ein auffallend großer Herr mit Hut, Brille und Anzug lief in langen Schritten den Bahnsteig entlang. Obwohl er mit einem seltsamen Akzent sprach, hinter dem Helene sofort einen Russen vermutete, fanden seine kleinen, roten Hefte besten Anklang. Kurz nachdem er an Martha und Helene vorübergeschritten war, nahm ihm eine elegante Dame das letzte Heft ab.
Erst als jemand Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts! rief, fasste Helene den mutigen Entschluss, ein Bündel Markscheine aus der Manteltasche zu ziehen. In ihrem Mantel steckte noch die Zitrone. Die Markscheine rochen jetzt nach Zitrone. Schließlich kannte sie den Vorwärts, und es sah hoffentlich fein und gebildet aus, wenn sie mit einer Zeitung unter dem Arm bei der Tante eintrafen.
Sie nahmen eine Droschke mit mehreren Sitzen, vielleicht war es das, was Tante Fanny mit einem Kremser meinte. Die Häuser und Litfaßsäulen warfen schon lange Schatten. Am Schöneberger Ufer kam die Droschke zum Stehen, es sah aus, als wollte sich das Pferd verbeugen, es ging auf die Knie, die Vorderbeine sackten ihm ein, es krachte, Holz knackte, und das Pferd fiel seitlich in das Geschirr. Der Kutscher sprang auf. Er schrie etwas, stieg ab und klopfte dem liegenden Pferd auf den Hals, er ging um die Kutsche herum, nahm den Eimer vom Haken und entfernte sich ohne ein erklärendes Wort. Helene konnte erkennen, dass er zu einer Pumpe ging, wo er warten musste, bis ein anderer seinen Eimer voll hatte und er drankam. Die Laternen entlang der Straße wurden angezündet. Überall leuchtete und funkelte es. So viele Lichter, Helene stand auf und drehte sich rundherum. Ein Automobil mit einem lustigen Schachmuster, das sich wie eine Borte rund um das Gefährt rankte, hielt neben ihnen. Ob sie Hilfe benötigten, wollte der Fahrer aus seinem Fenster heraus wissen. Vielleicht brauchten sie ein Taxi? Aber Martha und Helene schüttelten den Kopf und blickten sich wieder nach ihrem Kutscher um. Der Taxifahrer ließ sich das nicht zweimal sagen. Vorn auf der Kreuzung winkte ein junger Mann nach ihm.
Wir hätten vielleicht umsteigen sollen, Helene blickte sich um. Der Kutscher kam mit dem Eimer Wasser in der Hand zu rück. Er spritzte das Pferd nass, schüttete dann den ganzen Eimer Wasser über das Pferd, aber das Pferd rührte sich nicht. Die Sonne war untergegangen, die Vögel zwitscherten noch, es wurde kühl.
Ham Ses noch weit? Das war das erste, was der Kutscher jetzt zu ihnen sagte.
Martha und Helene zuckten unschlüssig die Schultern.
Ach ja, Achenbach. Det is weit, kann ick nich lofen, Ihr Jepäck is ja och noch da. Der Kutscher sah betrübt aus.
Ein Wachmann schlenderte heran. Der Koffer wurde abge laden, Martha und Helene mussten absteigen. Ihnen wurde eine andere Droschke gewunken. Der Himmel war blau, als sie schließlich vor dem Haus in der Achenbachstraße ankamen. Der Hauseingang des vierstöckigen Hauses war erleuchtet, eine breite fünfstufige Steintreppe führte zu der eleganten Eingangstür aus Holz und Glas. In der Tür wartete ein Diener, der sie willkommen hieß und zur Droschke trat, um ihren Koffer in Empfang zu nehmen. Martha und Helene stiegen die breite Treppe hinauf in die Beletage. War das Marmor, echter, italienischer Marmor?
Da seid ihr endlich, rief eine große Frau. Sie streckte Martha und Helene ihre Hände entgegen, die bis über den Ellenbogen in Handschuhen steckten. Darüber glänzten nackte Schultern. Martha zögerte nicht lang, sie ergriff eine Hand, verneigte sich und küsste sie.
Nicht doch, sind wir bei Königen? Meine Nichten. Tante Fanny drehte sich auf dem Absatz und ihr langer Schal wehte Helene ins Gesicht. Anerkennend nickten einige der umherstehenden Damen und Herren, sie hielten den Schwestern zum Zeichen des Willkommens ihre Gläser entgegen und prosteten sich gegenseitig zu. Die Damen trugen Kleider aus dünnen Stoffen ohne deutliche Taille mit Kordeln und Tüchern um die Hüfte, ihre Röcke gingen nur wenig über das Knie hinaus und an den Füßen hatten sie Schuhe mit Riemchen und Absätzen. Manche von ihnen trugen das Haar so kurz, wie es sich einst Leontine geschnitten hatte, bis zum Ohrläppchen und im Nacken noch kürzer. Bei einer Frau schien das Haar in Wellen eng an den Kopf gepresst worden zu sein, neugierig betrachtete Helene die Frisuren und fragte sich, wie sie hergestellt wurden. Allein die vielen Hälse, wie sie hier aus geraden, markanten Schultern ragten, dort aus zierlich abfallenden, und stets zum Kopf der Mädchen, jungen Frauen und Damen führten, als sei neuerdings ihr Kopf die Krone der Schöpfung und nicht mehr ihre Hüften, an der sich alle längst sattgesehen hatten, verwirrten Helene. Die Herren trugen feine Anzüge und rauchten Pfeife, sie betrachteten die eingetretenen Schwestern mit begehrlichem Wohlwollen. Ein beleibter Herr blickte freundlich in Helenes Gesicht, dann glitt sein Blick an ihr entlang, über den sich öffnenden Mantel, unter dem ein in seinen Augen gewiss ländlich altmodisches Kleid zum Vorschein kam. Mit einem onkelhaft gütigen Nicken drehte er sich um, nahm dem Fräulein mit dem Tablett eins der Gläser ab und vertiefte sich in ein Gespräch mit einer kleinen Frau, deren Federstola bis zur Kniekehle reichte.
Was für hübsche Kinder! Eine Freundin hakte sich bei Tante Fanny ein und schwankte trunken, den Kopf voran wie ein Stier mit roten Locken, Helene entgegen. Ihr gewaltiger Paillettenbusen blinkte, als sie kurz vor Helene in die Höhe schoss.
Warum hast du uns diese zauberhaften Wesen so lange vorenthalten, meine Teure?
Lucinde, meine Nichten.
Ein Herr beugte sich neugierig über Tante Fannys nackte Schulter und schaute von Helene zu Martha und wieder zurück. Offenbar füllten die Gäste die Beletage bis in den letzten Winkel aus. Noch stand die Tür hinter ihnen offen. Helene blickte sich um, sie wollte fliehen. Als Helene etwas an ihrer Wade spürte und an sich herabsah, entdeckte sie einen kohlschwarzen Pudel, der frisch frisiert war. Es war der Anblick des Pudels, der sie ruhiger atmen ließ.
Ein Hausmädchen und ein Diener nahmen den Schwestern die Taschen aus den Händen und halfen ihnen aus den Mänteln, achtlos wurde Helene die Zeitung abgenommen, zwei weitere Diener kamen mit dem Koffer die Treppe herauf. Helene eilte einige Schritte hinter dem Fräulein mit ihrem Mantel her und nahm ihre Zitrone aus der Manteltasche.
Eine Zitrone, wie entzückend! Der rotlockige Stier namens Lucinde kreischte so leise wie nur möglich.
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