Nach Erledigung der Formalitäten verließen Wilbur und Alice Krugshank den Polizeiposten von Sligo und setzten sich in eine Kneipe. Die trotz ihrer Größe und ungewöhnlichen Ausstrahlung schüchterne Frau erklärte Wilbur, wie lange ein privater Ermittler nach ihm gesucht habe und wie glücklich sie gewesen sei, als die Nachricht kam, der so lange Vermisste sei gefunden. Immer wieder ergriff Alice Wilburs Hand, hielt sie für Sekunden fest und schüttelte lächelnd und den Tränen nahe den Kopf.
Sie wollte gleich mit ihm zum Flughafen Shannon fahren und in der nächsten Maschine nach New York fliegen, aber Wilbur bat sie, ihn in den Norden nach Portsalon zu bringen, wo er etwas Wichtiges zu erledigen habe. Alice entschuldigte sich für ihre Ungeduld und meinte, sie würde sehr gerne sehen, wo Wilbur aufgewachsen sei. Sie ließen den Kaffee und die Cola unangerührt stehen, setzten sich in den von ihr gemieteten Wagen und fuhren los. Alice war eine ängstliche, unkonzentrierte Lenkerin und Linksverkehr nicht gewohnt. Bei jedem Auto, das ihnen hinter einer Kurve entgegenkam, zuckte sie zusammen, lachte dann nervös auf und machte einen Scherz über ihre Fahrkünste.
Wilbur saß auf dem Beifahrersitz und hörte der Frau zu, die ihm von einem Kinderheim erzählte, von Ausflügen auf dem Rad, Seeüberquerungen im Ruderboot, Libellen und Fischen, Stutenmilch und Tanzlektionen. Er erinnerte sich an nichts, und trotzdem kamen ihm die geschilderten Orte und Ereignisse seltsam vertraut vor. Und er war froh, dass die Frau neben ihm unaufhörlich redete und keinen Moment der Stille zuließ, während der er sich hätte fragen müssen, was eigentlich mit ihm passierte.
Gegen Abend kamen sie in Portsalon an. Wilbur sagte Alice, wie sie durch den Ort fahren musste, und zog den Kopf zwischen die Schultern. Nachdem sie vor dem Haus angehalten hatten, blieb er eine Weile sitzen und versuchte, richtig zu atmen. Alice tat dasselbe, darauf wartend, dass Wilbur ihr von Henry und Pauline Conway erzählte. Aber dazu hätte Wilbur bei Orla anfangen und die Zeit mit Colm erwähnen müssen, und das wollte er nicht. In seinem Kopf stürzten die Erinnerungen durcheinander, außerdem war die Frau neben ihm eine Fremde, auch wenn sie das Gegenteil behauptete.
Schließlich stieg Wilbur aus und ging über die Einfahrt zur Garage, aus der er eine Schaufel holte. Im Garten grub er an der Stelle zwischen der Esche und der Steinmauer in der feuchten Erde, bis das Schaufelblatt auf etwas Hartes stieß. Er legte die Schaufel weg und kniete sich hin.
«Guten Tag, Wilbur.«
Wilbur hob den Kopf. Er war nicht erstaunt, Pauline Conway zu begegnen. Er hatte damit gerechnet, dass sie hinter dem Vorhang stehen und ihn beobachten würde, und es war ihm egal. Er blickte ihr ins Gesicht und sagte nichts.
«Ich…«Pauline verstummte und starrte auf den Boden, als würde dort etwas ihre Aufmerksamkeit erfordern. Dann sah sie erneut Wilbur an.»Man hat mich angerufen und über die Situation informiert. «Sie strich sich mit beiden Händen die Schürze glatt, obwohl sie tadellos gebügelt war.»Ich wünsche dir viel Glück in Amerika.«
Wilbur betrachtete das ausgehobene Loch. Er hatte einen Wurm zerteilt, dessen Teile sich wanden. In einem der Nachbarsgärten bellte ein Hund. Wilbur wischte mit den Händen Erde beiseite und legte ein Stück Rot frei. Dann ergriff er die Blechdose, zog sie hervor und stand auf. Er wollte weggehen, aber dann besann er sich, nahm die Schaufel und schüttete das Loch wieder zu.
Pauline kam über den nassen Rasen. Sie trug Hausschuhe aus Stoff, aber das schien sie ebenso wenig zu beachten wie die abendliche Kühle. Wilbur legte den Placken aus Erde und Grasnarbe auf das Rechteck, wo das Loch gewesen war, und trat ihn vorsichtig fest.
«Zeigst du mir, was du da drin hast?«Pauline stand vor ihm. Sie wirkte kleiner als früher, weniger einschüchternd, beinahe zart. Sie versuchte ein Lächeln, und man sah, dass sie es lange nicht getan hatte.
Wilbur zögerte, dann nahm er den Deckel von der Büchse. Ohne sie anzufassen, sah Pauline sich die Schätze an, Strohhalme aus Colms Scheune, die Eintrittskarte eines Dubliner Kinos, Matthews Wörterbuch, die Uhr, die Orla Wilbur geschenkt hatte, nachdem ihm die erste gestohlen worden war. Unten in der Büchse lagen die Briefe von seinem Vater und von Sune, vier gefaltete Seiten aus Eamons Heften, das Foto, das Orla in Sligo zeigte, und der Zeitungsartikel über ihren Kampf mit den Behörden.
Pauline griff in die Tasche ihrer Schürze, holte drei Briefe hervor und legte sie in die Blechdose. Auf einem Umschlag erkannte Wilbur Sunes eckige Buchstaben, auf den anderen beiden Matthews verschnörkelte Schrift und Marken mit dem Kopf der Queen.
«Die bin ich dir noch schuldig«, sagte Pauline.»Es tut mir leid. «Sie wartete, aber als Wilbur weiter schwieg, berührte sie ihn flüchtig am Arm, wandte sich ab und ging zur Verandatür.
«Wie geht es Mr. Conway?«
Pauline blieb stehen und drehte sich um. Ihr Lächeln war so flackernd und traurig, dass sie verlegen den Kopf senkte.»Es geht ihm gut«, sagte sie.»Die Leute dort kümmern sich um ihn. «Ihr war kalt, und sie legte die Arme um sich.»Er war krank, aber jetzt geht es ihm gut.«
«Bitte grüßen Sie ihn von mir«, sagte Wilbur.»Würden Sie das tun?«
Pauline nickte, und für einen Augenblick gelang ihr ein wirkliches Lächeln. Es schien, als wolle sie noch etwas sagen, doch dann ging sie ins Haus, schloss die Verandatür und zog den Vorhang zu. Wilbur sah zum Fenster hoch, hinter dem sein früheres Zimmer lag. Jetzt erst bemerkte er das Fehlen der Satellitenschüssel. Er fragte sich, was Pauline Conway wohl die ganze Zeit alleine machte, aber dann fiel ihm ein, dass sie ja noch Gott hatte.
Er ging zurück zur Straße, legte die Blechdose zum Koffer auf den Rücksitz, setzte sich neben Alice und bat sie, die kurze Strecke bis zu Matthew Fitzgeralds Haus zu fahren. Es wurde dunkel, aber Alice hatte es nicht eilig und stellte keine Fragen. Wilbur wusste, dass Matthew nicht mehr hier wohnte. Über einen gemähten Rasen ging er zum Holzschuppen, der aussah, als hätte ihn jemand instand gestellt, und als er sich dem Haus näherte, bemerkte er die gelb gestrichene Fassade und die neuen Fensterläden. Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm kam zur Hintertür heraus. Der kleine Junge aß eine Scheibe Brot und sah Wilbur regungslos an. Wilbur fragte die Frau, ob sie wisse, wo Matthew Fitzgerald sei, und sie sagte, er sei nach dem Verkauf des Hauses zurück nach England gegangen. Wilbur bedankte sich und verließ das Grundstück auf demselben Weg, auf dem er es betreten hatte. Er kletterte über die Steinmauer hinter dem Schuppen und ging zu dem Auto, in dem die Frau saß, die ihn in ein anderes Land bringen würde, in ein anderes Leben.
Sie übernachteten in einem Hotel in Letterkenny. Bis zum frühen Morgen lag Wilbur wach in seinem Zimmer auf dem Bett und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Beim Frühstück, von dem er keinen Bissen herunterbekam, dachte er daran, Alice zu fragen, ob sie zum Friedhof fahren und Orlas und Colms Gräber besuchen könnten, ließ es dann aber bleiben. Er spürte den Indianer und das Pferd in der Hosentasche, aber es half nicht viel. Er sah aus dem Fenster auf die leere Straße und in den Himmel, über den Wolken glitten, grau gefleckt wie ein riesiger Taubenschwarm.
Im Regen fuhren sie nach Shannon und saßen am Abend in einem Flugzeug nach New York.
Es ist sieben Stunden und fünfzehn Tage her, seit ich Aimee das letzte Mal gesehen habe, genau wie in dem Lied von Sinéad O’Connor, das ich in Orlas Küche gehört habe, als ich zehn war. Sie ist nicht runtergekommen. Eine Weile bin ich noch im Regen herumgestanden und dann zurück ins Hotel gefahren. Sie ist wütend auf mich gewesen an jenem Tag, und als sie mich da unten stehen sah, durchnässt und lächerlich, hat sie vermutlich gedacht, dass es das Beste sei, mich abzuhaken. Vielleicht hat auch der gute alte Stew nachgeholfen, hat sich hinter sie gestellt, für mich unsichtbar, und ihr etwas zugeflüstert. Stewart, der Löwenbändiger, der Aimee Aim nennt und nur eine Tür öffnen muss, um bei ihr zu sein.
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