Moriarty drehte sich um, ging zum Schreibtisch und setzte sich in den Sessel. Eine Weile sah er vor sich hin, die Hände zum spitzen Dach gefaltet. Schließlich nahm er das Foto seiner Frau in die Hand und betrachtete es. Aus weiter Ferne waren Polizeisirenen zu hören. Moriarty seufzte und sah Wilbur nach, der den Raum verließ. Er wollte rufen, dem Jungen etwas mit auf den Weg geben, aber es fiel ihm nichts von Bedeutung ein.
Eine Woche nach dem Vorfall waren achtundvierzig der sechsundfünfzig Ausreißer gefasst. Callum Gallagher war nicht unter ihnen. Nur einer aus der Gang hatte sich erwischen lassen und saß jetzt in einer Jugendstrafanstalt im Norden Dublins, weil er auf der Flucht ein Auto gestohlen und zu Schrott gefahren hatte. Wilbur wurde in Ruhe gelassen. Die meiste Zeit des Tages verbrachten die Jungen in der Bibliothek und in den Schlafsälen. Vor den Türen standen Wächter, zwei davon eben erst eingestellt. Männer in Anzügen gingen durch das reparierte Tor ein und aus, schritten zielstrebig über die Flure, kletterten auf die Türme und machten Fotos.
Im Büro, das Moriarty geräumt hatte, wurden Sitzungen abgehalten. Miss Rodnick kochte in fünf Tagen mehr Kaffee als in den fünf Jahren davor. Die Tür zum Kraftraum war verriegelt worden, eine Bestrafungsaktion, die allen Insassen galt, auch denen, die am Tag der großen Flucht im Gebäude geblieben waren. Doktor Carrigan kam jeden Tag vorbei und sah nach den zwei Jungen, die auf der Krankenstation lagen. Einer hatte sich beim Rennen über die Felder den Fuß verstaucht, der andere den Arm gebrochen, als er vor der anrückenden Polizei auf einen Baum geklettert und heruntergefallen war. Irgendjemand hatte Geraldine angewiesen, bis auf Weiteres keinen Nachtisch mehr zuzubereiten, auch das eine Strafmaßnahme.
Um Gruppenbildungen und Verschwörungszirkeln vorzubeugen, wurden den Jungen neue Nummern zugeteilt. Wilbur musste in einen anderen Schlafsaal umziehen, und der Zufall wollte es, dass er mit Conor zusammengelegt wurde. Während der Nachmittagsstunden, in denen sie eingesperrt waren, lagen die meisten Jungen auf ihren Betten, lasen, hingen ihren Gedanken nach oder dösten vor sich hin. Obwohl Redeverbot herrschte, setzten sich Wilbur und Conor in eine Ecke und unterhielten sich leise. Weil die Jungen nicht arbeiteten, den Kraftraum nicht benutzen durften und ganze Tage verschliefen, waren sie nachts hellwach. Dann wurden siebenundzwanzig flüsternde Stimmen zum Lärm, und so teilten sie sich in Gruppen von je neun auf, unterhielten sich eine Stunde, schwiegen zwei und redeten dann weiter.
Wilbur und Conor hatten viel nachzuholen und verbrachten jede Minute ihrer Sprechzeit zusammen. Zum ersten Mal erzählte Wilbur jemandem von seiner Zeit bei den Conways, von Ari’s Mega Video Store , von den Besuchen bei Colm, von Matthew Fitzgerald, vom Cellospielen und der Reise nach Schweden. Im Flüsterton vorgetragen, klang die Geschichte wie ein seltsames Märchen, dem Conor, zum staunenden Kind geworden, atemlos lauschte.
Sieben Tage und Nächte dauerte es, bis beide ihre sieben Jahre losgeworden waren. Dann sprachen sie wieder über Schiffe und fremde Länder, über Meeresgetier und Flugzeuge und Bücher, wie sie es früher auf dem kleinen Hügel vor Orlas Haus getan hatten. Trotz Moriartys Weggang und den Veränderungen, die ein anonymes Gremium anordnete, waren die beiden Freunde glücklich und beschlossen, noch eine Weile in Four Towers zu bleiben. Für Wilbur standen die Chancen dafür nicht schlecht, denn seine Brandstiftung in der Bibliothek war inzwischen aktenkundig, und auch Conor durfte sich Hoffnungen machen, da man an höherer Stelle nicht mehr viel von Robert Moriartys Empfehlungsschreiben hielt und erst einmal sämtliche vorzeitigen Entlassungen auf Eis legte.
Die zuständigen Behörden waren Robert Moriartys Kündigungsgesuch zuvorgekommen und hatten ihn fristlos entlassen. Noel Moger, ein Mitglied der ehemaligen Gang, war auf der Flucht gefasst worden und hatte über die vergleichsweise paradiesischen Zustände in Four Towers geplaudert und damit Moriartys alten Gegnern reichlich Munition geliefert und sogar Leute im Justizministerium alarmiert. Bei seiner Vernehmung erzählte Moger von nächtlichen Fernsehvergnügen und Schutzgelderpressungen ebenso freimütig wie von eingeschmuggelten Pornoheften und den Preisen für Alkohol und Zigaretten. Er zitierte munter aus dem Gesetzbuch der Gang und schilderte, wie Übertretungen bestraft wurden und dass die Jungen, die über die Jahre hinweg mit Prellungen und blauen Flecken auf der Krankenstation gelandet waren, keineswegs immer nur einen Treppensturz hinter sich hatten. Seine Aussagen deckten sich mit denjenigen von anderen Jungen, die im Zuge der Untersuchungen befragt wurden und bereitwillig über alle möglichen geheimen Freiheiten, das vertuschte Feuer in der Bibliothek und einen bestechlichen Wachmann berichteten. Gegen Moriarty wurde ein Verfahren eingeleitet, O’Carroll wurde vom Dienst suspendiert.
Elf Tage nachdem der angetrunkene Henry Conway im Lieferwagen des Restaurants, für das er manchmal in der Küche arbeitete, das Tor durchbrochen hatte, trat ein neuer Direktor offiziell sein Amt an. Er hieß John Townsend, war zweiundvierzig, hatte einen von frühmorgendlichen Waldläufen gestählten Körper und kürzeres Haar als die jugendlichen Delinquenten, deren Aufenthalt in Four Towers er grundlegend zu ändern gedachte. Er trug dunkelblaue Anzüge mit Weste, hörte in seinem Ford Mondeo klassische Musik und trank täglich drei Liter stilles Wasser. Miss Rodnick rief er Gloria und leitete an seinem ersten Arbeitstag die vorzeitige Pensionierung der unter seinem Kommando gleichzeitig überforderten und aufblühenden Frau in die Wege. Mit den Wachmännern, den altgedienten und den von ihm eingestellten, pflegte er einen jovialen Umgang und erwartete von ihnen unbezahlte Überstunden als Zugeständnis unter Freunden.
Er ließ eine Stechuhr installieren und Videokameras, Bewegungsmelder und Sicherheitsschlösser. Aus dem Taubenschlag wurde wieder ein Wachturm, aus der Bibliothek ein Arbeitsraum für die kalte Jahreszeit. Die vom Brand verschonten Bücher kamen in einen Raum neben Miss Rodnicks Büro, wo Briefpapier und alte Ordner lagerten. Die tägliche Arbeitszeit der Insassen wurde um eine Stunde verlängert, Besuchstag war nur noch jeden zweiten Monat. Die Öffnungszeiten des Kraftraums beschränkten sich auf jeweils zwei Stunden am Samstag und Sonntag, wobei nur die Jungen Zugang hatten, die sich in der laufenden Woche keine Fehltritte erlaubt und ihre Arbeitsvorgaben erfüllt hatten. Um nicht als Unmensch zu gelten, ließ der neue Direktor im Hof zwei Basketballkörbe anbringen und wenigstens am Sonntag wieder einen Nachtisch servieren, den nicht mehr die wegen Bestechlichkeit entlassene Geraldine zubereitete, sondern ein Koch.
In der zweiten Woche nach seinem Amtsantritt beorderte Townsend Wilbur zu sich. Er hatte die Absicht, sämtliche Insassen der Reihe nach zu empfangen, um sich einen Eindruck von ihrem moralischen Zustand zu verschaffen und ihnen mitzuteilen, dass er nichts von dem, was unter Moriartys Leitung möglich war, auch nur ansatzweise dulden würde. Eigentlich hatte er sich die gefassten Flüchtlinge zuerst vorknöpfen wollen, aber dann erhielt er einen Anruf und setzte Wilbur Sandberg zuoberst auf seine Liste. Er saß hinter einem Schreibtisch aus getöntem Glas und Chromstahl und hob nicht einmal den Kopf, als Cormack Wilbur in den Raum schob.
«Danke, Michael«, sagte Townsend, während er mit einem Metallstift auf das Bedienungsfeld des Organizers tippte, der vor ihm auf der fast leeren Tischplatte lag.
«Keine Ursache, Mr. Townsend, Sir. «Cormack verließ das Büro und schloss die Tür hinter sich.
Wilbur stand da und wartete, betrachtete die leeren, weiß gestrichenen Wände und die neuen Regale, auf denen Reihen dicker, gleichfarbiger Bücher standen. Er wusste, dass er der erste war, den Townsend zu sich bestellte, und er fragte sich, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war.
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