Nachdem Conor gegangen war, stellte Moriarty sich eine Weile ans Fenster und blickte auf die fernen Hügel, die zum ersten Mal seit Tagen im Sonnenlicht schimmerten. Seine Hand krampfte sich um den Griff des Stocks, seine Augen waren müde. Er wollte sich setzen, blieb aber stehen und dachte daran, wie es wäre, diese Arbeit aufzugeben. Ob es leicht sein würde, Four Towers zu verlassen und die Jungen und Miss Rodnick, Foley, Cormack, Geraldine und alle anderen im Stich zu lassen. Er überlegte, wie er sein Kündigungsschreiben formulieren würde, ob er den Mut haben würde, Versäumnisse einzuräumen. Ob er seinen guten Ruf aufs Spiel setzen und zugeben würde, dass hier Dinge geschahen, die er nicht für möglich gehalten hatte. Zugeben, dass in seiner Anstalt Jungen andere Jungen krankenhausreif prügelten, dass neben seinem noch ein anderes Gesetz herrschte, ein strengeres.
Tauben flogen vorbei, und er fragte sich, was aus ihnen werden würde, wenn er ginge. Sein Lebenswerk, überlegte er, würde Schaden nehmen, ein Falke seinen Platz einnehmen und Four Towers mit eiserner Hand führen. Er würde sich eine andere Stelle suchen müssen, mit vierundfünfzig. Elizabeth wäre vermutlich nicht angetan von diesen Veränderungen. Nicht jetzt, wo ein Kind in ihr wuchs.
Seine Hand zitterte, und er wechselte den Stock in die Linke. Wolken zogen heran, die Hügel wurden zu sanften, dunklen Wellen. Er war der Kapitän, und dies war sein Schiff. Nichts von dem, was hier geschehen war, musste nach außen dringen. Keiner der Vorfälle der letzten Tage war besorgniserregend genug, um die Pferde scheu zu machen. Er hatte alles unter Kontrolle, brauchte keine Ratschläge von externen Experten, die durch sein Reich stolzierten und von Videoüberwachung und Disziplinierungsmaßnahmen schwärmten. Er konnte auf die Gutachten dieser eiskalten Kerle verzichten, die das Gefängniswesen in Amerika studiert hatten und aus seinen Kindern Verbrecher und dem Taubenschlag wieder einen Wachturm machen wollten. Er kannte sie von Kongressen, diese Karrieretypen mit ihren Mobiltelefonen und elektronischen Notizbüchern, diese Angeber, die hinter seinem Rücken seinen Führungsstil kritisierten und Witze über seinen Stock rissen. Er hatte ihnen zugehört und wollte sie nicht hierhaben.
Er ging zum Schreibtisch, setzte sich hin und wählte Bill Carrigans Nummer. Der alte Mann war auf seiner Seite, Moriarty wollte es sich nur bestätigen lassen.
Wilbur hatte den Brief immer wieder gelesen, so lange, bis er ihn auswendig konnte, wie Conor. Er lag in seinem Bett auf der Krankenstation und murmelte die Worte vor sich hin, fing nach dem letzten wieder beim ersten an, endlos. Ein Matrose hatte sie aufgeschrieben, Abschiedsworte an seine Frau. Eamon McDermott hatte sie unterschlagen, gestohlen und in eine Kiste gelegt, die Kiste in einen verlassenen Dachsbau geschoben. Conor Lynch hatte den Brief gefunden, unter Tüchern, unter dem Fernrohr und dem Messer und dem Revolver, den er in jener Nacht holte. Im Mondlicht hatte er den Brief gelesen und entschieden, ihn Wilbur nicht zu zeigen, schon damals ahnend, was er bedeutete.
Als Wilbur Schritte auf dem Flur hörte, zerriss er das Blatt, auf das Conor den Brief aus dem Gedächtnis geschrieben hatte, und stopfte die Streifen in eine Lücke zwischen den Fliesen und dem Abflussrohr des Waschbeckens. Er war seit Stunden angezogen, die frische Kleidung hatte Foley am Morgen auf das Nachbarbett gelegt. Sein Kater war verflogen, Appetit hatte er trotzdem keinen. Am linken Fuß trug er einen Schuh, am rechten nur einen zu großen Strumpf, weil der Zeh noch immer bandagiert war. Er stand neben dem Bett, als Moriarty und O’Carroll die Tür aufsperrten und das Zimmer betraten. Geraldine folgte ihnen mit Putzzeug und einem Wäschekorb. Moriarty wirkte bekümmert, als er sich im Raum umsah.
«Na, wie geht es uns denn heute?«fragte er und zwang sich zu einem Lächeln und einem munteren Ton.
Wilbur zuckte mit den Schultern. Hose und Hemd waren ihm zu groß. Dass der Alkoholkonsum für eine Schrumpfung seines Körpers verantwortlich sein könnte, erschien ihm unwahrscheinlich und bei näherer Betrachtung absurd. Er hatte viel über die schrecklichen Folgen unmäßigen Trinkens gehört und gelesen, aber in seinem Fall handelte es sich offensichtlich nur um eine Fehleinschätzung der Kleidergröße.
«Doktor Carrigan sagt, wenn du nicht mehr husten würdest, sei dein Urlaub beendet. «Moriarty setzte sich auf eins der leeren Betten und blickte nach draußen, wo Regen niederging. Seewind trieb Wolken über einen Himmel, der ständig seine Farben wechselte, in einer Minute grau auf die Hügelkuppen drückte und in der nächsten blau erstrahlte. Regen fiel nach dem gleichen unregelmäßigen Muster und trocknete rasch in den heftigen Böen und der Sonne, die nach jedem Wolkenschub über die Landschaft flutete.
Wilbur dachte daran, zu husten, räusperte sich dann aber nur. Geraldine rieb mit einem Putzlappen über das Waschbecken, zog danach die Laken von Wilburs Bett und legte sie in den Korb. O’Carroll stand bei der Tür, die Arme im Rücken gekreuzt. In der Stille konnte man die Regentropfen hören, die der Wind gegen das Glas warf.
Moriarty sah Wilbur nachdenklich an.»Ich würde gerne mit dir reden, Wilbur«, sagte er schließlich.»In meinem Büro. «Er erhob sich, wobei er beide Hände auf den Stock legte, sah eine Weile selbstvergessen zu, wie Geraldine die Knöpfe des Kissenbezugs öffnete, und ging dann zur Tür, die O’Carroll für ihn öffnete.
Conor saß im Taubenschlag und sah in den von Licht geweiteten Himmel. Er war mit der Arbeit fertig, aber hinlegen wollte er sich nicht. Dass Wilbur mit ihm gesprochen, dass er ihm vielleicht verziehen hatte und sie wieder so etwas wie Freunde waren, ließ ihn vor Unruhe immer wieder aufstehen und herumgehen, obwohl hier oben kaum Platz war. Die Schwellung seiner Lippen war zurückgegangen, und er konnte sich wieder ohne Schmerzen im Bauch strecken und die Schuhe binden. Callum Gallagher und die Typen aus der Gang ließen ihn in Ruhe. Sie hatten ihn nach Wilburs Zustand gefragt, und er hatte ihnen gesagt, Wilbur habe eine üble Rauchvergiftung und schwere Verbrennungen und müsse wohl noch eine Weile auf der Krankenstation bleiben. Die Gang war enttäuscht, ihr stand der Sinn nach Rache und Bestrafung, nicht nach Warten.
Conor sah hinunter in den Hof, wo die Jungen mit Holzstöcken auf ihre Matratzen einschlugen. Sie hassten diese Arbeit, und ihr Hass entlud sich in den Hieben, die auf dem Turm wie weit entferntes Gewehrfeuer klangen. Conor würde seine Matratze später ins Freie schleppen, um den Staub und den Milbenkot aus ihr zu prügeln und sie mit einer Lösung zu besprühen, die die Jungen Moriartys Nebel nannten. Auch zum Haareschneiden würde er erst gehen, nachdem der letzte Kunde vom Sessel geklettert war. Er fuhr sich mit der Hand über die Haare, die so kurz waren, dass sie sich nicht mehr wie früher lockten.
Direktor Moriarty, der als Vorsteher des Sozialamtes verwahrloste Kinder mit Läusen und den Bisswunden von Wanzen gesehen hatte, war vom Tag seines Amtsantritts darum bemüht gewesen, die hygienischen Bedingungen in Four Towers zu verbessern und das Ungeziefer, das sich unter dem Regiment seines Vorgängers vermehrt hatte, ein für alle Mal auszumerzen. Groteske Geschichten über seinen Feldzug machten die Runde, und alle rochen nach Essig und Salmiak und Schwefel und dem Mittel, das jede Woche auf die Matratzen gesprüht wurde. Berichte von ehemaligen Insassen kursierten, in denen geschrubbt und geschwitzt und mit kochendem Wasser hantiert wurde. Anekdoten hielten sich, in denen von Quarantänen die Rede war, von Ausräucherungsaktionen und tiefgefrorenen Kissen, von Vorträgen über Wanzenlarven und Milbeneier, von zwischen die Glasplättchen eines Mikroskops gequetschten Flöhen und von Fotos asiatischer Kakerlaken, groß wie Mäuse.
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