«Die Hoffnung habe ich nicht aufgegeben«, sagte Moriarty so leise, dass Wilbur es kaum verstand.»Das tue ich nie.«
Eine Weile standen die beiden noch schweigend da, dann verließen sie den Raum. Wilbur hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Er blieb auf der Seite liegen und wartete, bis die Schritte sich entfernt hatten, wartete, bis das Kreisen der Gedanken langsamer wurde und der Drang, weinen zu müssen, nachließ. Dann öffnete er die Augen und schlug die Bettdecke zurück, wo sie auf dem verbrannten Zeh lag. Er überlegte, ob er so betrunken gewesen war, dass er nicht gemerkt hatte, wie er Feuer fing. Wären die Flammen über seinen Fuß das Bein hochgekrochen, im Stoff der Hose Nahrung findend? Wäre er verbrannt, zusammen mit sämtlichen Büchern, dem Schund, dem Mittelmaß und dem Lesenswerten? Das brachte ihn auf die Frage, wer ihn gerettet hatte.
Conors Lippen sahen aus, als hätte er zwei Würstchen unter sie geschoben, wie Stuart Maguire es manchmal im Speisesaal tat, wenn er den Clown gab. Die Haut um seine Rippen war dunkel verfärbt, am rechten Unterarm prangte ein blauer, faustgroßer Fleck. Wenn er atmete, tat es weh, und wenn er sich aufrichtete, ritzten Messer seine Bauchmuskeln.
Doktor Carrigan, der in dieser Nacht zum zweiten Mal nach Four Towers hinausgefahren und entsprechend übel gelaunt war, hatte ihn untersucht und eine Überweisung ins Krankenhaus für unnötig befunden. Der alte Arzt hatte mit seiner Frau neun Kinder großgezogen, darunter fünf Söhne, und er nahm Conor kein Wort von der Geschichte mit dem Treppensturz ab.»Wenn du gefallen bist«, hatte er gesagt,»bin ich geflogen. Von Collooney bis hierher, wie ein Vögelchen. «Dann hatte er Moriarty eine Salbe gegen Prellungen und eine Handvoll Schmerztabletten gegeben und war nach Hause gefahren zu seiner Frau, die in einem warmen Bett auf ihn wartete. Moriarty hatte die Tabletten in den Medizinschrank gesperrt, Foley angewiesen, alle zwei Stunden nach den beiden Patienten zu sehen, und war dann mit Elizabeth ebenfalls nach Hause gefahren, um noch zu ein paar Stunden Schlaf zu kommen.
Jetzt lag Conor in dem Bett, das dem von Wilbur schräg gegenüber stand, und horchte auf den Atem des Jungen, der einmal sein Freund gewesen war. Die Tabletten begannen zu wirken. Ihre Inhaltsstoffe dockten an den richtigen Stellen seiner Nervenbahnen an, blockierten gezielt Impulse und legten sein Versandzentrum für Schmerzen lahm. Er lag auf dem Rücken und glitt mit den Fingern über jede einzelne Rippe, nur um sicherzugehen. Draußen drückte Licht durch die Dunkelheit wie Feuchtigkeit durch schweren Stoff. In seinem Kopf leierte eine simple Melodie. Er betastete seine Lippen. Für einen Spiegel hätte er aufs Frühstück und Mittagessen verzichtet. Er war nicht müde, nur erschöpft.
«Ich hab die gefragt, ob ich zur Beerdigung darf, aber sie haben’s nicht erlaubt. «Conors Stimme war wie die Deckenlampe, die unschlüssig und nervös angesprungen war, als O’Carroll ihn hergebracht hatte. Sie war wie Strom, nicht wie Licht, und floss schwankend in einer dunklen Bahn.»Ich hab denen gesagt, sie können zehn Bullen mitnehmen, um mich zu bewachen. Oder ich seh von Weitem zu, aus ’m Fenster von ’nem Polizeiwagen. Nichts zu machen.«
Eine Weile herrschte Stille. Wilbur atmete, ohne sich zu rühren.»War vielleicht besser so, wer weiß. Hätte nicht mal Blumen besorgen können. Wilde Margeriten, die hat Orla doch so gemocht. «Conor blickte an die Decke, das schillernde Rechteck, getüncht mit Mondschein. Als sie zur Leinwand wurde, drehte er den Kopf und sah zur Tür.»Hätt eh keinem in die Augen sehen können.«
Wilbur atmete aus, das Ächzen kam von alleine und ohne Absicht. Sein Zeh juckte.
«Wenn ich hier rauskomm, geh ich zum Grab und leg ihr die Blumen hin. Ich weiß ’ne Straße, da wachsen sträußeweise Margeriten. Zwischen Kies und ’nem Zaun wachsen die, Hunderte, man würd’s nicht glauben. «Conor spürte die Stellen, wo Elizabeth Moriarty die Salbe mit ihren Händen eingerieben, die Haut dabei fast nicht berührt hatte. Sie glühten.
Wilbur wedelte mit dem Fuß, um den Zeh zu kühlen.
«Deinem Großvater leg ich auch ’n paar hin. Wenn er sie nicht will, soll er sich beschweren.«
Wilbur gluckste, hielt den Atem an. Draußen verzog sich der Nebel.
«Dann geh ich weg. Irgendwohin, wo mich keiner kennt. Ich fahr mit dem Schiff, je größer das Meer, umso besser.«
Wilbur hustete.
«Wahrscheinlich heuer ich auf ’nem Frachter an. Da werd ich bezahlt und seh was von der Welt.«
Wilbur sah aus dem Fenster. Die Sonne strahlte den Mond an, und der gab von seiner Helligkeit der Erde ab, die Dinge leuchten ließ. Wilbur musste daran denken, dass manche der Sterne, deren Funkeln er sah, schon vor langer Zeit erloschen waren. Nichts war für die Unendlichkeit bestimmt, nicht einmal die Lebensspanne eines Planeten.
«Tasmanien«, sagte Wilbur.
Die Stille, die folgte, dauerte eine Ewigkeit.
«Mindanao«, sagte Conor endlich, und Licht schwebte in seiner Stimme.
Als Folge des Brandes würde die Bibliothek für mindestens zehn Tage geschlossen bleiben. Das bedeutete, dass den Jungen ein wichtiger Ort des Rückzugs genommen wurde, wozu auch immer jeder einzelne diese Momente nutzte. Zudem mussten alle ein paar Stunden damit verbringen, die schlammige Masse aus Löschwasser, verkohlten Büchern und Teppichfetzen vom ruinierten Parkett zu kratzen, Ruß von den Wänden und der Decke zu wischen und alles neu zu streichen. Die Movie Men radierten Wilbur von ihrer Mitgliederliste und schworen Rache.
Die Gang, deren geheime Gesetze Wilbur mit Füßen getreten hatte, würde ihn bestrafen. Conor hatte sich bei seinem nächtlichen Ausflug erwischen lassen, und man hatte ihm eine Lektion erteilt. Dass er jemanden gerettet und ein Feuer gelöscht hatte, war belanglos. Moriarty würde nicht nur in der Bibliothek aufräumen. Er würde wissen wollen, warum Wilbur um Mitternacht durch die Flure spazieren und eine verschlossene Tür öffnen konnte, woher er den nachgemachten Schlüssel hatte und wie er an den Schnaps und die Streichhölzer gekommen war. Es würde eine Untersuchung geben, und das war das letzte, was die Gang in ihren Mauern brauchte. Wilbur würde nicht die Treppe hinunterfallen, er würde von einem Güterzug überrollt werden.
Conor musste die Krankenstation nach einem Tag verlassen. Doktor Carrigan hatte ihm Zähigkeit und eine gute Gesundheit bescheinigt, auf die Schulter geklopft und die Salbe gegen Prellungen geschenkt. Moriarty, von Foley begleitet, holte Conor ab und unterhielt sich dann über eine Stunde in seinem Büro mit dem Jungen, dessen Lippen nach wie vor geschwollen waren. Conor musste dem Direktor noch einmal die ganze Geschichte erzählen, wie er nicht schlafen konnte, den Rauch roch und die Tür eintrat, wie er den halb bewusstlosen Wilbur vom Feuer wegzerrte und die Flammen mit einem Teppich und Wasser aus einer Vase und einer Gießkanne löschte. Wie er später in der Nacht, nachdem er Moriarty den Hergang zum ersten Mal geschildert hatte, den Schlafsaal verließ, um frische Luft zu schnappen, und, vom Rauch noch leicht benebelt, die Treppe hinunterstürzte.
Anders als Doktor Carrigan war Moriarty dazu bereit, Conors Geschichte zu glauben, zumindest teilweise. Dass manche nicht schlafen konnten, aus schlechten Träumen aufwachten oder bei einem einsamen Gang durch die Flure ihren Gedanken nachhängen wollten, konnte er verstehen. Das verstieß zwar gegen die Regeln, aber es war kein Verbrechen. Bei seinem Antritt hatte Moriarty die Anordnung seines Vorgängers, die Türen der Schlafräume nachts abzusperren, aufgehoben, nachdem er über den Brand in einem südamerikanischen Gefängnis gelesen hatte, bei dem zahllose Gefangene umgekommen waren. Er fragte Conor, ob er Wilburs Motive kenne, und gab sich mit einem ahnungslosen Nein zufrieden. Bevor er ihn gehen ließ, zeigte er ihm den Brief, den er vor ein paar Tagen verfasst hatte und in dem er Conors vorzeitige Entlassung anregte.
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