Wilbur war zu überrumpelt, um einen Ton hervorzubringen. Natürlich erinnerte er sich an seine ehemalige Lehrerin. Einen Monat nachdem er auf die neue Schule gewechselt war, hatte sie ihn bei den Conways besucht, um zu sehen, wie es ihrem Lieblingsschüler ging, dem Wunderkind, dessen Zukunft sie in so leuchtenden Farben gezeichnet hatte. Pauline hatte Kaffee gekocht und Kuchen gebacken, und Wilbur hatte auf dem Cello gespielt. Er erinnerte sich daran, dass Miss Ferguson ihm Broschüren englischer Eliteuniversitäten mitgebracht und beim Abschied fast geweint hatte.
«Sie war deine Grundschullehrerin und ist jetzt pensioniert«, sagte Moriarty. Er wartete noch immer auf eine Reaktion von Wilbur.»Sie war in England bei ihrer Schwester und hat erst kürzlich erfahren…«Er öffnete eine Schublade seines Schreibtisches, sah eine Weile nachdenklich hinein und schloss sie wieder, ohne ihr etwas zu entnehmen.»… wie es dir ergangen ist in letzter Zeit.«
«Sie weiß, dass ich hier bin?«Wilburs Hirn arbeitete auf Hochtouren, um die möglichen Folgen eines Zusammenlebens mit Miss Ferguson abzuschätzen. Gleichzeitig forderte ihn eine innere Stimme lauthals auf, Moriarty die Geldscheine, die, mit Papier umwickelt, in seinen Schuhen lagen, zu zeigen, die nach Schweiß und Leder riechenden Scheine auf den Tisch zu knallen und ihn über die wahren Zustände in Four Towers aufzuklären. Immer dröhnender befahl ihm die Stimme, sich als einen der Schlimmsten darzustellen, als Unscheinbaren, der dank seiner Intelligenz die Lücken des Systems erkannt hatte und zu nutzen wusste. Die Wahrheit würde den naiven, von Gleichheit und Gerechtigkeit träumenden Menschenfreund so treffen, dass er für keinen der Jungen mehr ein gutes Wort einlegen, für keinen je wieder eine vorzeitige Entlassung beantragen würde.
«Oh ja, selbstverständlich ist sie über deinen momentanen Aufenthaltsort im Bilde. «Moriarty grinste kurz und klappte die Akte zu.»Sie hat mich vor ein paar Tagen angerufen und gestern zu Hause besucht. Eine äußerst nette und kultivierte Dame, muss ich sagen. Sehr rüstig für ihr Alter. Ich bin sicher, sie wird es mit dir aufnehmen können. «Er erhob sich und ging ohne den Stock zum Bücherregal, um ein gekipptes Buch aufzurichten.»Bis zu deinem achtzehnten Geburtstag dauert es ja sowieso nicht mehr sehr lange, nicht wahr?«
«Nein, Sir. «Wilbur sah sich in einem Bett mit geblümter Wäsche liegen. Er sah Miss Ferguson, die ihm Kekse und einen Becher heißer Milch brachte. Er hörte, wie sie ihn nach der Hauptstadt der Mongolei fragte und der Dauer des Zweiten Punischen Krieges. Am neunzehnten März nächsten Jahres würde er volljährig sein. Am selben Tag würde Bruce Willis seinen dreiundvierzigsten Geburtstag feiern. Er sah sich blutend am Boden liegen, zusammengeschlagen von der Gang als Rache für seinen Verrat, der vielleicht nicht einmal seine Auslieferung an Miss Ferguson verhindern konnte. Er wollte Moriarty alles erzählen, aber er tat es nicht.
«Dann wäre, denke ich, so weit alles geklärt«, sagte Moriarty. Er nahm seinen Stock, ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke.
Wilbur erhob sich.
«Sobald es Neuigkeiten gibt, werde ich dich darüber in Kenntnis setzen. «Moriarty öffnete die Tür und klopfte Wilbur, der den kalten Flur betrat, auf den Rücken.»Und übertreib es nicht mit dem Gewichteheben.«
«Nein, Sir«, sagte Wilbur.»Danke, Sir. «Er drehte sich nicht mehr um, ging den Flur hinunter und um die Ecke und an O’Carroll vorbei, der mit einer Tasse Kaffee aus dem Raum der Wachmänner kam und ihm nachrief, er solle gefälligst grüßen. Wenig später betrat er die Bibliothek, wo Jack Connolly für ihn eingesprungen war, setzte sich an einen der hintersten Tische und dachte im Schutz des Paravents darüber nach, wie er seinen Aufenthalt in Four Towers verlängern konnte.
Conor hatte es nach ein paar erfolglosen Versuchen aufgegeben, mit Wilbur zu reden und ihn für das, was geschehen war, um Verzeihung zu bitten. Es tat weh, seinen ehemaligen Freund jeden Tag zu sehen und nicht mit ihm sprechen zu können. Obwohl er den Polizisten, dem Psychologen oder Moriarty gegenüber nie Reue über seine Tat gezeigt hatte, zerriss es ihm das Herz beim Gedanken, dass er, wenn vielleicht auch nur indirekt, für Orlas Tod und Wilburs Unglück verantwortlich war. Seit jenem Tag vor sieben Jahren plagten ihn Albträume, aber die Bilder, die ihn nachts schweißnass aufschrecken ließen, zeigten nicht seinen von der Kugel niedergeschossenen Vater, sondern eine regennasse Landstraße, ein zuckendes, sterbendes Pferd und Orla, die über die himmelblaue Wellen werfende Kühlerhaube gebreitet dalag, ihm in die Augen sah und mit den Lippen ein blutiges Wort formte, das er nicht erriet.
Die Einzelheiten des Unfalls hatte er von einem der Polizisten, die ihn verhörten, den Rest aus der Zeitung. Monatelang hatte er einen Artikel mit sich herumgetragen, bis das Papier, wo es gefaltet war, riss und er es kleben musste. Die Schwärze der Schrift hatte sich in feinen Staub aufgelöst, die Buchstaben verblassten und verschwanden teilweise, das Papier wurde weich und dünn und zerfiel an den Rändern. Das Klebeband vergilbte, wurde spröde, bekam Risse und brach. Irgendwann nahm Conor den Ausschnitt aus der Hosentasche und bewahrte ihn in seiner Reisetasche auf. Eines Tages verbrannte er ihn im Taubenschlag, kratzte die Asche zusammen und warf sie vom Turm in den Wind. Doch das Ritual blieb ohne Wirkung, die Träume verschwanden nicht und auch nicht die allabendliche Angst vor ihnen.
Lange Zeit hatte Conor gehofft, Wilbur könnte ihm vergeben und die schlimmen Träume würden seltener werden und irgendwann ganz ausbleiben. Er hätte aus dem Dunkel seiner Wände treten, wieder mit Menschen reden und als ein Mensch leben können, statt zu schweigen und törichte Worte an Tauben zu verschwenden. Er hätte die Umarmung seiner Mutter zugelassen und den Kuss seiner Schwester, und er hätte ihnen vielleicht endlich erlaubt, von seinem Vater und Kieran zu erzählen, davon, wie die beiden abwechselnd auf dem Pferd ritten und in der Sommerhitze im nahen See planschten. Aber sosehr er sich eine Aussöhnung mit seinem alten Freund auch wünschte, so gut verstand er doch, warum Wilbur ihm diese Absolution verweigerte. Den Erlass der Sünden gab es im Beichtstuhl, aber im wahren Leben büßte man bis zuletzt für seine Taten.
Conor erwartete keine Erlösung mehr, keine helleren Tage und kein Glück. Er hatte bis jetzt nicht den Mut gehabt, seine Mutter zu bitten, ihn nicht mehr zu besuchen, aber er würde es bald tun. Er war müde und gleichgültig gegenüber seinem Schicksal. Er wollte nicht mehr reden und nicht mehr jeden ersten Sonntag im Monat seine ganze Kraft aufwenden, um Aislin und Fiona einen behutsam ins Licht zurückkehrenden Sohn und Bruder vorzuspielen, der irgendwann wieder ein Leben haben würde.
In der Bibliothek, wo er hinging, wenn Wilbur nicht da war, hatte er ein Buch über Meditation gefunden. Jetzt lag er manchmal nachts in seinem Bett und ließ sich in einen Zustand gleiten, der kein Denken war und kein Empfinden und auch kein Schlaf, sondern das, was er für die Lage seines Vaters hielt. Es war ein tiefes, lichtloses Meer, ein großer Fluss, in dem Bilder trieben, sich wälzten und für Sekunden ihre schimmernden Seiten zeigten wie Fische ihre Bäuche. Es war ein Fallen und Schweben, ein ständiges Entgleiten. Es war ein dumpfes Ahnen, weit weg vom Erinnern. Es wurde ein Versinken, ein Ausruhen, ein halber Tod.
Wilbur war nicht der einzige Nachtwandler. Wenn der Wachmann seine Außenrunde machte, begegneten sich die schlaflosen Jungen auf den Fluren wie Mönche im Kloster. Im Sommer war vielen die Luft im Schlafsaal zu stickig, im Winter flohen sie vor dem Husten der Bettnachbarn. Manche suchten eine stille Ecke zum Rauchen, andere wollten für eine Weile ihre Ruhe. Die Movie Men schlenderten seelenruhig über die Gänge, Neulinge huschten ängstlich umher. Niemand redete oder machte Lärm, niemand stahl oder beschädigte etwas und gefährdete damit den nächtlichen Freiraum. Wer es dennoch tat, bekam es mit der Gang zu tun, die jeden neu Angekommenen über die Regeln aufklärte. Am Tag waren alle hier Gefangene, nachts konnte jeder, der wollte, eine Weile frei sein, solange er sich an die geheimen Gesetze hielt.
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