Die Arbeit in der Bibliothek, bei der sich die vier Jungen im Wochenrhythmus abwechselten, war ein willkommener Kontrast zur stupiden Tretmühle der Werkstatt, aber worauf Wilbur sich wirklich freute, war die Fertigstellung des Kraftraums. Nach elf Wochen, während derer er und vierunddreißig andere Jungen feuchten Verputz von Kellerwänden geklopft und weggekarrt, verfaulte Bodenbretter entfernt und Lehm und Schutt herausgeschaufelt, mit Isolationsmaterial, Gipsplatten, Beton und Mörtel hantiert, einen neuen Boden eingezogen, die Wände neu verputzt und gestrichen, eine Heizung und Beleuchtung installiert und Parkett und Teppich verlegt hatten, war der Raum fertig. Was jetzt noch fehlte, waren die Hanteln und Gewichte, die Bänke und Rudergeräte und Sandsäcke.
Wilbur hatte in einem Wissenschaftsmagazin, das ein Arzt der Bibliothek aus seinen Wartezimmerbeständen überließ, einen Artikel über Bodybuilding gelesen und sich vorgenommen, endlich ein paar Muskeln zuzulegen. Er war jetzt siebzehn Jahre alt, einen Meter siebenundfünfzig groß und wog lächerliche achtundvierzig Kilo. Es gab in Four Towers nur noch einen Jungen, der so kurz geraten war. Sein Name war Danny McAllister, aber alle außer Wilbur nannten ihn Midge, kurz für Midget, Liliputaner. Danny war sechzehneinhalb, vier Zentimeter kleiner als Wilbur, dafür elf Kilo schwerer. Er hatte Wilbur auf die Gruppe aufmerksam gemacht, die im Keller einen Kraftraum baute, und ihn dazu überredet, ihr beizutreten. Danny war pummelig und kurzatmig und fest entschlossen, etwas daran zu ändern. Zusammen saßen sie in der Bibliothek und lasen Berichte über Gewichtheben und Muskelbildung, über Eiweiße, Ernährung und Anabolika. Sie lasen das Buch eines ehemaligen Mister Universum mit dem Titel Pump It Up! , in dem viel von Leiden und Schmerzen die Rede war. Sie lernten die Namen von Muskeln auswendig, Trapezmuskel, Deltamuskel, Bizeps, innerer schräger Bauchmuskel, Strecker, Beuger. Wilbur übertrieb es wie immer und las auch alles über Sarkoplasma, Endomysium und Azetylcholin, bis er mit sämtlichen Abläufen innerhalb seiner unterentwickelten Muskulatur vertraut war.
«Protein«, sagte Danny, als sie beim Mittagessen saßen. Es gab Kartoffelbrei, grüne Bohnen und eine Scheibe Rinderbraten, zum Nachtisch Apfelkompott.
«Was ist damit?«Wilbur zwang sich, seinen Teller zu leeren und dabei nicht an Pauline Conway zu denken. Er hatte die Absicht, mehr zu essen und schwerer zu werden. Vielleicht würde er dadurch auch noch wachsen.
«Wir werden eine Menge davon brauchen«, sagte Danny.»Eier wären nicht schlecht.«
Wilbur dachte nach.»Ich werde mit Geraldine reden.«
Es wäre übertrieben gewesen zu behaupten, die Köchin im Four Towers sei bestechlich. Aber das Gerücht hielt sich, Geraldine Dunne sei gegen Bezahlung eines bescheidenen Betrages bereit, den Jungen kulinarische Sonderwünsche zu erfüllen. Wilbur hatte gehört, sie habe dem aus gutem Haus stammenden Peter Summerhill Räucherlachs besorgt und zwei Jungen, die ihr Geld zusammengelegt hatten, zehn Tafeln Nussschokolade. Ein paar Extraeier von ihr zu bekommen sollte kein Problem sein, dachte Wilbur, und er wusste auch schon, wer ihm das Geld dafür geben würde.
Jeden ersten Sonntag im Monat war Besuchstag. Ließ das Wetter es zu, wurden ein paar Tische und Bänke in den Hof gestellt, regnete es, empfingen die Zöglinge ihre Verwandten und Bekannten im Speisesaal. Wer dem Gemurmel, dem Lachen und gelegentlichen Weinen entgehen wollte, durfte mit seinem Besuch in die Bibliothek, wo Foley, O’Carroll oder einer der anderen Wachmänner darauf achtete, dass die Regeln eingehalten wurden. Wilbur zog es vor, mit Henry Conway in der Bibliothek zu sitzen.
Am ersten Sonntag nach Wilburs Ankunft in Four Towers waren Aislin und Fiona Lynch gekommen, um Conor zu besuchen, und Aislin hatte bei Wilburs Anblick zu weinen begonnen und ihn mit Fragen bestürmt. Dann war auch Fiona in Tränen ausgebrochen, und Wilbur war nach ein paar gestammelten Antworten in die Bibliothek geflohen, wohin ihm Henry wenig später verwirrt gefolgt war.
Henry besuchte Wilbur jeden Monat. Er hatte sich drei Tage nach dem Brand von Pauline getrennt und lebte in einer ehemaligen Mühle am River Easky, fünf Kilometer von einem Ort gleichen Namens und zwanzig von Sligo entfernt. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen und trug jetzt alte Cordhosen, ausgeleierte Wollpullover und Jacken, deren Löcher er selber stopfte. Seine Anstellung bei der Bank hatte er gekündigt. In der Küche eines Restaurants, dessen Wirt er kennengelernt hatte, half er manchmal aus, putzte Gemüse und spülte Teller. Er hatte sich das Angeln beigebracht und wie man einen Garten anlegt. Das Brennholz für seinen Kamin sammelte er am Meer.
Er sei glücklich, versicherte er Wilbur. Dabei lächelte er und sah seinem Gegenüber in die Augen. Dann senkte er jeweils den Blick und betrachtete seine Hände, deren Haut gebräunt und rissig war. Am Hals war unter dem Pullover ein Stück weißer Hemdkragen und der Knoten einer dunklen Krawatte zu sehen. Wilbur vermutete, dass es sich jeden Monat um dasselbe Hemd und dieselbe Krawatte handelte. Er sah Henry genau an, wenn der von seinen Stangenbohnen erzählte oder einer besonders großen Forelle, die er gefangen hatte. Der Mann, der einmal sein Ziehvater gewesen war, schien vor Leben zu sprühen, und doch war in seinen Augen und seinen Bewegungen etwas, das Wilbur misstrauisch machte. Hinter jedem Lachen und jeder Geschichte und jeder Beteuerung, zufrieden zu sein, lag eine Traurigkeit verborgen, die Wilbur sich nur damit erklären konnte, dass Henry seine Frau vermisste.
«Geht es dir auch wirklich gut hier drin?«fragte Henry, wie er es jedes Mal tat.
«Mir fehlt nichts«, sagte Wilbur, ohne nachzudenken, und lächelte ein wenig.
Henry nickte und sah auf seine schrundigen Hände.»Ich baue jetzt Kartoffeln an, weißt du?«
«Kartoffeln sind okay«, sagte Wilbur.»Hier gibt es viermal die Woche Kartoffeln.«
«Gut«, sagte Henry, nickte erneut und krümmte die Finger so, dass der Dreck unter den Nägeln nicht mehr zu sehen war.
An diesem Sonntag waren sie fast alleine in der Bibliothek. Außer O’Carroll, der immer wieder kurz einnickte, saßen nur noch Tommie Fitzgerald und dessen Eltern und Rory Simmons mit seiner Mutter an den Tischen bei den Fenstern. Im Speisesaal verloren sich eine Handvoll Zöglinge und deren Besucher. Es war Sommer, und die Leute hatten Besseres zu tun, als nach ihren missratenen Söhnen und Enkeln zu sehen.
«Heute Abend werde ich mir einen Kartoffelauflauf im Ofen machen«, sagte Henry.»Mit Dosenspargel und Speck und mit Käse überbacken. «Er nickte eifrig und sah dann aus dem Fenster, wo zwei Tauben vorbeiflogen.
«Klingt lecker«, sagte Wilbur. Er kannte das Rezept, es war von Pauline.
Tommie Fitzgerald regte sich über etwas auf, das sein Vater sagte, wurde laut und fluchte. O’Carroll wachte aus seinem Dämmerzustand auf und wies den Jungen, der wegen Diebstahls und Fahrerflucht hier war, zur Ordnung. Henry schob Wilbur rasch ein paar Scheine zu, die er aus dem Ärmel des Pullovers gezogen hatte. Wilbur nahm das Geld und steckte es unter den enganliegenden Hemdkragen.
«Danke«, sagte er leise.
Henry schloss kurz die Augen und nickte. Tommie hatte sich beruhigt, aber sein Vater stand auf und verließ den Raum. Seine Mutter, eine dicke Frau, die ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Hut trug wie zu einer Beerdigung, weinte und folgte ihrem Mann. O’Carroll tastete Tommie nachlässig ab und begleitete ihn zur Tür, wo Foley den Jungen in Empfang nahm. Dann setzte er sich wieder auf seinen Stuhl und kämpfte gegen den Schlaf.
Oft redete Henry während der gesamten Besuchszeit von den Plänen, die er für seine Zukunft schmiedete. Er hatte das Auto verkauft und sein Bankkonto aufgelöst und sonst alles, was ihm gehörte, im Haus gelassen. Die Anzüge, Krawatten und Schuhe brauche er nicht mehr, sagte er, die könne Pauline ihrem Bruder geben. Immer wenn er den Namen seiner Frau aussprach, machte er danach eine lange Pause, während der er mit zusammengepressten Lippen leicht den Kopf schüttelte und sich die Handrücken kratzte. Er wolle eine Weile in der alten Mühle bleiben und dann nach Dublin gehen, um Geologie zu studieren. Aufgeregt redete er davon, wie er nach dem Studium im Auftrag von Minengesellschaften und Erdölfirmen in fremde Länder reisen würde, um nach Bodenschätzen zu suchen. An einem Sonntag versprach er, Wilbur als seinen Assistenten mitzunehmen, am nächsten, aus jedem Land eine Karte zu schicken. Einmal war er euphorisch und erzählte von den Büchern, die er gekauft hatte, ein andermal bedrückte ihn der Gedanke, Irland zu verlassen.
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