Wilbur hörte einfach nur zu. Sollte jemand anders Henry erklären, dass er möglicherweise nicht mehr jung genug für ein Studium sei und sicherlich zu alt, um eine Stelle als Geologe zu bekommen. Er wollte ihm nicht beibringen, dass niemand auf einen weltfremden neunundfünfzigjährigen Mann wartete, der sich einen Bubentraum verwirklichen wollte. Er hörte einfach zu und nickte, und wenn Henry lächelte, lächelte er zurück.
Am Ende der Stunde, die sie hatten, blickte Henry auf die Stelle an seinem linken Handgelenk, wo früher die Uhr gewesen war und wo die Sonnenbräune den hellen Umriss fast zum Verschwinden gebracht hatte.»Also«, sagte er,»ich geh dann besser mal. «Er blieb einen Moment unschlüssig sitzen, legte schließlich die Handflächen auf die Oberschenkel und stand auf.
«Ja«, sagte Wilbur und erhob sich ebenfalls.
O’Carroll beobachtete, wie Wilbur und Henry Conway sich die Hand schüttelten. Wilbur musste am Tisch bleiben und darauf warten, dass O’Carroll ihn kontrollierte und von der Liste strich. Er stand da und sah Henry nach, wie er langsam den Raum verließ, fahrig und leicht gebückt und ein ausgebranntes Feuer mit sich schleppend.
Am Tag vor der Eröffnung des Kraftraums hielt Direktor Moriarty eine Rede. Wie immer wartete er damit bis nach dem Abendessen, und wie immer stand er dazu zwischen den beiden Stahlsäulen vor dem Durchgang zur Küche. Er trug einen dunkelbraunen Anzug mit Weste, eine schwarze Krawatte und schwarze Schuhe. Er sah zufrieden aus, aber auch müde. Einige Jungen witzelten, der Direktor sehe seit der Hochzeit so mitgenommen aus, weil ihm seine sexsüchtige Frau jede Nacht das Äußerste abverlange.
Moriarty betonte erst, wie stolz er auf alle sei, die an einem der Projekte beteiligt waren, einerlei, ob es sich dabei um Kultur oder Sport handle. Er lobte noch einmal die Jungen, die aus der ehemals kümmerlichen Büchersammlung eine ansehnliche Bibliothek gemacht hatten und mit ihrem Einsatz entscheidend dazu beitrugen, der geistigen Bildung in Four Towers den Weg zu ebnen. Sein Aufruf an die Zöglinge, mehr zu lesen, verhallte scheinbar ungehört im Saal, und erst seine erneute Rechtfertigung, die Computer nicht mit Internetanschluss zu versehen, löste missbilligendes Gemurmel aus.
Dann pries er den Fleiß und Durchhaltewillen der Gruppe, die ein schäbiges Kellerloch in einen mehr als nur vorzeigbaren Kraftraum verwandelt hatte. Er erwähnte die Metzgerei Dunphy, die fünf Langhanteln gespendet hatte, und die Landwirtschaftsgenossenschaft, Hauptabnehmerin der Fallen, die für die Kosten von zwei Rudermaschinen aufgekommen war. Das Ende eines schlappen Applauses abwartend, erinnerte er die Jungen daran, dass es bei der Ertüchtigung des Körpers nicht darum gehe, Kraft zu entwickeln, um Schwächere zu drangsalieren, sondern darum, ein Gleichgewicht zwischen Körper und Geist zu finden. Muskeln seien dazu da, um Arbeit zu verrichten und Gutes zu tun, nicht um die Faust für den Kampf zu stählen.
Nachdem er seine Ansprache beendet hatte, gab er dem im Hintergrund wartenden Foley ein Zeichen, worauf dieser und Michael Cormack, ein fünfzigjähriger Wachmann mit einem winzigen, von einer Hornbrille beherrschten Kopf, etwas Schweres in den Saal trugen, das unter einem weißen Laken verborgen war. Moriarty erklärte bewegt feierlich, er und seine Frau hätten sich Gedanken zur Einweihung des Kraftraums gemacht und entschieden, die Schenkung eines Sportgeräts sei eine dem besonderen, wenn nicht gar historischen Anlass angemes sene Geste. Nach einem weiteren Zeichen des Direktors entfernte Foley das Laken und enthüllte ein mit einer breiten roten Schleife verziertes Trimm-dich-Fahrrad. Als die Jungen das Gerät ohne sonderliche Gefühlsregungen anstarrten, forderte Moriarty einen von ihnen, den groß gewachsenen Aidan Fogarty, auf, nach vorne zu kommen und probeweise in die Pedale zu treten. Weil weder der Sattel noch der Lenker auf Fogartys Maße eingestellt waren, sahen dessen Bemühungen derart ungelenk aus, dass Moriarty ihm nach kurzer Zeit bedeutete, abzusteigen und sich zurück auf seinen Platz in der ersten Reihe zu setzen.
Der Abend endete damit, dass der kleine Computer am Lenker zu piepen begann und nicht mehr aufhörte und Moriarty die beiden Wachmänner ungewohnt gereizt aufforderte, das Fahrrad zu entfernen, bevor er die Jungen in die Schlafräume entließ.
Wann immer es möglich war, verbrachte Wilbur seine freie Zeit im Kraftraum. Da er einer der Jungen war, die beim Umbau geholfen hatten, war er im Besitz eines A-Passes. Das bedeutete, dass er ein Jahr lang keinen Eintritt in Form von Arbeitsstunden entrichten musste und immer Zutritt hatte, außer es befanden sich bereits zwanzig Inhaber eines A-Passes im Raum. Zwanzig, das war die Zahl, die der Architekt als Richtlinie angegeben und die Moriarty als Gesetz verkündet hatte. Die Begrenzung machte Sinn, und sogar die ewigen Rebellen und Querulanten akzeptierten sie, ohne zu murren. Hätte man jeden reingelassen, der wollte, wären sich die Jungen in den fünfundneunzig Quadratmetern, die zur Hälfte von Geräten beansprucht wurden, auf die Füße getreten.
Jungen, die nur einen B-Pass hatten, konnten sich den Zutritt verdienen. Einmal Kraftraumbenutzung kostete zwei Arbeitsstunden in Küche, Garten, Bibliothek oder Taubenschlag. Für die Einhaltung dieser Regeln sowie Ordnung während des Trainings sorgte jeweils einer der Wachmänner, der neben der Sprossenwand an einem Tisch saß, die Pässe und abgeleisteten Arbeitsstunden kontrollierte und die Jungen zurechtwies, wenn diese mit den Hanteln Unfug trieben oder in zweideutigen Stellungen vor dem Spiegel posierten.
Wilbur und Danny absolvierten ihre Trainingseinheiten gemeinsam. Sie hatten sich komplexe Aufbaupläne zusammengestellt und in der Bibliothek ausgedruckt, und sie befolgten sie stur und demütig und mit einer heimlichen Lust an der Qual. Lag Danny auf der Bank und stöhnte unter dem Gewicht einer Langhantel, die es genau fünfmal zu stemmen galt, stand Wilbur dabei und zählte laut mit, jederzeit bereit, seinem Partner und Leidensgenossen beim Absetzen der Hantelstange zu helfen. Schnaufte Wilbur an der Butterflymaschine, die seine Hühnerbrust in gewölbte Kraftpakete verwandeln sollte, war es Danny, der die Bewegungsabläufe und Zahl der Ausführungen überwachte. Die Übungen, Gewichte und Wiederholungen trugen sie gewissenhaft in ihre Tabellen ein, die sie auf Klemmbrettern mit sich herumtrugen.
Sie dehnten jeden Muskel, bevor sie eine Hantel anfassten, achteten auf ihre Atmung, benutzten als einzige Moriartys Rad und ignorierten den Spott der schwitzenden, schnaufenden Banausen, die sich ohne Sinn und Verstand an den Maschinen austobten und blindwütig auf die Sandsäcke eindroschen, als seien es Psychologen oder Polizisten. Am Schluss standen sie abwechselnd auf der Waage, die das Geschenk eines pensionierten Arztes war, und notierten ihr Gewicht in die dafür vorgesehene Spalte auf ihren Blättern. Dann duschten sie, leerten ihre Teller und würgten danach heimlich noch mindestens zwei hartgekochte Eier hinunter, die Geraldine Wilbur zum vierfachen Marktpreis verkaufte.
In den Nächten nach einem Training lag Wilbur in seinem Bett und gab sich dem Ziehen und Brennen in seinen Armen, Beinen und in seiner Brust hin. Der Schmerz fühlte sich gut an, denn er versprach Wachstum. Wilbur stellte sich vor, wie seine Muskeln prall und hart wurden und wie er gleichzeitig in die Höhe schoss, angetrieben von Hormonen und Botenstoffen, von Proteinverbindungen, Aminosäuren und Genen, die aus einem siebzehnjährigen Schlummer erwachten.
Der Tag, an dem Direktor Moriarty Wilbur zu sich kommen ließ, war ein Mittwoch. Wilbur war gerade auf dem Weg zur Bibliothek, als Cormack ihn holte. Jetzt saß er im Büro im Besucherstuhl und wartete. Miss Rodnick hatte ihm gesagt, der Direktor sei noch mit einem Klempner im Heizungskeller beschäftigt, aber gleich bei ihm. Wilbur fragte sich, was er angestellt hatte. Als ihm außer den manipulierten Ausleihdaten der Bibliothek, Henrys Geld und den Eiern, die er damit kaufte, nichts einfiel, kam er zum Schluss, dass die Movie Men aufgeflogen sein mussten. Vor ein paar Tagen hatten fünf Jungen Apocalypse Now gesehen und waren von O’Carroll erwischt worden. Der Wachmann hatte ein Riesentheater gemacht und damit gedroht, Moriarty zu unterrichten. Nur dank Peter Summerhill, der über unerschöpfliche Geldreserven zu verfügen schien und ein großzügiges Schweigegeld zahlte, behielt O’Carroll die Sache für sich.
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