Der halbe Liter Pocheen, billiger Kartoffelschnaps aus einer Schwarzbrennerei, hatte Wilbur ein Vermögen gekostet. Der Fusel war, auf zwei Plastikdosen verteilt, in Ersatzteilen für Traktoren eingeschmuggelt worden. Callum Gallagher, dessen kriminelles Potential in Four Towers erst richtig zur Entfaltung kam, hatte seinem Kunden die Hälfte des Geldes als Anzahlung abgenommen und den Rest bei Lieferung. Dann hatte er ihm anschaulich erklärt, was er mit ihm machen würde, falls Wilbur erwischt und seine Quelle preisgeben würde. Wilbur hatte versprochen, vorsichtig zu sein.
Jetzt saß Wilbur in einer Ecke der Bibliothek und zwang sich, den Armeleutewhiskey löffelweise hinunterzuschlucken. Er wusste, dass man sich mit Alkohol Mut antrinken konnte, und genau das beabsichtigte er zu tun. Den Schlüssel zur Bibliothek, eine von vier Kopien, hatte er vom Präsidenten der Movie Men gegen Bezahlung einer horrenden Leihgebühr erhalten. Er steckte im Schloss der abgesperrten Tür. Heute war keine Filmnacht. Im Fernsehen lief nichts Nennenswertes, jedenfalls nicht auf den drei irischen Kanälen, die mit Hilfe der selbstgebastelten Zimmerantenne zu empfangen waren.
Der Alkohol schoss warm durch Wilburs Venen und wuchs im Hirn wie eine schwere schwarze Wolke. Blitze strömten aus der Wolke und sickerten bis in die Fingerspitzen. Der Hals brannte, im Bauch loderte es. Müdigkeit löste Angst ab, danach kamen Übelkeit und ein dummes Grinsen.
Schließlich, nach der ersten Dose, entflammte in Wilbur etwas wie Furchtlosigkeit, vielleicht auch nur Leichtsinn. Jedenfalls war genug davon da, dass Wilbur damit begann, Bücher aus den Regalen zu nehmen und sie auf dem Boden aufzutürmen. Obwohl er schwankte, wählte er die Bücher sorgfältig aus, ließ die Romane, für die er gekämpft hatte, stehen, und warf die Werke von redseligen Pfaffen, Kardinälen, Politikern und anderen Schwätzern auf den Haufen, dazu die billig gebundenen, gekürzten und dennoch nie ausgeliehenen Romane der Sammlung von Reader’s Digest , ein Ratgeberbuch, das Glück versprach, einen Bildband über Schweden, zwei Bände mit dem Titel Deine Zukunft in der Armee , ein bebildertes Werk über Tierfallen sowie alles, was er zu den Themen Pfadfinder, Pilgerreisen und Wasser fand. Die vierzehn Bücher, die sich mit Tauben beschäftigten, stellte er wieder an ihren Platz, nachdem er sich Moriartys Bestürzung ausgemalt hatte.
Irgendwann schüttete er den Rest Fusel aus der zweiten Dose über den Bücherberg, schaffte es nach ein paar zittrigen Versuchen, eins der sündhaft teuren Streichhölzer anzureißen, und ließ es fallen. Der Alkohol flammte blau und weiß auf, das Papier wurde gelb, dann braun und schwarz. Leder warf Blasen und schälte sich, Pappe kräuselte sich in der Hitze. Heller Rauch stieg hoch. Wilbur setzte sich hin, legte den schweren Kopf an die Wand und schloss die Augen. Direktor Moriarty würde enttäuscht sein. Miss Ferguson würde vielleicht weinen. Nein, so einen Jungen konnte sie beim besten Willen nicht in ihr Haus aufnehmen. Einer wie Wilbur Sandberg gehörte genau da hin, wo er war, auch wenn er damit der besseren Welt verlorenging.
Er hörte Moriarty, der nach ihm rief. Vielleicht war es auch Foley oder O’Carroll oder Henry. In seinem Schädel lärmte es. So fühlte es sich also an, wenn man betrunken war. Die Augenlider Vorhänge aus schwerem Samt. Kichern vor Angst und Übermut. Stimmen im Kopf.
«Wilbur!«Laut und deutlich.
Er öffnete die Augen, ein Stück weit nur. Der Rauch war jetzt dunkel, die Flammen loderten. Er atmete die verbrannten Worte ein, legte das Kinn auf die Brust und schloss die Augen.
«Wilbur!«Verweht, von sehr weit weg.
Und das Poltern des Gewitters, entfesselt von der Wolke in seinem Schädel.
Cormack hasste die Nachtschicht. Er hasste es, auf dem schlecht geheizten Turm zu stehen und in die Dunkelheit zu starren. Weil er nicht rauchte, aß er Bonbons und Schokolade, um das langsame Verrinnen der Zeit erträglicher zu machen. Es gab keine Mrs. Cormack, die zu Hause auf ihn wartete, aber eine Katze mit einem Hang zum Trübsinn namens Lady Belle. Während er auf die schwarzen Felder sah, dachte er an das Puppenhaus, das er gerade baute und das er an Weihnachten zusammen mit den anderen verkaufen würde. In weiter Ferne streifte ein Paar Scheinwerfer eine Straße entlang, wurde zu zwei roten Rückleuchten und löste sich auf. Cormack nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. In seinen Uniformtaschen raschelte Bonbonpapier. Er hielt die Hände über den Heizkörper, Wärme waberte über sein Gesicht und verlor sich.
Seit fünfundzwanzig Tagen hatte es keinen Vorfall an den Mauern mehr gegeben. Zuletzt hatte ein Junge einen mit zwanzig Zigarettenpackungen gefüllten und von Schnüren zusammengehaltenen Schuhkarton in den Hof geworfen und war auf dem Mofa, das er zuvor geschoben hatte, davongebraust. Auf dem Deckel des Kartons stand der Name des Empfängers, der die Bestellung Moriarty gegenüber natürlich bestritt. Seither verliefen die Nächte ruhig, was Cormacks Natur entgegenkam. Wenn er nur hätte lesen dürfen auf seinem Turm, oder wenigstens Radio hören. Aber das erlaubte der Direktor nicht, und weil Cormack ein guter Angestellter war, hielt er sich daran.
Hasen kreuzten im schwachen Mondschein die Felder, gestern stand ein Reh auf der Straße, die zum Tor führte. In einem der drei anderen Türme hockte O’Carroll und rauchte. Cormack mochte seinen Kollegen nicht, der ihn Mack nannte und bestahl, Bonbons aus den Taschen klaute und dachte, es bleibe unbemerkt. Im vierten Turm schliefen die Tauben, eine Vorstellung, die Cormack tröstlich erschien. Im Sommer, wenn er die Fenster hochklappte, konnte er ihr Gurren hören. Ein Motorrad lärmte im Nichts, tauchte als weißes, trichterförmiges Licht auf, drehte an der Kreuzung ab und verschwand schaukelnd in Richtung Sligo. Vielleicht jemand mit Schnaps oder Zigaretten auf dem Gepäckträger, der es sich im letzten Moment anders überlegt hat, dachte Cormack.
Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf die Fenster der Bibliothek. Er hatte schon einmal ein Feuer gesehen, drüben in einem der Schuppen, in denen die Werkstätten untergebracht waren. Zwei Jahre war das her. Seine Aufmerksamkeit hatte damals einen riesigen Sachschaden verhindert, möglicherweise eine Katastrophe. Die Flammen des Feuers in der Bibliothek erschienen ihm gelb und rein, nicht wie das schmutzige Lodern der Werkstatt, das Qualm ausgestoßen hatte wie ein Fabrikschlot. Cormack öffnete die Luke im Boden und kletterte die Leiter hinunter, rannte ins Hauptgebäude und löste den Feueralarm aus.
Als Wilbur, vom eigenen Husten geweckt, die Augen öffnete, nahm er gebrochene Dunkelheit wahr. Kein Geräusch drang an sein Ohr, nur seine Lungen pfiffen leise. Sein großer Zeh tat ihm weh, der rechte. An der Decke verlief ein Kabel. Das Metall des Bettgestells war warm, nicht kalt wie das im Schlafraum. Niemand keuchte neben ihm, keiner knurrte und winselte im unruhigen Schlummer. Er drehte den Kopf, erst zur einen, dann zur anderen Seite. Aus dem Donner war ein fahles Pochen geworden, etwas in seinem Schädel rutschte und stieß irgendwo dagegen, wenn er sich bewegte. Er blinzelte in die Helligkeit. Im Himmel war er nicht.
Von Müdigkeit ergriffen, schlief er wieder ein. Im Traum hörte er Stimmen. Er schreckte auf, dämmerte vor sich hin. Dann lag er da und lauschte Sätzen wie Regen, der auf ein Dach fällt. Worte plätscherten über seinen Halbschlaf, zerrannen unverständlich. Danach hüllte ihn wieder Dunkelheit ein, umgab ihn Stille.
Später erwachte er mit Kopfschmerzen, wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Mondlicht schwamm durch die Fenster, durchwirkte das Dunkel mit einem Schimmer. Wilbur hustete eine letzte Wolke Bücherasche, dann verstummte das Pfeifen in seinen Lungen. Sein Zeh war versengt und mit einer fettigen Salbe bestrichen. Ein Wasserkrug und ein Glas standen auf dem Nachttisch, daneben, in einem weißen Gefäß, das wie eine Seifenschale aussah, lag eine einzelne Tablette. Wilbur setzte sich auf, ließ die Beine über den Bettrand baumeln und sah sich um. Neben seinem standen noch drei weitere Betten im Raum, aber nur seins war mit weißen Laken bezogen. An einer Wand hing ein Kalender. Die Uhr war kaputt, der Sekundenzeiger rührte sich nicht. Auf der Kommode neben der Tür standen eine leere Vase, eine braune Flasche und eine nierenförmige Schale aus Chromstahl, in der ein Wattebausch lag. Wilbur wusste, dass er sich auf der Krankenstation befand, obwohl er sie nie von innen gesehen hatte. Er stand auf und ging barfuß zum Fenster, hielt das Gesicht nahe ans Glas und sah hinaus. Einer der Wachmänner bewegte sich gemächlich über den Flur vor der Bibliothek, der schmalen Silhouette nach zu urteilen war es O’Carroll. Sterne standen im Himmel.
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