Die Einrichtung des Büros war spartanisch, woran auch das Ölgemälde nichts änderte, das an der Wand hinter dem Schreibtisch hing und eine Wiese mit Pferden zeigte, über denen Sonnenstrahlen durch einen Gewitterhimmel drangen. Four Towers wurde durch Steuergelder und Spenden finanziert, und Moriarty fiel es nicht im Traum ein, auch nur einen Teil dieses Geldes für eine neue, modernere Büroausstattung auszugeben. Einen Perserteppich, eine mit Intarsien verzierte Kirschholzkommode, die eine Bar enthielt, und zwei weitere Ölgemälde hatte er gleich nach seinem Amtsantritt durch einen Antiquitätenhändler in Dublin verkaufen lassen und den Erlös zur Anschaffung neuer Kochherde benutzt. Anders als sein Vorgänger, betrachtete Moriarty Bescheidenheit als eine der hehrsten Tugenden, und wie als Symbol dafür stand auf seinem Tisch eine Kaffeetasse, die vor Jahren zerbrochen und von ihm eigenhändig zusammengeleimt worden war.
«Sandberg. Kein irischer Name«, sagte Moriarty, während er etwas auf ein Blatt Papier schrieb.
Erst als Moriarty ihn ansah, wurde Wilbur bewusst, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde.»Schwedisch, Sir«, sagte Wilbur.»Mein Vater ist… war…«
«Hier drin steht«, Moriarty tätschelte Wilburs Akte,»dass wir uns auf unbestimmte Zeit um dich kümmern sollen. Was sagst du dazu?«
Wilbur senkte den Kopf und zuckte mit den Schultern. Moriarty erhob sich, nahm den Stock, der am Schreibtisch lehnte, und ging zum Fenster, um in den Regen hinauszusehen. Wilburs Hände lagen auf den Knien. Obwohl er die Indianerfigur und das Nashorn in den Hosentaschen spürte, fühlte er sich einsam und mutlos. Er hatte in den vergangenen Nächten kaum geschlafen und war plötzlich unendlich müde. Was sollte er antworten? Dass es ihn nicht kümmerte, wie lange man ihn hier einsperren würde? Dass er froh war, dem Haus der Conways entkommen zu sein, obwohl er nicht wusste, ob ihn hier Schlimmeres erwartete? Dass Bestrafung ihm gleichgültig war, weil sein Leben ihm nichts bedeutete?
«Was mich betrifft, so…«Moriarty verstummte und sah einer aschgrauen Wolke nach, die bedächtig erst über einen, dann den zweiten Turm strich und schließlich aus seinem Blickfeld verschwand.»… will ich dich auf keinen Fall länger als sechs Monate hier haben. «Er drehte sich zu Wilbur um und sah ihm in die Augen.»Verstanden, junger Mann?«
Wilbur erwiderte Moriartys Blick für den Bruchteil einer Sekunde.»Ja, Sir«, sagte er. Miss Rodnick hatte ihm in ihrem Büro geraten, die Hände aus den Taschen zu nehmen und den Direktor immer mit Sir anzusprechen.
«In dieser Zeit…«Jetzt stand Moriarty vor der Bücherwand und starrte eine Weile auf die vollen Regale, als suche er nach einem bestimmten Titel. Im Nebenzimmer schrillte zweimal das Telefon, dann war gedämpft Miss Rodnicks Stimme zu hören. Moriarty wandte sich Wilbur zu.»… erwarte ich von dir Hingabe. «Er ging an sein Pult zurück und setzte sich, behielt den Stock jedoch in der Hand.»Hingabe an das Ziel, deine Flausen aus dem Kopf zu vertreiben. Hier drin steht…«, wieder tätschelte er mit der Handfläche die Akte,»du seist ein intelligenter Bursche. Leute mit Grips zünden keine Häuser an. «Er klopfte mit dem Gummiteil des Stockes auf den Parkettboden.»Und du hast doch Grips, oder?«
«Ich weiß nicht, Sir«, sagte Wilbur, und dann, kleinlaut:»Ja.«
«Na also!«rief Moriarty.»Drei Monate, höchstens. Dann werfe ich dich raus. Verstanden?«
«Ja, Sir«, sagte Wilbur.
«Und jetzt meldest du dich bei Mr. Foley. Der zeigt dir, wo du schläfst.«
Wilbur wartete, dass der Direktor noch etwas sagte, aber Moriarty nahm einen Brief von einem Stapel und begann zu lesen, als sei Wilbur schon nicht mehr da. Wilburs Blick fiel auf ein gerahmtes Zitat von Cicero, das zwischen den beiden Fenstern an der Wand hing. Oft ist nichts dem Menschen feindlicher als er sich selbst. Als das Telefon klingelte, hob Moriarty ab, sah Wilbur leicht erstaunt an und winkte ihn mit einer Handbewegung aus dem Raum.
Joseph Foley war ein schweigsamer Riese, der in seiner dunkelblauen Uniform aussah wie ein Polizist aus einem Comic. Obwohl er sich täglich rasierte, schwärzten Bartstoppeln die Hälfte seines Gesichts, dessen andere Hälfte von einer knolligen, großporigen Nase beherrscht wurde. Im Schatten seines Mützenschirms lagen graublaue wässrige Augen, mit denen er den vor ihm stehenden Wilbur musterte. Obwohl er seit einer halben Stunde auf einem Stuhl vor dem Zimmer saß, das als Büro, Teestube und Umkleideraum diente, atmete er heftig, als sei das Verspeisen eines belegten Brotes eine anstrengende Arbeit. Krümel lagen in seinem Schoß, und Butter ließ seine wulstigen Lippen glänzen.
«Sandberg, Sandberg…«murmelte Foley und kaute nachdenklich.»Bist du der Kerl, der an einem Tag fünf Banken im County Wicklow ausgeraubt hat?«
Wilbur schüttelte den Kopf.»Nein«, sagte er.»Sir«, fügte er hinzu, weil er nicht wusste, ob die Regel auch für das Wachpersonal galt.
«Hm, nicht…«Foley kniff die Augen zusammen und schob sich den Rest des Schinkenbrotes in den Mund, ein Stück, das Wilbur als Mittagessen gereicht hätte. Jetzt atmete er geräuschvoll durch die Nase, was ihn noch mehr anstrengte und rot anlaufen ließ. Als er endlich geschluckt hatte und wieder zu Atem kam, schob er die Uniformmütze nach hinten und sah Wilbur noch genauer an.
Wilbur stand stocksteif da und wagte nicht einmal, den Koffer auf den Boden zu stellen. Zwei Tage nach dem Brand war Henry ins Krankenhaus gekommen und hatte ihm ein paar Kleidungsstücke und persönliche Dinge gebracht. Während Pauline Vorhangstoffe aussuchte, um, wie sie sagte, nach den schrecklichen Ereignissen rasch wieder Tritt zu fassen, überlegte Henry, was Wilbur außer frischer Wäsche wohl brauchen würde. Er durchsuchte Wilburs ehemaliges Zimmer, fand aber nur ein paar Notenblätter, eine Karte von Schweden und das Buch Schätze der Kiesgrube , das er dem Jungen geschenkt hatte. Statt in die neue, von Wilbur nie benutzte Sporttasche tat Henry die Sachen in einen der beiden Koffer, die Wilbur nach Orlas Tod von Colm bekommen hatte und die nur deshalb nicht auf dem Müll gelandet waren, weil Henry sie vor seiner Frau in der Garage versteckt hatte.
Wilbur hatte sich die Indianerfigur und das Nashorn in die Hosentaschen gesteckt, bevor er die Vorhänge anzündete. Den Rest der Dinge hatte er in einer Blechdose im Rasen der Conways vergraben, weil sie nicht verbrennen sollten. Henry ahnte, dass Wilbur irgendwo einen nur für ihn selber wertvollen Schatz haben musste, Andenken an eine Kindheit, die gerade zu Ende gegangen war. Aber er fragte ihn nicht danach. Wilbur hatte geweint, als Henry sich an sein Bett setzte. Er schämte sich für das, was er getan hatte, und entschuldigte sich bei Henry. Henry verzieh ihm und gab ihm den Koffer, in den er auch einen Umschlag mit etwas Geld und Sunes Brief gelegt hatte.
Der Koffer war nicht schwer, trotzdem hoffte Wilbur, der Wachmann würde ihn endlich zum Schlafraum führen. Foley holte eine Flasche Sprudel unter dem Stuhl hervor, schraubte sie gemächlich auf und trank sie in einem Zug leer. Dann sah er Wilbur mit großen Augen an und blähte die Backen, als er dezent rülpste.
«Jetzt hab ich’s!«rief er dann und schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel.»Sandberg! Der Herr der Blüten! Du hast Falschgeld für zehn Millionen in Umlauf gebracht!«
«Nein, Sir«, sagte Wilbur. Wofür hielt ihn der Kerl? Hatte man diesem Ochsen seine Akte nicht gezeigt? Konnte dieser Fleischberg überhaupt lesen?» Ich… ich hab etwas angezündet.«
Foleys eckige Kinnlade fiel herunter, seine Augen weiteten sich.»Der Feuerteufel vom Lough Gill…«sagte er tonlos, beinahe flüsternd.»Zwanzig Schulen in Schutt und Asche gelegt, die Autos von siebzig Lehrern abgefackelt…«Er schluckte leer, starrte Wilbur an und drückte sich gegen die Wand.
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