Am nächsten Tag fuhr Lennard in seinem gebrauchten goldfarbenen Buick Skylark , den er eine Woche zuvor gekauft hatte, zu dem Restaurant und schaffte es, durch eine der Küchenhilfen Maureens Adresse herauszufinden. Sie wohnte in einem Zweizimmerapartment in einem Viertel, durch das Lennard und Sune früher mit dem Bus gefahren waren und das seit Jahren in einem Zustand zwischen Vernachlässigung und Verfall stagnierte. Die von Abfall gesäumten Straßen waren voller Schlaglöcher, Ampeln funktionierten nicht, und Verkehrsschilder waren mit Farbe beschmiert. Trotzdem fuhren Autos, und alle paar Wochen tauchte ein städtisches Reinigungsfahrzeug oder ein Tankwagen voll flüssigen Teers auf und betrieb ein wenig Kosmetik. Die Häuser befanden sich teilweise in erbarmungswürdigem Zustand, und von den Lampen, die zwischen den Fassaden an Leitungen hingen, brannte nur jede dritte, aber es kam auch immer wieder vor, dass plötzlich und wie durch ein Wunder Löcher verputzt, Mauern neu gestrichen und Glühbirnen ausgewechselt wurden.
Maureens Wohnung lag über einem Geschäft, dessen einzige Schaufensterscheibe mit Packpapier abgedeckt war und vor dem es sich ein streunender Hund bequem gemacht hatte. Es erstaunte Lennard, dass in einer solchen Gegend die Tür zum Treppenhaus nicht abgesperrt war und jeder, der wollte, den dunklen Flur betreten konnte. Was ihn nicht verwunderte, waren die defekte Klingel und das Fehlen einer Gegensprechanlage, doch er war froh über diese technische Rückständigkeit, denn noch während er die Stufen emporstieg, wusste er nicht, wie er die Frage, was er wolle, beantworten sollte.
«Weißt du, was er gesagt hat?«fragte Sune und füllte Wilburs Glas erneut mit Limonade. Wilbur schüttelte den Kopf. Er saß in Sune Nordahls Küche und sog die Geschichte seiner Eltern auf wie ein vertrockneter Boden den Regen. Sune stand am Herd und kochte Abendessen. Wann immer die Pfannen und Töpfe es erlaubten, drehte Sune sich um und erzählte, als habe er jeden Satz, jede Wendung, jede Betonung und jede Pause jahrelang einstudiert und nur darauf gewartet, dass Wilbur von weit her kommen, sich hinsetzen und zuhören würde. Er stellte sich hin und spielte Lennard, der nach Jahren doch noch sein Freund geworden war, versteckte den Kochlöffel hinter dem Rücken und sagte zu Maureen, die die Wohnungstür geöffnet hatte und ihn mit einem Blick, in dem Wiedererkennen und Skepsis lagen, ansah:»Mein Name ist Lennard Arne Sandberg, und ich liebe Sie!«Sune streckte Wilbur den Kochlöffel entgegen wie einen Blumenstrauß, und als der Junge irritiert zurückwich, lachte er und stampfte mit dem Fuß auf.»Genau so hat deine Mutter auch reagiert!«
Sune erzählte gerade, dass Lennard ganze fünf Wochen brauchte, bevor er Maureen zum ersten Mal küssen durfte, als Ulrika hereinkam. Sie war beinahe so groß und breit wie Sune, und nach ihrem Eintreten war in der engen Küche kein Platz mehr. Sune stellte ihr Wilbur vor, der zwar froh war, dass ihm Details zum ersten Kuss seiner Eltern erspart blieben, aber dennoch darauf brannte zu erfahren, wie ihr gemeinsames Leben vor seiner verhängnisvollen Geburt weiter verlaufen war. Ulrika war Sunes Freundin und konnte, nachdem sie von Wilburs Suche nach dem Vater hörte, einen Tränenausbruch nur vermeiden, indem sie in holprigem Englisch etwas von vergessenen Einkäufen murmelte und aus der Küche floh. Nach einem Moment des Zögerns verwarf Sune den Gedanken, ihr zu folgen, und horchte lächelnd auf die schweren Schritte, die das hölzerne Treppenhaus erschütterten, und das dumpfe Schlagen der Haustür.»Frauen«, sagte er, und Wilbur nickte, als wisse er Bescheid.
Der Laden unter Maureens Wohnung gehörte Salvador Gustavo Onetti, einem vierundsiebzigjährigen Argentinier, der in den dreißiger Jahren mit seinen Eltern nach Philadelphia gekommen war, fünfzehn Jahre lang im Hafen gearbeitet und schließlich sein eigenes Geschäft eröffnet hatte. Der kleine glatzköpfige Mann mit Bauchansatz und einem Gesicht, das noch immer beinahe ungebührlich hübsch war, bewohnte mit seiner zwölf Jahre jüngeren, aus einer mexikanischen Einwandererfamilie stammenden Frau Sofia das Erdgeschoss des Hauses, in dessen vorderem Teil sich der inzwischen geschlossene Laden befand. Hinter dem ehemaligen Verkaufsraum lagen drei Zimmer, von denen das eine, die Küche, auf einen Innenhof ging, in den gerade genug Sonnenlicht fiel, dass Sofias Gemüse und die Blumen gedeihen konnten.
Lennard lernte das Ehepaar lange vor dem Tag kennen, an dem er Maureen zum ersten Mal küsste. Er hatte es als gutes Zeichen betrachtet, dass Maureen auch dann, als er sie fast täglich besuchte, viel Zeit mit den beiden verbrachte, denn Salvador und Sofia ließen keine Gelegenheit aus, liebevoll spöttische Bemerkungen über Lennards offensichtliche Verliebtheit und Maureens gespielte Gegenwehr zu machen. Zudem war das alte Paar der unumstößliche Beweis dafür, dass die Liebe tatsächlich die stärkste Macht der Welt war und dass die einzige Möglichkeit, ein glückliches Leben zu führen, darin bestand, es mit jemandem zu teilen.
Als der Laden noch geöffnet war, hatte Sofia darin Kunsthandwerk verkauft, Quilts, die sie selber nähte, Vasen, Kelche und Schalen aus ei ner Glasbläserei in Virginia, Silberschmuck aus Arizona, Teller, Tassen und Schüsseln aus einer mexikanischen Töpferei, Weidenkörbe, Tischsets aus Schilf, handgeschöpftes Papier und natürlich die Schalen, Truhen und Möbel aus Kirschbaum, Rosenholz, Eukalyptus und Zeder, die Salvador in seiner zwei Blocks entfernt liegenden Werkstatt hergestellt hatte. Mit dem langsamen Untergang des Quartiers waren auch immer weniger Kunden gekommen, und als Sofia fand, sie habe in ihrem Leben genug Stoffreste zu Tagesdecken verarbeitet, wurde ein Ausverkauf durchgeführt, ein Fest gefeiert und schließlich die Schaufensterscheibe mit braunem Papier verklebt. Das war über drei Jahre her, und der ehemalige Verkaufsraum diente den Onettis jetzt als Vorratskammer, Abstellraum und, unter Zuhilfenahme von Paravents und einem Klappbett, als Notunterkunft für Gäste, die entweder zu mittellos für ein Hotelzimmer oder zu betrunken zum Gehen waren.
Dass Salvador auch nach der Schließung des Ladens noch jeden Tag für mehrere Stunden in seine Werkstatt ging, wusste Lennard, aber was der alte Mann dort machte, erfuhr er erst bei einem Besuch in der ehemaligen Reifenfabrik, die, wenn es nach den halbherzigen Plänen der Stadtverwaltung gegangen wäre, schon seit Jahren hätte abgerissen werden sollen, um einem gutgemeinten und zu keiner Zeit auch nur annähernd finanzierten Projekt für Sozialwohnungen Platz zu machen. Die beiden Stockwerke des schmutziggrauen Klinkergebäudes waren in großzügige Einheiten unterteilt und an Künstler, Handwerker, Antiquitätenhändler und Leute mit Modelleisenbahnen und außer Kontrolle geratenen Bierdeckelsammlungen vermietet.
Lennard hatte erwartet, in Salvadors Zelle knorrige Schalen und polierte Kommoden mit marmorgleichen Maserungen und kleine, nach Leinöl und Hustenbonbons riechende Truhen zu finden, wie der alte Mann sie früher für den Laden hergestellt hatte und mit denen die halbe Wohnung gefüllt war. Doch was sein Freund ihm an einem Nachmittag im September des Jahres 1972 zeigte, überraschte und überwältigte ihn dermaßen, dass er dieses Datum als dasjenige in Erinnerung behielt, an dem für ihn, einmal mehr, ein neues Leben begann.
Salvador baute in seiner fensterlosen und beinahe schalldichten Werkstatt Musikinstrumente aus Holz. In seinen schmalen Händen entstanden Geigen und Bratschen und Violoncellos, ein bis zwei Stück pro Jahr, ohne Eile und mit der Hingabe und Sorgfalt eines Mannes, der die Welt um sich vor die Hunde gehen sah und dieser Tatsache etwas entgegenhalten wollte, das Schönheit besaß. Der Raum, in dem Salvador Gustavo Onetti der Zeit trotzte, war weiß gestrichen und mit ockerfarbenem Linoleum ausgelegt. Unter der Decke spannten sich Bahnen aus Tüll, die das kalte Licht der Neonlampen wärmten, und an den Wänden hingen zwei von Sofias Quilts, vergilbte Baupläne und Skizzen, eine schmutzige und fadenscheinige argentinische Flagge, ein großformatiges Ölbild, das eine Prärielandschaft mit Bisons jagenden Indianern auf Pferden zeigte, Fotos von Möbeln und Menschen, ein Fächer aus geflochtenem Bambus, ein Feuerlöscher und darüber der Fluchtplan für den Fall eines Brandes, ein grauer, mit Leimflecken verzierter Kittel an einem Haken und ein gelber Regenschirm.
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